Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gute Vorsätze

Ein paar Stunden vor dem Jahreswechsel quetsche ich hier noch Blogpost Nummer 53 rein – einer pro Woche war das, ausserordentlich gleichmässig über das ganze Jahr verteilt. Das freut mich, macht mich ein klein wenig stolz und ist eine anspruchsvolle Vorgabe für die kommenden Jahre. Ob ich diesen Wert je wieder erreichen werde? Und damit zur Planung und zu den guten Vorsätzen für 2010. Drei an der Zahl sind es im kulturellen (und damit blogrelevanten) Bereich. Der erste ist bereits aufgegleist und finanziell abgesichert: Aus dem letztjährigen Weihnachtsgeschenk haben wir uns ein Kinoabo besorgt, womit dafür gesorgt sein sollte, dass hier die Rubrik Film wieder regelmässiger gefüllt ist. Der zweite Vorsatz: Nach dreieinhalb Jahren in Fribourg und einem ersten Wohnungswechsel daselbst würde ich mich gerne noch intensiver in die hiesige Kultur einklinken. In Nuithonie gibts durchs Band und vermutlich weitgehend gefahrlos Überraschendes zu entdecken; die altstädtischen Kleintheater Kellerpoche und Théâtre de la Cité bieten Bühnenkunst im intimen Rahmen; und als Angehöriger einer sprachlichen Minderheit müsste ich alles Interesse daran haben, die entsprechende Theaterkultur am Leben zu erhalten, konkret das Theater in Freiburg. Der dritte Vorsatz bezieht sich auf meine hier auch schon geäusserte Klage darüber, dass mir meine altertumswissenschaftlichen Studienfächer acht Jahre nach dem Liz inzwischen so ziemlich abhanden gekommen sind. Dem möchte ich mit einer gewissen Systematik entgegenwirken, indem ich mir aus meiner kürzlich entsprechend erweiterten Bibliothek ein paar Grundlagenwerke und Einführungen zum Studium vornehme – so eine Art Neuanfang fünfzehn Jahre danach. Darauf lässt sich dann hoffentlich mit weiterer Lektüre aufbauen.

So viele Vorsätze, und nur dreihundertfünfundsechzig Tage Zeit… Als Trost und Ermutigung mag die Erinnerung dienen, dass ich gerade dann befriedigend viel zu Stande bringe, wenn ich mir sehr vieles vorgenommen habe.

Montag, 28. Dezember 2009

Unglaubliche Wissenschaft

Beim traurigen Totalausverkauf in der Buchhandlung Lindwurm Anfang Jahr bin ich auf das Buch Unglaubliche Wissenschaft von Lewis Wolpert gestossen und habe es gekauft – auch als Andenken an den Laden, in dem ich während Jahren meinen Bedarf an wissenschaftlicher Literatur gedeckt hatte. Wolpert ist Entwicklungsbiologe und Wissenschaftsphilosoph. Sein Buch geht von der Feststellung aus, dass viele, auch durchaus intelligente Menschen grosse Mühe haben mit Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist kein Zufall, sagt Wolpert. Entgegen der verbreiteten Meinung hat Wissenschaft mit Common Sense, mit Intuition und gesundem Menschenverstand wenig zu tun. Vielmehr laufen viele naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Erklärungen dem gesunden Menschenverstand geradezu zuwider. Dieser spielt jedoch im Bereich der Technik und der Erfindungen eine grosse Rolle, die – wiederum entgegen der in Zeitschriftentiteln und anderswo perpetuierten Meinung – mit Wissenschaft ihrerseits oft nichts zu tun haben. Oder genauer: Um ein technisches Problem zu lösen, muss ich die Physik oder Chemie dahinter nicht verstehen; es reicht, wenn die Lösung funktioniert. Entsprechend wurden viele wichtige Erfindungen von ausgesprochenen Praktikern gemacht; ihre Arbeitsweise hat mit Wissenschaft wenig zu tun.

Ausgehend von dieser Beobachtung führt Wolpert dann durch einen hochstehenden und leicht lesbaren Rundgang durch die Geschichte, Soziologie und Methodik der Wissenschaft; durch ihre Entstehung im Ionien des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, durch ihre konstituierenden Elemente wie Kreativität und Konkurrenz, aber auch an ihre Grenzen. Mit dem Paradox des Einstiegs hat er mich leicht gekapert und dann magistral mitgenommen. Ich recycliere gerne eine Formel, die hier auch schon gefallen ist, die vom „Katalysator fragmentierten Halbwissens“: Der in Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Wissenschaftsphilosophie gymnasial grundgebildete Leser erhält von Wolpert einen Überblick über das Wesen der Wissenschaft, der ihn gezielt abholt, dabei aber nicht als Handbuch auftritt, sondern vielmehr als hochgelehrte Causerie (der Ursprung als Vorlesung ist dem Text anzumerken). Und ganz zum Schluss, als er auf die Ethik der Wissenschaft und die Verantwortung der Wissenschaftler zu sprechen kommt, ist Wolpert von schneidender Überzeugung, prägnant und elegant.

Als Geisteswissenschaftler frage ich mich natürlich nach der Definition von „Wissenschaft“, die Wolpert verwendet. Er präzisiert sie nicht, verwendet den Terminus aber im Sinn einer theoriegetriebenen Wissenschaft und scheint damit ausschliesslich die Naturwissenschaften (die englischen sciences) zu meinen. Ob dies auf die Übersetzung zurückzuführen oder schon im englischen Original enthalten ist, weiss ich nicht; es ist aber jedenfalls verwirrend, denn ob der inhaltlichen Stringenz des Buches stellt sich mir die Frage, wie es denn um die Wissenschaftlichkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften steht. Sie haben in Wolperts Darstellung keinen Platz. So muss ich zum Schluss der Lektüre sagen, dass ich vieles verstanden, aber noch mehr zu verstehen habe.


Technisches: Lewis Wolpert, Unglaubliche Wissenschaft. Aus dem Englischen von Werner Bartens. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. ISBN 3-8218-4547-3. Das englische Original ist unter dem Titel „The Unnatural Nature of Science“ 1992 bei Faber and Faber in London erschienen.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Bürger in dem Lande Theben! Sehet, dieser Ödipus…

Neben Jocaste Reine wird im Théâtre des Osses auch das leuchtende Vorbild gegeben, die Matrize gewissermassen, von der Nancy Hustons Drama ein weiterführender Abdruck ist: Sophokles’ König Ödipus. Ich bin auch nach Jahren noch jedes Mal wieder absolut hingerissen von diesem Stück: von der Raffinesse, mit der Sophokles einen komplexen und vielgegliederten Mythos in knapp anderthalb Stunden kulminieren lässt; von seiner Dramaturgie, die diese Kulmination in absolut logischer Folge sich entwickeln lässt; von der Meisterschaft, hinter dem kriminalistischen Plot einen Reichtum des Stoffes, der Anspielungen und der Deutungsansätze zu entfalten. Die Inszenierung von Gisèle Sallin schält die Nervosität des Ödipus heraus: René-Claude Emery kommt zwar zu Beginn ganz königlich daher, aber wir merken nach wenigen Minuten, dass es in seinen Adern brodelt; und schon bald bricht es lautstark aus ihm hinaus. Emery schreit viel an diesem Abend, vielleicht etwas zu viel, aber es ist eine nackte, kaum gebändigte Verzweiflung, die sich so bemerkbar macht. Seine ungeklärte Herkunft verfolgt den König viel mehr, als er das möchte. Deshalb wohl rückt er seine Intelligenz immer eine Nuance zu stark in den Vordergrund – gerade so, dass wir merken, wie sehr er sie braucht, um an ihr seine Person aufzurichten. Die übrigen Figuren, fast nur Statisten in dieser Spürjagd eines Getriebenen, sehen aus wie Lumpensammler in ihren zusammengeflickten, wild kombinierten Kleidern. Alles ist erdfarben; eine feine Staubschicht legt sich über Gesichter, Körper, Kleider und die ganze schlichte, fast nackte Bühne: Theben ist im Ausnahmezustand, die Pest schlägt Stadt und Bewohner nieder. Leiden und Erschöpfung bilden den Hintergrund dieser Geschichte, in den sich je länger, desto mehr das blanke Entsetzen mischt. In einem ausführlichen, für uns Heutige nach der intensiven Dramatik des ersten Teils überlangen Trauergesang beweint Ödipus zusammen mit dem Chor sein grausames Schicksal. Ganz am Schluss dringt durch das Elend sichtbar das Leben durch. Schweiss und Wärme und Hauch haben da und dort einen Flecken Staub von den Gesichtern abgewaschen. Die Lähmung fällt ab, die göttliche Ordnung ist wieder hergestellt. Auch das gehört zu diesem Stück, gehört ganz wesentlich zu Sophokles.

Oedipe Roi zu sehen, bedeutet wahrhaftig – in Aristoteles’ WortenMit-Leiden und In-Schrecken-versetzt-Werden. Mit-Leiden mit dem grossen Geschlagenen Ödipus, der von sich selber später sagen wird: „Ich habe meine Taten mehr erlitten als verübt.“ In-Schrecken-versetzt-Werden durch das brutale Scheitern jenes so ur-menschlichen Bedürfnisses des Wissen-Wollens, des Erklären-Wollens, des Verstehen-Wollens um jeden Preis. Denn damit geht die Selbstüberschätzung einher, die Verabsolutierung der menschlichen Intelligenz. Das ist die Aktualität dieser Tragödie, die über das Theben des Mythos, über das Athen des 5. Jahrhunderts weit hinausgeht und den Menschen so lange betreffen und erschüttern wird, wie ihm dieses Menschliche eigen ist.


Technisches: Wer sich beeilt, schafft es gerade noch, Oedipe Roi im Studio des Théâtre des Osses in einer Zusatzaufführung zu sehen.

Freitag, 4. Dezember 2009

"Unabhängige" Parteipresse

In letzter Zeit wäre die Weltwoche mehrfach für einen Blogpost gut gewesen. Da reiste Christoph Blocher nach Nordkorea und durfte in seinem Hoforgan nicht nur einen Reisebericht schreiben, sondern gleich noch die daraus (in einer einzigen Nacht) inspirierte neue Strategie für die Schweizer Armee darlegen, die da wäre: Vom Vietcong lernen heisst siegen lernen. Ho-Ho-Ho-Chi-Minh! Die journalistische Vor- und Nachbereitung dieses Ergusses gipfelte in der schrillen Absurdität, dass in der Zeitschrift, die zwecks Kampf gegen den Islamismus dezidiert das Minarettverbot unterstützte, ein Taliban-Kommandant zu Blochers Strategie befragt wurde und diese in den höchsten Tönen lobte. Gleichzeitig durfte auch Inlandchef Philipp Gut wieder mal in der Opferrolle schwelgen. Nachdem er im Sommer bereits in einem psychologisch tief blicken lassenden Artikel seinem Unbehagen über Homosexuelle Ausdruck gegeben hatte, liess er uns nun an seiner Diskriminierung durch die Frauen teilhaben. Für seine aufgeregte Verquickung von Unzusammenhängendem, nicht Durchdachtem und geradewegs Falschem kommt mir unweigerlich der Titel der Spiegel-Online-Rubrik Aus dem Zusammenhang gerissen und falsch zitiert in den Sinn. Unerträglich ist aber vor allem der weinerliche Grundton des Pamphlets.

Als erfahrener Weltwoche-Leser ist man sich solch intellektuelle Tiefschläge leider gewohnt und legt sie seufzend zum Altpapier. Das hier soll ja auch erklärterweise nicht zum WeWo-Watchblog verkommen. Nicht mit Schweigen übergehen lässt sich hingegen eine Entgleisung in der neuesten Nummer. Da schreibt Peter Keller unter dem Titel Druck von unten über die SVP-Basis, die ihre Parteileitung zusehends rechts überholt. Nun ist Keller nicht nur Weltwoche-Redaktor, sondern auch Vizepräsident, Pressechef und Landrat der SVP Nidwalden. Köppel hatte die Doppelrolle des schreibenden Politikers seinerzeit mit dem gutschweizerischen Milizprinzip gerechtfertigt, was bereits damals Stirnrunzeln verursacht hatte. Wenn der SVP-Jungspund und Lokalkader jetzt aber als Journalist über seine eigene Partei schreiben darf (und zudem mit einer kaum verhüllten hidden agenda), hat dies mit unabhängiger Presse nichts mehr zu tun. Für letztere bin ich gerne bereit zu zahlen, auch wenn ich ihre Meinungen nicht teile. Für ein SVP-Parteiblatt, in dem innerparteiliche schmutzige Wäsche gewaschen wird, habe ich hingegen nicht das geringste Bedürfnis.

Montag, 30. November 2009

Jocaste Reine

Auf der Bühne des Théâtre des Osses öffnet sich der schwere, dunkelrote Vorhang, enthüllt eine Reihe von Schleiern. Einer nach dem anderen wird weggezogen, bis endlich der Blick frei wird in den Königspalast von Theben, ins Schlafzimmer von Iokaste und Ödipus. Endlich einmal sehen wir Ödipus nicht als König von Theben, sondern als liebenden Menschen. Und endlich nimmt Iokaste Fleisch und Blut an, lacht und weint, säuselt und streichelt. Die Mutter und Frau des Ödipus spielt eine Schlüsselrolle in einem der wirkmächtigsten Mythen der Dramengeschichte und blieb dennoch bisher immer seltsam blass, nicht mehr als eine Dialog-Sparring-Partnerin für ihren Sohn und Mann. Gleichsam den Schleier über ihrem Leben wegzuziehen, das war der Wunsch der Theaterleiterin und Regisseurin Gisèle Sallin. Sie bat die kanadisch-französische Autorin Nancy Huston um ein Stück über Iokaste; diesen Herbst nun wird Jocaste Reine in Givisiez uraufgeführt.

Es ist, als ob irgendwo hinter der Bühne Sophokles’ König Ödipus gespielt würde und wir von innen, von den Privatgemächern aus zuschauen würden: So eng folgt Hustons Stück der Fabel der klassischen Vorlage. Wir entdecken aber fernab von staatlichen Repräsentationsfiguren ein zärtlich-vertrautes Liebespaar und eine funktionierende Familie, fröhlich und kommunikativ. Nancy Huston hat in genialer Art dem bekannten Mythos lediglich eine Ergänzung hinzugefügt, um die Ausgangslage für ihr Spiel zu schaffen: Iokastes Ehemann, König Laios, war ein tyrannischer Päderast. So wird sein gewaltsamer Tod für seine Witwe zur Erlösung, ihre Weitergabe als Trophäe an den Rätsellöser Ödipus zum Beginn von zwanzig Jahren Liebesglück. So werden die bekannten Themen neu durchgenommen, beleuchtet und analysiert.

Aus der Überfülle von Einflüssen und Anspielungen schälen sich für mich drei Interpretationslinien heraus. Die erste ist der alte Streit um die Bedeutung und Rolle der Abstammung, der Gene (um es modern auszudrücken). Hustons Ödipus ist wie derjenige des Sophokles ein getriebener, von Selbstzweifeln benagter. Waren denn wirklich Polybos und Merope in Korinth seine Eltern? Was legitimiert ihn zum König von Theben, wenn es doch nicht das Blut ist? Muss er sich wirklich, wie er es tut, durch seine Weisheit, seine Fürsorge für die Thebaner unermüdlich selbst legitimieren? Und was ist die Wahrheit, die er so verzweifelt sucht? Mit entwaffnend einfachen Überlegungen entkräftet Iokaste diese Zweifel: Haben nicht Polybos und Merope ihn getröstet, als er traurig, ihn gepflegt, als er krank war? Haben sie nicht als Eltern an ihm gehandelt? Dann sind sie seine Eltern! Und wieder: Die Wahrheit –

Laquelle? Celle des mots ? ou celle de la vie ?
Elle est là, la vérité : devant toi, en toi, tout
autour de toi, si seulement tu pouvais la voir !
Depuis vingt ans on l’a bâtie ensemble,
cette vérité : labeurs, fêtes, repas, gouvernement,
les yeux dans les yeux, la main dans la main…

Gewiss, « il existe bien des vérités » - und weshalb soll diejenige der Gene wahrer sein als diejenige des Lebens? So findet die existenzielle Grundfrage der Figur Ödipus eine neue Antwort.

Dann ist Jocaste Reine, zweitens, ein feministisches Stück. Die Männer sind (ausser Ödipus) wenig präsent – die Königssöhne Eteokles und Polyneikes sehen wir fast nur in wort- und atemlosen Kampfszenen, die als spielerische Raufereien beginnen und immer ernster werden, um in einer brutalen Andeutung des späteren Brudermordes zu gipfeln. Breiten Raum nehmen hingegen die Sorgen, Hoffnungen und Erlebnisse der Frauen ein; zuvorderst diejenigen von Iokaste. Bald sechzigjährig, blickt sie auf ein reiches Leben zurück, auf das lange, stumme Leiden mit Laios, auf das Glück mit Ödipus. Ihre Töchter Antigone und Ismene versuchen sich derweil, liebevoll begleitet von ihrer Mutter und der treuen Amme Eudoxia, an der Definition ihrer Rolle als Frauen in männerdominierter Welt. Das ist alles nicht ganz frei von Klischees (zum Beispiel in der Szene am Waschtag, in der sich alles ums Blut dreht – das Kampfblut der Männer, das Menstruationsblut der Frauen), die aber so umstandslos und stringent eingebettet sind und gespielt werden, dass ein Gefühl von ideologischer Schwere kaum aufkommen kann. Im Gegenteil: Die Geschlechterthematik ist in der Ödipustragödie von Anfang an angelegt; dass sie explizit zum Thema gemacht, verdeutlicht und beleuchtet wird, ist ein wesentlicher Beitrag an die jahrtausendealte Interpretation.

Und eine drittes Motiv ist die Mythenkritik. Denn ein weiteres Detail hat Huston maliziös der traditionellen Geschichte hinzugefügt: Laios war – unfruchtbar, Ödipus in Wahrheit der Sohn seines Liebessklaven, entstanden aus der verzweifelten Umarmung zweier misshandelter Wesen. So stürzt die Logik der hochheiligen Orakel in sich zusammen. So erhält die scharfsinnige Kritik Iokastes am delphischen Gott, die bei Sophokles brutal ins Leere läuft, ihre Grundlage. So ist auch der Chorführer legitimiert, der sich (eine Art Satyrspiel mitten in der Tragödie) einem Hofnarren gleich immer wieder ans Publikum wendet und sich pointiert über die althergebrachte Geschichte mokiert. Seine Einwürfe waren mir oftmals zu abrupt komisch in diesem tragischen Stück. Aber sie stehen in bester Brechtscher Tradition der Verfremdungseffekte, die uns, das gebannt lauschende Publikum, ohne Unterlass aufwecken und aufrütteln, damit wir uns nicht nur von der Stringenz der Geschichte verführen lassen, sondern den kritischen Verstand eingeschaltet lassen.

Die magistrale Inszenierung im Théâtre des Osses lebt von den grossartigen Schauspielerinnen und Schauspielern. Zuerst zu nennen ist natürlich Véronique Mermoud, die sich ihre Jocaste mit jeder Faser ihres Körpers und jeder Regung ihrer Seele aneignet, die gleichsam ohne Netz und doppelten Boden ihre ganze Persönlichkeit in diese Figur legt. Olivier Havran ist ihr als Œdipe ein vertrauter Partner und Liebhaber, dem Zweifel und Erkenntnis in schmerzhafter Deutlichkeit feine und immer gröbere Risse in die Seele reissen. Franck Michaux gibt den Coryphée (Chorführer) mit Esprit und Eloquenz. Die Königskinder und die Amme lassen auf der Bühne eine mühelose, unbeschwerte Vertrautheit entstehen. Mit gewaltiger Präsenz bringt das Ensemble ein reiches Stück fast ohne Längen zum Leben. Dem faszinierenden Mythos ist eine neue, magistrale Interpretation hinzugefügt worden.


Technisches: Jocaste Reine wird im Théâtre des Osses in Givisiez noch bis Ende Jahr gespielt. Das Stück von Nancy Huston ist bei Actes Sud in der Reihe « un endroit où aller » erschienen (ISBN 978-2-7427-8598-8).
Als Spiegel für Hustons Interpretation der Ödipus-Tragödie zeigt das Théâtre des Osses gleichzeitig das sophokleische Original – dazu in Bälde mehr auf diesem Blog.

Sonntag, 22. November 2009

Mehr Licht!

Wer je auf der Athener Akropolis war, kennt den schmucklosen Flachdachbau, der sich hinter dem Parthenon in einer Felsvertiefung an die Befestigungsmauer schmiegt. In den engen Sälen dieses unprätentiösen Gebäudes, des alten Akropolismuseums, drängten sich ungezählte Kunstwerke, die zum eindrücklichsten gehören, was wir von der griechischen Antike kennen: Giebelskulpturen von den ersten Monumentalbauten aus historischer Zeit; die spektakulär erhaltenen archaischen Statuen wie zum Beispiel die Koren mit ihrem geheimnisvollen Lächeln; und die Bauskulptur des Parthenons – jedenfalls das, was Lord Elgin davon übrig gelassen hatte. Was auf dem Heiligen Felsen gefunden worden war, war hier in unmittelbarer Nähe ausgestellt. Das Haus war mein Lieblingsmuseum in Griechenland, ein Fixpunkt bei jedem Besuch, und ohne Diskussion trotz der kritischen Platzverhältnisse eines der bedeutendsten archäologischen Museen der Welt. Man kann sich deshalb denken, dass ich nicht nur begeistert war, als sich das Projekt eines neuen, grösseren Akropolismuseums südlich des Burgbergs zu konkretisieren begann, und dass ich vor zwei Jahren den Transport der unschätzbaren Werke in blauen Containern, die an hohen Kränen baumelten, mit gemischten Gefühlen verfolgte.

Mit entsprechend grosser Erleichterung kann ich nun berichten, dass das neue Akropolismuseum ein grosser Wurf ist, ein moderner, grosszügiger Bau, der seinem unschätzbaren Inhalt in jeder Weise gerecht wird. Die auf ein Mehrfaches vergrösserte Ausstellungsfläche erlaubte es, nie Gesehenes aus den vollen Depots ans Licht zu holen. So illustrieren gleich nach dem Eingang viele Kleinvotive die verschiedenen (seit kurzem auch selber wieder zugänglichen) Heiligtümer von den Abhängen der Akropolis: kleine Kultstätten, oft nur auf eine Grotte beschränkt, aber sehr populär und mit dem Alltagsleben der antiken Athener aufs innigste verbunden. Erstmals in der jetzigen Breite präsentiert werden aber auch die Funde aus mykenischer und geometrischer Zeit sowie die Weihgeschenke aller Art, auch die weniger spektakulären. Die altbekannten Highlights des Akropolismuseums wie die archaischen Statuen vermitteln immer noch den gleichen Eindruck einer grossen Überlieferungsfülle, haben aber in der lockeren Aufstellung mehr Luft und mehr Licht. Die Karyatiden, einst beim Ausgang hinter eine Glasscheibe gezwängt, sind gar erstmals rundum sichtbar. Vermisst habe ich im neuen, grosszügigen Saal der archaischen Bildwerke einzig die intime, direkte Quervergleiche ermöglichende Anordnung der Koren nebeneinander in einem Halbkreis. Die Erklärungen sind mit grossem Sachverstand verfasst, knapp gehalten und diskret gesetzt – für den Laien eventuell zu knapp und zu diskret, aber diese Zurückhaltung gibt den Kunstwerken den notwendigen Raum, für sich selber sprechen zu können.

Mit Worten gar nicht adäquat zu beschreiben ist der spektakuläre Parthenon-Saal ganz zuoberst. Der verglaste Quader hat die Dimensionen des Parthenons und dessen Orientierung, weswegen er zum restlichen Baukörper um rund 20 Grad gedreht ist. Der Ausstellungssaal legt sich um das Atrium herum und folgt von aussen der massstabsgetreu rekonstruierten Parthenonfassade auf der Höhe der Bauskulptur. Das liest sich alles wenig überraschend, ich weiss – aber sich Aug in Auge mit den Giebeln, Friesen und Metopen zu finden, ihre Dimensionen und ihre Details zu bestaunen und mit dem Blick durchs Fenster die Verbindung zum erstaunlich nahen Original herstellen zu können, ist ein atemberaubendes Erlebnis. Nebenbei wird an Hand der Abgüsse der anderswo, vor allem im British Museum aufbewahrten Bauglieder auch der Phantomschmerz über diesen Kunstraub viel deutlicher spürbar als zuvor. Für die alte Forderung nach Rückgabe der Elgin Marbles hat die griechische Regierung jetzt jedenfalls ein wichtiges Gegenargument (das des fehlenden Ausstellungsraumes) entkräftet und ein neues eigenes Argument aufgestellt.

In das vornehme und historisch befrachtete Makrygianni-Quartier südlich der Akropolis mit seinen repräsentativen Bauten, schicken Hotels und eleganten Mietshäusern ein Museum in diesen Dimensionen hineinzirkeln zu müssen, grenzt an architektonischen Selbstmord. Der in New York lebende Schweizer Bernard Tschumi hat die Gratwanderung zwischen Gigantismus und Selbstverleugnung mit viel Gespür für das gewachsene Umfeld gemeistert. Der massive, grossvolumige Bau versteckt sich nicht, wirkt aber, vor allem von der Akropolis aus gesehen, überraschend diskret und elegant, wenn er auch von Süden her seine Masse nicht verbergen kann. Einzig die pharaonische Eingangsüberdachung ist ein unnötiger Overkill, funktionslose Architektur um der Architektur willen. Die Säle sind grosszügig, selbst für die riesigen Besuchermassen des Eröffnungsjahres. Die Auxiliareinrichtungen sind dem Standard des Hauses angemessen: genügend Toiletten, zwei gutsortierte Shops, eine Cafeteria mit Terrasse und spektakulärer Aussicht. (Diese Aussicht wäre übrigens beinahe zum Vorwand geworden, zwei denkmalgeschützte Art-Déco-Mietshäuser an der Dionysiou-Areopagitou-Strasse abzureissen, da sie der optischen Kommunikation zwischen Museum und Akropolis im Wege stünden. Die Gefahr scheint gebannt; und nach dem Museumsbesuch scheint mir die Idee noch abwegiger, als sie es zuvor schon war...) Und das ist noch nicht alles: Der gewaltige Bau schwebt inmitten von Orangen- und Olivenbäumen auf Dutzenden Betonsäulen über dem historisch befrachteten Untergrund, einem ehemaligen Wohn- und Gewerbequartier, das vorgängig freigelegt wurde. Über gläserne Böden stellt das Museum eine Verbindung in viele Jahrhunderte der Geschichte seines Standorts her, die in Bälde noch besser zugänglich gemacht werden soll. Beschwingt hoch über den Mauerresten flanierend freue ich mich bereits auf den nächsten Besuch.


Technisches: Das Akropolis-Museum befindet sich an der Dionysiou Areopagitou 15 (Metro: Linie 2, Station Akropolis). Es ist täglich ausser Montags geöffnet von 8 bis 8 Uhr; ich empfehle allerdings den Besuch bei Tageslicht. Noch bis zum 31. Dezember 2009 gilt der Eröffnungspreis von 1 Euro. Die teils beträchtlichen Warteschlangen lassen sich durch den Online-Ticketschalter elegant und einfach vermeiden.

Freitag, 13. November 2009

Sturm und Drang und Überschwang

Ich bin ein grosser Fan der kleinen gelben Bücher: Ihr Design ist unerreicht, sie sind geradezu atemberaubend praktisch für überall hin, und sie kosten erst noch fast nichts. Zudem liebe ich Klassiker. Beim Bloggen nach dieser Art Lektüre gerate ich aber immer ein bisschen in Verlegenheit: Ich kann ja nicht ernsthaft Schillers Räuber rezensieren wollen; ein Werk, das seine Ehrenposition in der Kulturgeschichte schon lange hatte, bevor ich das erste Wort lesen konnte. (Was herauskommt, wenn sich jemand an solchen Besprechungen versucht, sieht man beispielsweise bei Amazon...) Das folgende erhebt also keinen Anspruch auf wissenschaftliche Analyse oder dergleichen – es ist einzig und allein (wie alles hier) der Versuch, meine Gedanken nach der Lektüre zu greifen zu bekommen und in eine, wenn auch sperrige, Form zu bringen.

Der bleibendste Eindruck: Wer immer den Begriff Sturm und Drang für diese Epoche geprägt hat, muss an dieses Drama gedacht haben. Da ist nichts Geruhsames, sich langsam Entwickelndes, nur unter der Oberfläche Brodelndes; vielmehr entladen sich Emotionen und Charaktere ungebremst und schonungslos, prallen aufeinander, schaukeln sich empor, treiben die Handlung in atemloser Schnelligkeit voran. Nicht selten fühlte ich mich beim Lesen überfordert, fast überholt vom Tempo der Handlung, dem vielfachen Meinungsumschwung und den jähen Richtungswechseln. Hinter dieser ins Kraut schiessenden Handlung steckt zwar durchaus eine absolut klassische Struktur in fünf Akten. Die Fabel gipfelt auch in einem tragischen Konflikt wie aus dem Lehrbuch. Ich werde aber den Eindruck nicht los, dass dies alles für Schiller gar nicht wichtig war. Er schert sich den Teufel um die Einheit des Ortes, und die Klimax schleicht sich auf leisen Sohlen fast unbemerkt an, um dann sehr schnell gleichsam zu verpuffen. Nein, es geht hier nicht um den sorgfältig aufgebauten tragischen Helden und um sein Verhalten im Angesicht der Krise. Es geht viel allgemeiner um den Charakter der Personen; es geht darum, diesem Charakter keine Fesseln anzulegen, sondern ihn sich ausleben zu lassen und ihn so offenzulegen. Wie mutig, wie unerhört das 1781 war, ein solches Stück nicht nur zu schreiben, sondern auch auf die Bühne zu bringen, schimmert in Schillers Vorrede durch, in der er sich vorsichtig distanziert, ja fast entschuldigt für seine Frechheit, diese zerrissenen, gescheiterten, teils rundweg kriminellen Figuren zu seinen Protagonisten gemacht zu haben.

Was dieses Werk unter anderem zum Klassiker macht – und ich denke, man kann das nicht genug betonen –, ist die absolute Beherrschung und Meisterschaft der Sprache. In den übelsten Anwürfen, in den grössten Seelenqualen, in den atemberaubendsten Dialogen stimmt jedes Wort. Der junge Schiller führt sein Deutsch wie Zweihänder und Florett zugleich, mit unerreichter Schönheit und Meisterschaft. Denn das ist es doch, was wir unter einem Klassiker verstehen: Ein zeitloses Modell, das uns Späteren als Orientierung und Richtschnur für unsere eigenen, zaghaften Versuche dienen kann.


Technisches: Friedrich Schiller, Die Räuber. Ein Schauspiel. Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart, Reclam 1969/2001. ISBN 978-3-15-000015-1.

Donnerstag, 5. November 2009

30 Monate

Phemios Aoidos ist dreissig Monate alt geworden – Anlass für den üblichen kurzen Rückblick. Und dieser ist durchaus erfreulich. Es handelt sich bei dieser sprachlichen Spielwiese ja nicht um einen Hochleistungsblog, sondern um eine Sammlung gelegentlicher, längerer, reflektierter Texte. Allzu unverbindlich solls dennoch nicht sein. Mein unausgesprochenes Ziel ist es, rund jede Woche einen Artikel zu schreiben; oder, grosszügiger gesagt, nicht unter vier pro Monat. Weniger wäre zu wenig: Eine gewisse Kontinuität scheint mir nötig, damit der Blog nicht zu fahrig und fragmentarisch wird – und entsprechend ist eine gewisse Disziplin gefragt. Ich bin ein kleines bisschen stolz, dass mir dies im bisherigen Jahresverlauf gelungen ist, über animierte Zeiten und Flauten und auch Ferien hinweg; und vor allem, dass es mir mit „richtigen“ Artikeln gelungen ist (vom gelegentlichen Weltwoche-Bashing mal abgesehen).

Die ganze Vorrede führt mich nun aber zu einer ungünstigen Prognose. Die nächsten beiden Monate kündigen sich turbulent an. Ich werde kaum die Musse haben, an Texten zu schreiben und zu feilen; ja nicht einmal die Musse, in Ruhe ein gutes Buch zu lesen – ganz abgesehen davon, dass ich aus den Ferien einen dicken Stapel Zeitschriften mitgebracht habe, deren Lektüre ich Vorrang gebe. Es würde mich natürlich ärgern, am Ende eines so guten Blogjahres den Rhythmus nicht aufrechterhalten zu können, aber es ist leider nicht ausgeschlossen. Ich bitte deshalb vorsorglich um Nachsicht und rate zu Alternativbeschäftigungen wie Guetzlibacken. Nächstes Jahr sollte ich hier dann wieder in alter Frische loslegen können.

Sonntag, 18. Oktober 2009

Unbekannte Ahnen

Staunen bei der Lektüre des Prospekts zur Ausstellung Kunst der Kelten: Es handelt sich um eine Weltpremiere; noch nie zuvor war die keltische Kunst in ihrer ganzen zeitlichen Tiefe und Entwicklung in einer Ausstellung gezeigt worden. Im Schatten der gleichzeitigen klassischen Kulturen Griechenlands und Roms, ohne eigenen Staat mit entsprechender Repräsentationskunst und vor allem ohne eigene Literatur, haben die Kelten in unserem kollektiven Unterbewusstsein wenig Spuren hinterlassen. Von Archäologie und Geschichtsforschung bis in jüngster Zeit oft vernachlässigt, ist uns dieser wichtige Teil unseres Erbes nur fragmentarisch bekannt. Das Historische Museum Bern hat es unternommen, diese Lücke zu füllen. Es hat dabei mit der grossen Kelle angerichtet, keinen Aufwand gescheut, die spektakulärsten Leihgaben aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich zu beschaffen – und konnte die Ausstellung mit einem Paukenschlag eröffnen: Das Fürstengrab von Hochdorf, die unversehrt erhaltene Grablege einer mächtigen Persönlichkeit, verliess zum ersten Mal das Landesmuseum Württemberg. Der neugeschaffene Platz im Museum (genauer: im Kubus) zahlte sich hier aus. Grosszügig waren die vielen reichen Grabbeigaben ausgestellt, ein Modell verdeutlichte den Grabungszusammenhang, und die Informationstafeln in der BHM-typischen Prägnanz und Dichte erläuterten das Gezeigte. Danach wand sich der Weg der Chronologie nach von 700 v. Chr. bis 700 n. Chr. durch die vielen Ad-hoc-Räume. Es sprachen hauptsächlich die Objekte, klug unterstützt durch die Technik: Unzählige Bildschirme wurden verbaut, auf denen Motivanalysen verborgene Details der Objekte ins Licht rückten und im Direktvergleich Verwandtschaften und Entwicklungen aufzeigten. Weitere Kurzfilme boten jeweils eine Einleitung in jede Epoche.

Wir lernten, dass die eigenwillige und eigenständige Kunst der Kelten stark ornamental geprägt war. Auf eine Frühphase mit geometrischen Mustern folgte die Entdeckung der Wellenlinie, die sich in immer eindrücklichere Dekorationen weiterentwickelte. Anregungen aus importierten Kunstwerken wurden aufgenommen, wenn auch zaghaft und langsam. Die Götter- und Heldenwelt, ja die gesamte Ikonografie, verstanden wir kaum; rätselnd standen wir vor archaisch, gelegentlich bizarr anmutenden Darstellungen von Figuren und Tieren. Die hohe Qualität vieler Stücke war freilich problemlos evident, ebenso wie die Originalität vieler künstlerischer Schöpfungen. In römischer Zeit erfolgte jene Verschmelzung der Stile, die als gallo-römische Kunst bekannt ist und bei der unter der römischen Oberfläche keltische Eigenheiten und Traditionen durchscheinen. Wellenlinien und Ornamentik blühten ein letztes Mal im Frühmittelalter, in den Rückzugsgebieten der Kelten, in der berühmten irischen Buchmalerei.

Die Ausstellung war didaktisch hervorragend aufgebaut. Gute zwei Stunden haben wir uns (zusammen mit unzähligen anderen Interessierten) durch 14 Jahrzehnte keltischer Kunst durchgesehen und -gestaunt, ohne dass uns die Zeit lang oder die Beine müde geworden wären. Die präsentierten Spitzenstücke und die Reduktion der komplexen Thematik auf ein paar wenige, entscheidende Aussagen hinterliessen einen abgerundeten, bleibenden Eindruck.


Technisches: Die Ausstellung hat ihre Tore am 18. Oktober geschlossen. Angekündigt ist eine Wiederaufnahme im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, vom September 2012 bis zum Januar 2013. Der Katalog zur Ausstellung, herausgegeben vom Vater der Ausstellung und Kelten-Spezialisten Felix Müller, ist bei NZZ Libro erschienen.

Freitag, 16. Oktober 2009

Allgemeine Erwerbsversicherung

Wie es nicht geht in Wirtschaft und Politik zeigt mit brutaler Anschaulichkeit die Krise. Wie es gehen könnte, ist deshalb die Frage der Stunde. Entsprechend ist dies die beste Zeit für Visionen, Kreativität und Gegenentwürfe zum real existierenden Elend. Das müssen keine revolutionär grossen Pläne mit entsprechendem Bauchlandungspotential sein. Die Krise und das dadurch angeregte und geschärfte Denken können ja auch dazu dienen, in einzelnen Gesellschafts- und Politikbereichen überholte und unnötig komplexe Strukturen aufzubrechen und Neues zu schaffen. Diesen Ansatz hat das Denknetz mit seinem Vorschlag einer allgemeinen Erwerbsversicherung gewählt.

Das Denknetz könnte man einen Think Tank nennen. Da ich aber mit diesem Begriff eine massive, reiche und mächtige Organisation verbinde, spreche ich lieber von einer groupe de réflexion, einem Gedankenlaboratorium, einer Werkstatt für die Analyse und Lösungssuche. Das Denknetz macht den Vorschlag, alle privaten und öffentlichen Versicherungen, die für den Erwerbsausfall zuständig sind, zu einer einzigen Institution zusammenzufassen. In einem kleinen, handlichen, flüssig zu lesenden Buch wird dieser Vorschlag erläutert und argumentativ unterlegt; damit soll die Diskussion lanciert werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Feststellung, dass sich die Versicherungen, die heute den Erwerbsausfall abdecken, sowohl teilweise überlappen, ja in die Quere kommen, als auch gefährliche Lücken aufweisen. Der erste Aspekt braucht kaum ausgeführt zu werden; allzu bekannt sind die Doppelspurigkeiten und Reibungsverluste, die heute an den Schnittstellen zwischen Arbeitslosen-, Invaliden- und Unfallversicherung anfallen: In langwierigen Verfahren und mit Millionen für Gutachter und Anwälte versuchen die einzelnen Versicherungen, sich gegenseitig ihre Fälle zuzuschieben, und die Menschen, die hinter diesen Fällen stehen, leiden vielfach unter Rechtsunsicherheit und finanziellen Sorgen. Der zweite Aspekt, die Deckungslücken, hat mich Naivling, der bei einem anständigen Arbeitgeber beschäftigt ist, überrascht. Tatsächlich existiert in der Schweiz keine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Die grosse Mehrzahl der Arbeitnehmenden ist zwar im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen oder freiwilligen Leistungen ihrer Arbeitgeber gegen den Lohnausfall im Krankheitsfall versichert und beteiligt sich oft auch über Lohnprozente an dieser Versicherung. Wer aber auf eine private Krankentaggeldversicherung angewiesen ist, kann sich mit hohen Prämien und brutalen Ausschlusskriterien konfrontiert sehen.

Wenn aber nun der unverschuldete Erwerbsausfall als ein zusammengehöriges Problem angesehen wird, macht es wenig Sinn, dieses je nach seinen verschiedenen Gründen in unterschiedlicher Weise anzugehen und zu lösen. So könne eine allgemeine Erwerbsversicherung in staatlicher Hand, welche die bisherigen staatlichen und privaten Anbieter ablösen würde, sowohl die Doppelspurigkeiten abschaffen als auch die Lücken stopfen. Leitprinzip ist die Gerechtigkeit: Wer unverschuldet wegen Krankheit oder Unfall nicht mehr durch eigene Arbeit für seinen Lebensunterhalt sorgen kann, darf von der Gesellschaft nicht fallen gelassen werden. Er oder sie hat Anrecht darauf, nicht zur Manövriermasse von Versicherungen zu werden, nicht hilflos in die Armut abzustürzen, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten ein würdiges Leben führen zu können. Zu dieser Selbstverpflichtung muss sich ein Land, das modern, demokratisch und gerecht sein will, bekennen können. Finanziert werden könnte diese vereinheitlichte Versicherung wie ihre bisherigen Teile durch Steuern und Lohnprozente. Die Effizienzgewinne durch die Abschaffung von Reibungsverlusten würden dabei die Mehrausgaben nicht aufheben, aber deutlich verringern.

Philosophisch sind die Überlegungen des Denknetz verankert im Konzept von Decent Work, von „guter Arbeit“ im Sinne der Internationalen Arbeitsagentur ILO. Es umfasst eine doppelte Verpflichtung: Arbeitgeberinnen sind verpflichtet, anständige Arbeitsplätze anzubieten; Arbeitnehmer sind ihrerseits verpflichtet, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, indem sie nach ihren Möglichkeiten solche anständige Arbeit ausführen. Das tönt etwas moralinsauer, ist aber ein pragmatischer und letztlich der einzig gerechte Ansatz. Hinter der einfachen, eleganten Definition dräuen allerdings die gleichen Diskussionen, die heute oft unversöhnlich über die verschiedenen Sozialversicherungen geführt werden – denn der Teufel liegt (natürlich) im Detail. Wer entscheidet, und wie, ob ein Arbeitsplatz den ILO-Kriterien entspricht? Diese gesellschaftlich auszuhandelnde Frage ist auch mit dem Reformansatz einer AEV nicht gelöst. Die Eleganz einer solchen vereinfachten Lösung jedoch finde ich im Vergleich zum heutigen ächzenden Mischmasch absolut bestechend.


Technisches: Ruth Gurny, Beat Ringger: Die grosse Reform. Die Schaffung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Ein Denknetz-Buch aus der edition 8. Zürich 2009. ISBN 978 3 85990 140 7.

Freitag, 9. Oktober 2009

Mosaik der Vergangenheit

Die Freiburger Kantonsarchäologie stellt diesen Sommer in Charmey und Bulle in einer Doppelausstellung archäologische Funde aus dem Greyerzerland vor. Indirekter Anlass für die Ausstellung ist die bevorstehende Fertigstellung der H189, der Umfahrungsstrasse von Bulle [die hat tatsächlich eine eigene Website!?] – und damit ist eine der Kernaussagen bereits angesprochen: dass archäologische Forschung nämlich ausserhalb der ganz grossen Höhepunkte immer Fragment und Flickwerk ist. Im Greyerzerland sind es insbesondere die Grabungen entlang der Autobahn A12 und eben in den letzten Jahren der H189, die eine Spur des Verständnisses durch die Landschaft gelegt haben; ergänzt wird diese durch punktuelle Aktivitäten, Notgrabungen und geplante Forschungen. Prospektionen, Objekte, Stratigrafien steuern jeweils ihr Steinchen bei zu einem wachsenden Mosaik, das mit jeder neuen Erkenntnis ein kleines bisschen deutlicher wird.

Im Musée gruérien in Bulle öffnet ein weites Panorama von La Roche bis Vuadens den Blick in den Bezirk Gruyère. Die bekannten Fundplätze aus allen Epochen von der Jungsteinzeit bis in die frühe Neuzeit sind über die Gegend gesprenkelt und mit charakteristischen Funden vertreten. Einzelne geografische Schwerpunkte zeichnen sich ab, so für die römische Zeit eine Siedlungskonzentration westlich der Saane bei Marsens und Riaz, wo ein Tempel als kultischer Mittelpunkt, eine Handwerkersiedlung und verschiedene villae (Gutshöfe) ergraben worden sind. Die politische Geografie des Mittelalters akzentuieren die abgegangenen und noch stehenden Burgen, allen voran Gruyères. Drei Themen werden in gesonderten Räumen vertieft. In meditativem Halbdunkel zeugen Grabbeigaben und Rekonstruktionen von den Begräbnissitten in vorgeschichtlicher und römischer Zeit. Eine Vielfalt von Metallobjekten, Verhüttungsabfällen und Werkzeugen legt den Schluss nahe, dass die Siedlung von Marsens von Schmieden bevölkert war. Den Blick auf die städtische und neuzeitliche Archäologie lenkt schliesslich die Keramik, die ab dem 14. Jahrhundert in Bulle produziert wurde: Ofenkacheln und Geschirr aller Art.

Nach dem Ausstellungbesuch blieb ein Viertelstündchen für einen Auffrischungsrundgang durch die Dauerausstellung des Musée gruérien. Der knirschende Kokosläufer und die sattgrüne, tiefer gehängte Decke atmen den unverkennbaren Charme der frühen Achtziger Jahre; aber die Ausstellung ist überraschend gut gealtert. Ein Heimatmuseum im besten Sinn des Worts, zeigt das Museum Geschichte und Tradition eines kulturell einheitlich und charakteristisch geprägten Raumes. Die Präsentation in freistehenden thematischen Gruppen ist heute nichts besonderes mehr, aber in seinen Anfängen muss das Haus absolute museografische Avantgarde gewesen sein. Gealtert hat freilich das Ausstellungsgut: Währenddem vor dreissig Jahren die gezeigten Objekte, Bräuche und Traditionen einer grossen Mehrheit der BesucherInnen noch aus eigener Anschauung vertraut waren und nicht mehr als knapp skizzierte, poetische Legenden benötigten, müsste eine kommende Überarbeitung der Dauerausstellung der Tatsache Rechnung tragen, dass das heutige Publikum eine zusätzliche Erklärungsschicht benötigt: Die fortschreitende Säkularisierung dieses kulturell ehedem sehr geschlossenen Gebiets und der starke Zuzug der letzten Jahre haben zu einer neuen Publikumsgeneration geführt, für welche die Exponate vollends zu Museumsstücken geworden sind.


Technisches: Die Sonderausstellung ist noch bis am 25. Oktober geöffnet; als Begleitung ist auch ein Katalog erschienen (Découvertes archéologiques en Gruyère: quarante mille ans sous la terre. ISBN 978-2-8399-0532-9). Das Musée gruérien liegt direkt hinter dem Schloss von Bulle in einem reizvollen kleinen Park. Neben der Dauerausstellung werden regelmässige Sonderausstellungen gezeigt. Das Haus ist täglich ausser montags von 14 bis 17 Uhr geöffnet, an Werktagen auch von 10 bis 12.

Dienstag, 6. Oktober 2009

Das Leben macht Spass mit Demiglace

Claudio del Principe ist kochsüchtig. Diese Krankheit ist meines Wissens von der WHO nicht anerkannt, und sie scheint mir auch nicht wirklich unangenehm zu sein. Trotzdem tut Therapie not. Claudio hat mit seinen Mitbetroffenen Patrick und Comenius zusammen als Selbsthilfegruppe einen Blog gegründet: anonymekoeche.net. Die beiden Kollegen sind offenbar geheilt; jedenfalls bloggen sie nicht mehr. Claudio hingegen schreibt weiter, magistral und genussvoll – er ist so etwas wie die schwarze Trüffel in meinem Feedreader und ein heimliches Vorbild dieses bescheidenen Blogs hier: Es macht dermassen Spass, seine Schreibe zu lesen, dass ich dies selbst dann tun würde, wenn er über Lohnbuchhaltung oder Hundesalons schriebe! Glücklicher- und idealerweise aber ist seine Leidenschaft und sein Thema das Kochen und Essen, und der Leser begleitet ihn mit nie erlahmendem Vergnügen auf seiner unendlichen Reise zum Wesentlichen. Denn Claudio ist ein Purist: Ein Menü ist für ihn dann perfekt, wenn nichts mehr weggelassen werden kann. So erwähnt er als heimliches Vergnügen die Verdura cotta – blanchiertes Gemüse in Olivenöl mit „allenfalls etwas Käse“. Und zur Bistecca fiorentina (bzw. zur Côte de boeuf) serviert er keine Beilagen. Nichts. „Schon mal Raubtiere gesehen, die nebenher noch Fritten futtern?“ Man sieht, der Mann schreibt knackig und hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Doch weil er auch mächtig selbstironisch ist, nimmt man ihm die Arroganz nicht übel, im Gegenteil: Man nimmt sie als Wegweiser für die eigene Suche nach der ehrlichen Küche. Die Rezepte, alle zum Nachkochen gedacht (und soweit bisher getestet auch geeignet), werden ergänzt durch Berichte über kulinarische Exkursionen und Entdeckungen in nah und fern, vor allem in seinem heimatlichen Italien.

Was dann passiert ist, ist für den Blogautor eine Freude und für die Blogleserin ein Vergnügen: Gräfe und Unzer bringt die Anonymen Köche als Buch heraus. Das musste ich natürlich sofort und ungesehen erstehen; und nach der obigen hymnischen Einleitung erstaunt es wohl niemanden, wenn ich dieses unübliche Kochbuch wärmstens weiterempfehle. Ich muss nur eine Präzisierung anbringen und eine kleine Kritik. Die Präzisierung: Wie Leser Max richtig anmerkt, besteht das Buch mit Ausnahme von Vorwort und Glossar ausschliesslich aus online frei zugänglichem Blogmaterial. Da über den Bildschirm gebeugt zu lesen natürlich nicht mit dem Vergnügen verglichen werden kann, ein stattliches und aussergewöhnlich appetitlich gestaltetes Buch in den Fingern zu haben, und da sämtliche zeitgenössischen Blog-Lesegeräte auf Feuchtigkeit und Spritzer immer noch viel empfindlicher reagieren als ein Buch, ist dies keineswegs ein Nachteil. Zudem erscheint auf dem Blog keine einzige Anzeige, so dass ich den Buchkauf gerne als eine Art Trinkgeld für stundenlanges Lesevergnügen abgebucht habe. Und meine übliche kulturpessimistische Kritik: Wenn in einem Impressum von Lektorat und Schlusskorrektur die Rede ist, möchte ich davon ausgehen, dass jemand das Werk vor der Drucklegung einmal durchgelesen, Tippfehler bereinigt und da und dort auch mit lenkender Hand eingegriffen hat. Das scheint hier nicht der Fall zu sein; einige Fehler („Désolée, il y on a plus“ und anderes) sind eins zu eins übernommen worden, und von der lenkenden Hand, die aus dem Buch mehr hätte machen können als einen gedruckten Blog, ist kaum etwas zu spüren – was aber wiederum, wie erwähnt, nicht wirklich ein Problem ist. Ergänzend kann ich zum Schluss mit Freude vermerken, dass Claudios Therapie vorläufig regelmässig auf anonymekoeche.net weitergeführt wird...


Technisches: Claudio Del Principe, Anonyme Köche. München, Gräfe und Unzer 2009. ISBN 978 3 8338 1814 1. Ein Filmporträt sowie Interviewschnipsel mit dem Autor finden sich auf dem Blog. Ach ja: Wer (wie ich) nicht wusste, was Demiglace ist, dem kann selbstverständlich kompetent geholfen werden.

Mittwoch, 23. September 2009

Wie kann man nur?

Im Weltwoche-Feuilleton schreibt Michael Maar anlässlich des Erscheinens seiner Proust-Biografie über die Recherche du temps perdu, und man merkt schnell: Hier spricht einer, der viel gelesen hat und eloquent darüber zu erzählen weiss, über das Buch seines Lebens; schreibt eine eigentliche ausführliche Liebeserklärung an ein singuläres Stück Literatur, und man schätzt sich glücklich, die Lektüre dieses Buches noch vor einem zu haben, denn

„Es gibt kein anderes, das den Leser mit einer so verworrenen Mischung aus Gefühlen entlässt: beglückt, erhoben, sanft zerschmettert, tief resigniert. Wird man so etwas je wieder lesen, selbst wenn man sofort zum zweiten Mal beginnt? Unmöglich, denn genau im langsamen Herunterziehen des Schleiers lag der Trick, der sich nie mehr wiederholen lässt.“

Aber was steht da kleingedruckt nach diesen zwei Seiten klugen Schwärmens? Genau:

Exklusiv für Weltwoche-Leser: Die Zusammenfassung von Marcel Prousts’ „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Kostenlos auf www.getabstract.com/weltwoche.

Wäre ich Michael Maar, würde ich schleunigst davon absehen, meine leidenschaftlichen Texte weiterhin an einem Ort zu publizieren, an dem sie nicht ernst genommen werden, sondern nur als Vehikel für völlig unpassende Promotionen zu dienen haben.

Freitag, 18. September 2009

Zehntausend schlafende Pferde

Der grösste Dieselmotor der Schweiz steht in Fribourg: Zwölf Meter lang und acht hoch dominiert er mit Wucht und Eleganz die leere Halle des thermoelektrischen Kraftwerks in der Maigrauge, das, verstaubt und zugestellt, als Werkstatt und Abstellhalle verwendet wird. In den acht Zylindern schlafen zehntausendachthundert Pferde. Bei Sulzer in Winterthur wurde das Monstrum ursprünglich für einen Ozeanriesen gebaut (wovon noch die steilen Treppen mit den eleganten Handläufen zeugen), dann aber von den Freiburgischen Kraftwerken angekauft, in Einzelteilen in die Unterstadt transportiert und im tempelähnlichen Hallenbau montiert. Während fast siebzig Jahren produzierte es aus 5000 Litern Heizöl pro Stunde Strom, unter ohrenbetäubendem Lärm und weithin spürbarer Vibration. Die stark gestiegenen Ölpreise, die Umweltgesetzgebung sowie ein Kolbenriss setzten den archaischen Giganten in den Neunziger Jahren (erst!) ausser Gebrauch. Seine drei kleineren Kollegen wurden abgebrochen und nach Indonesien verfrachtet; der grosse Schiffsmotor jedoch steht heute noch an seinem Wirkungsort, als eindrücklicher Zeuge einer Zeit, in der die besten und stärksten Motoren der Welt in der Schweiz produziert wurden.

Am Tag des offenen Denkmals, der sich dieses Jahr mit dem Wasser in all seinen Formen und Funktionen befasste, öffnete Groupe E ihre Wasserkraftwerke in der Maigrauge und am Ölberg für die Besucherinnen und Besucher. Das war wie erwartet spannend und informativ; besonders der innovative Fischlift am Maigrauge-Staudamm hat uns begeistert. Das in unseren Augen eigentliche Highlight, eben der grosse Dieselmotor, stand jedoch nur verschämt auf dem Programm. Etwas ausserplanmässig hat uns dann aber ein freundlicher und sehr kompetenter Mitarbeiter die Tür zum thermoelektrischen Kraftwerk aufgeschlossen, die Kolben mittels Elektromotor in Gang gesetzt, den Giganten mit uns erklettert und seine Funktionsweise erklärt. Ich kann nicht sagen, was mich mehr faszinierte: die gewaltige, einschüchternde Masse oder die Anmut der Konstruktion – denn hier gilt forms follows function in Reinkultur, und gerade deshalb ist das Design von unnachahmlicher, anschaulicher Eleganz.

Die Erinnerung an die Centrale Montemartini gibt Anlass zum Träumen: Da das gute Teil nun mal dort steht, wo es steht, da es schweizweit einzigartig ist, da auch das Gebäude ein historisches Monument ist, wäre der Gedanke verlockend, den Motor zu konservieren und als technikgeschichtliches Museum zugänglich zu machen. Dass das nicht einfach sein wird, ist mir natürlich klar. Umso mehr habe ich mich über die vorläufig einmalige Gelegenheit gefreut, dieses Juwel von nahem betrachten und studieren zu können.


Technisches: Das thermoelektrische Kraftwerk der Maigrauge ist in der Regel nicht zugänglich. Als notdürftiger, aber gut gemachter Ersatz dienen kann seine Publikation im Rahmen der „Fiches Ville de Fribourg 2005“ der kantonalen Denkmalpflege.

Freitag, 11. September 2009

Vor langer, langer Zeit

Konstantinopel (der Name „Istanbul“ wird nicht gebraucht) ist für die Griechen nicht irgendeine Stadt – es ist die Stadt schlechthin, i Poli; ein Jahrtausend lang politisches, religiöses und kulturelles Zentrum des byzantinischen Reiches bis zur Eroberung durch die Türken 1453, und auch nach dieser Katastrophe, die im kollektiven Bewusstsein noch bedrückend präsent ist, Fokus der griechischen Kultur, die einzig wahre Stadt und ideelle Hauptstadt der in den Dörfern über zwei Kontinente verteilten Griechen. In der jüngeren Vergangenheit haben Nationalismus und gegenseitiger Hass das mehr oder weniger friedliche Zusammenleben entscheidend sabotiert. Nach den schmählich gescheiterten griechischen Grossmachtplänen 1922 mussten Griechen und Türken im Rahmen der ersten ethnischen Säuberung in Europa jeweils zu Hunderttausenden ihre Heimat verlassen; zu den wenigen Ausnahmen, die bleiben durften, gehörten rund 100’000 Griechen in Konstantinopel. Die antigriechischen Gesetze von 1932, erst recht dann die antigriechischen (bzw. antichristlichen und -jüdischen) Pogrome vom 6./7. September 1955 vertrieben die meisten dieser letzten Vertreter einer alten Tradition aus der Stadt; zurück blieb ein kleines, langsam aussterbendes Häufchen von gerade mal viertausend Personen. Die traurige Geschichte der alten Kaiserstadt ist ein Kulminationspunkt der schwierigen, gegenseitig immer wieder extremistisch angeheizten und erst in den letzten Jahren vorsichtig etwas entspannten Beziehung zwischen Griechen und Türken.

Sich literarisch auf dieses verminte Terrain zu wagen, ist nicht jedermanns Sache; wohl aber diejenige von Petros Markaris. Selber in Konstantinopel geboren und aufgewachsen (Vater Armenier, Mutter Griechin), in Österreich ausgebildet, in Athen wohnhaft, ist der Ökonom, Drehbuchschreiber, Übersetzer und Krimiautor ein Wanderer und Mittler zwischen den Kulturen mit feinem Sensorium für Unausgesprochenes und Ungerechtigkeiten. In seinem neuesten Krimi, Παλιά, πολύ παλιά (Vor langer, langer Zeit; zu Deutsch Die Kinderfrau) schickt er Kommissar Charitos, seinen liebenswürdig-grimmigen Helden, auf Städtereise nach Konstantinopel und führt uns mit ihm zusammen durch die Stadt seiner Kindheit, in die geschlossenen Schulen, leeren Kirchen und zerfallenden Häuser der Griechen - und in deren volles Altersheim. Ohne seine Untergebenen, die er nach Belieben anbellen und herumhetzen kann, ohne sein Feeling für Stadt und Menschen, das ihn in Athen immer gut leitet, reduziert auf die Nebenrolle als Begleiter seines türkischen Kollegen, ist Charitos kaum wiederzuerkennen. Plötzlich entdecken wir neue, sympathische, ganz normale Züge am ruppigen Kommissar. Einzig die üblichen kleinen Wortgefechte mit seiner Frau erinnern an die früheren Fälle – und natürlich seine Obsession für Strassen und Routen innerhalb einer Stadt.

Der eigentliche Kriminalfall ist nur ein Vorwand für das Buch, denn Identität und Motiv der Mörderin sind nach wenigen Seiten klar und verständlich. Vielmehr geht es darum, dass die Blutspur, die sie in Konstantinopel hinterlässt, eine Spur in die schmerzhafte Vergangenheit einer alten, mehrfach vertriebenen Frau ist. Es geht um die Situation der griechischen Minderheit, die der in Deutschland geborene türkische Polizist Murat viel besser versteht als sein griechischer Kollege Charitos. Es geht um Verständnis und Misstrauen. Es geht um gut und böse und darum, dass es nicht reicht, einem bestimmten Volk anzugehören, um gut oder böse zu sein. Es geht auch darum, wie vieles Griechen und Türken einen würde, wenn sie nicht auf das Trennende starren würden. Und gewissermassen ist Vor langer, langer Zeit ein vorgezogenes Requiem auf dreitausend Jahre griechisches Leben und griechische Kultur in Byzanz/Konstantinopel/Istanbul. Das alles ist viel Material für gerade mal dreihundert Seiten. In seinem bisher persönlichsten Krimi gelingt es Petros Markaris, eine schwierige Geschichte mit überraschender Leichtigkeit und fast heiterer, gelassener Melancholie zu erzählen.


Technisches: Wie alle Krimis von Markaris ist auch dieser hier von Michaela Prinzinger (kongenial, wie man hört) ins Deutsche übersetzt worden und bei Diogenes erschienen: Petros Markaris, Die Kinderfrau. Ein Fall für Kostas Charitos. ISBN 978-3-257-06696-8. Auf Griechisch wird Markaris von Gavriilidis verlegt.

Sonntag, 6. September 2009

Im Herbst

„Heute morgen, unter der Dusche, habe ich an mir das erste weisse Schamhaar entdeckt.“ So beginnt die Saison im Theater an der Effingerstrasse; so beginnt „Im Herbst“ von Felix Römer. Im prägnanten Einstieg ist alles drin, was das Stück auszeichnet: Die Auseinandersetzung mit dem beginnenden Alter, in welcher unter dem souveränen Sarkasmus gelegentlich die nackte Panik durchscheint, und die Männerfreundschaft, die tief geht, aber trotzdem von Oberflächlichkeiten nicht frei ist. In erster Linie ist „Im Herbst“ aber ein Starvehikel für Suske und Schönbeck. Stefan Suske und Uwe Schönbeck, jahrelange Veteranen des Stadttheaters Bern und dortselbst alleine, aber vor allem als komisches Doppel grosse Publikumslieblinge, kommen zum zweiten Mal nach letzter Saison in den intimen Rahmen der Effingerstrasse; und ihr ehemaliger Krefelder Kollege Römer hat ihnen dazu ein Duett auf den Leib geschrieben. Stefan Suske brilliert als Schriftsteller Max, der sich vom aufreibenden Leben als Psychiater zurückgezogen, im minimalistischen Haus am See installiert hat und dort mit Millimeterschnitt, lässiger Eleganz und überbordender Abgeklärtheit den Philosophen gibt, währenddem er mit wenig anspruchsvoller Literatur gutes Geld verdient. Uwe Schönbeck hat die dankbare Aufgabe, sich mit Haut und Haar, mit Vehemenz und Larmoyanz im Selbstmitleid des Provinzschauspielers Robert zu suhlen, der sich von der intensiven, aber unglücklichen Beziehung zur zwanzig Jahre jüngeren Klara zu erholen versucht. Roberts Liebeskummer ist das Thema ihrer Dialoge, aber auch das unerbittlich fortschreitende Alter der beiden Fünfzigjährigen. Wie vertragen sich die unterschiedlichen Lebensentwürfe mit dem fast schon romantischen gemeinsamen Ziel einer Alters-WG inklusive polnischer Putzfrau? Am Schluss ist es der chaotisch-überspitzte Robert, der zu neuem Glück aufbricht, währenddem Max etwas verbittert in seiner Nobelklause zurückbleibt.

Die Figuren sitzen passgenau; Suske und Schönbeck füllen sie bis in die Fingerspitzen aus. Unter der Oberfläche einer alten, vertrauten Freundschaft lassen sie verborgene Spannungen erkennen, unausgesprochenes Misstrauen und gelegentliche Genervtheit. Freilich tritt hinter den Protagonisten und ihrem Spiel das Stück selber etwas in den Hintergrund. Schon am Tag nach der Aufführung konnte ich mich nur noch der Spur nach an die Fabel in all ihren Wendungen erinnern. Das muss kein Nachteil sein: Hier geht man wegen der Schauspieler ins Theater, weniger wegen des Inhalts; und zu sehen bekommt man die hohe Kunst des tragikomischen Duetts.


Technisches: „Im Herbst“ wird an der Effingerstrasse noch bis am 26. September gespielt; Karten gibt es unter 031 382 72 72. Für den Bund hat Charles Linsmayer bereits berichtet.

Sonntag, 30. August 2009

Im Dunkeln tappen

Das Kunsthistorische Museum Wien ist zusammen mit seinem Pendant, dem Naturhistorischen Museum, nicht nur ein seinem herrschaftlichen Standort angepasster Palast, sondern auch eines der ersten Grossmuseen, das eigens zu diesem Zweck gebaut wurde. Die monumentale Architektur weckt Erwartungen, die das Gebäude selber im Inneren mehr als erfüllt. Über ein prächtiges, mit Skulptur und Malerei dekoriertes Treppenhaus gelangt man in hohe Säle. Fresken von Grotesken und überbordender, goldglänzender Stuck schmücken die Gewölbe. Das Museum ist gewissermassen sein eigenes spektakulärstes Exponat und würde auch leer einen Besuch rechtfertigen. Darüber hinaus beherbergt es aber eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt. Bei meinem letzten Besuch in Wien war die Antikenabteilung in Renovation, worauf ich mich, mit unerwarteter Ausdauer sowie einem hervorragenden Audioguide gewappnet, stundenlang zwischen den Alten Meistern herumtrieb. Dieses Mal wollte ich endlich die Altertümer sehen.

Die Sammlung besticht zunächst durch ihre thematische Breite. Gut vertreten sind neben den üblichen Verdächtigen einer solchen Kollektion, den griechischen Vasen, römischen Porträts und Konsorten, vor allem die vorrömischen Kulturen Italiens sowie die zyprische Kultur. Dies verleiht der Ausstellung eine zeitliche und thematische Breite, welche sich am anderen Ende des Spektrums bis zu byzantinischen und frühmittelalterlichen Denkmälern erstreckt. In diesem Jahrhunderte überspannenden Reichtum funkeln viele Glanzlichter. Ein spezielles Vergnügen sind für mich in solch renommierten Häusern immer die Stücke, die ich aus der Literatur schon kenne und dann endlich zum ersten Mal im Original vor mir sehen kann. So genoss ich in Wien besonders die Reliefs vom Heroon von Trysa, den Stamnos des Brygos mit Hektors Lösung oder die spektakuläre Gemma Augustea.

Nicht auf der Höhe der Exponate war hingegen die Museografie. Im Rahmen der Restauration und Neueinrichtung der Säle sind hier viele energische Akzente gesetzt worden, die sich aber leider oft als nicht sehr praktisch erweisen. Dies gilt zunächst für die Anordnung des Rundgangs, die uns etwas unvermittelt und unklar erschien. (Zur Verwirrung trägt auch die in Gold gefasste, ursprüngliche Beschriftung der Säle bei, die den nach Orientierung suchenden Besucher leicht in die falsche Richtung gehen lässt.) Es gilt aber vor allem für den Entscheid, die Säle der altitalischen und -ägäischen Kulturen sowie der Kleinkunst dunkel zu halten und nur die Objekte mit gezielt gesetztem Licht herauszuschälen. Die weihevoll-magische Stimmung passt zwar gut zu den grossartigen Räumen, aber das Besuchserlebnis leidet unter der zu extremen Umsetzung der Idee: Einige Objekte sind so sparsam ausgeleuchtet, dass ihre Schauseite zwar gut sichtbar ist, die Rückseite sich aber nur schemenhaft im Halbschatten abzeichnet. Gerade bei Vasen ist das natürlich eine Todsünde. Nur halbwegs gelungen ist auch der museografische Einfall, bei den unteritalienischen Vasen mit einem raumhohen, vollgestellten Glasschrank die Massenproduktion und den Überfluss der Magazine zu inszenieren. Der Effekt gelingt zweifellos, aber der Frust darüber, mehr als die Hälfte der Exponate nicht adäquat betrachten zu können, trübt die Freude an dieser Vitrine. Was anderswo funktioniert (beispielsweise in den niederen Räumen des ehemaligen Luzerner Zeughauses, im schaulagerartigen Historischen Museum), stiftet in den palastartig hohen Sälen des KHM eher Verwirrung.

So hinterlässt die Neugestaltung der Antikensammlung den etwas schalen Nachgeschmack eines ambitionierten, aber nicht immer genügend durchdachten Vorhabens. Aber gemach: Der Reichtum der Sammlung und die Pracht der Räume holen das Museum da locker wieder heraus.


Technisches: Das Kunsthistorische Museum Wien kann man kaum übersehen; es steht am Maria-Theresien-Platz zwischen Neuer Hofburg und Museumsquartier. Der Eintritt kostet 10 EUR; alle weiteren praktischen Informationen finden sich auf der gut gemachten Website. Besonders zu empfehlen ist nach dem anstrengenden Museumsbesuch eine Pause im edlen Museumscafé oben im Kuppelsaal.

Donnerstag, 20. August 2009

Art. 20

Im aktuellen Kundenmagazin der Post findet sich (prominent platziert ab Seite 6) ein Interview zur Postmarktliberalisierung in Europa mit Matthias Finger, der folgendermassen vorgestellt wird:

"Prof. Matthias Finger hat den Lehrstuhl für Management von Netzwerkindustrien an der ETH Lausanne inne. Er erforscht und lehrt Regulierung und Management von Netzwerkindustrien wie Strom, Wasser oder Post. Sein Lehrstuhl wird von der Post finanziell unterstützt."

Ich weiss sehr wohl, dass es heute gängige Praxis von Unternehmen ist, durch Hochschulsponsoring ihre eigenen Forschungsinteressen mit einem Renommiermantel zu umkleiden und gleichzeitig kritische Forschung mindestens zu kontern, wenn nicht gar zu behindern. Ich weiss auch, dass die Hochschulen mehr als nur sanft gedrängt werden, bei Unternehmen die offene Hand zu machen. Ich frage mich nur, ob ich der einzige bin, der diese Praxis einfach skandalös findet. Unternehmen, die Geld in Forschung und Entwicklung stecken wollen, sollen das gefälligst in ihren eigenen vier Wänden tun. Moderne demokratische Staaten, und zuvorderst so reiche wie die Schweiz, sollen ihre Hochschulen gefälligst mit den nötigen Mitteln ausstatten, um ihnen unabhängige Forschung zu ermöglichen. Und die Hochschulen sollen sich gefälligst ein bisschen entschiedener wehren für ihre Unabhängigkeit. (Die inzüchtige Absurdität, dass die Unternehmenskommunikation der Post den Post-gesponserten Professor zur Postmarktpolitik befragt, ist bei der ganzen Geschichte nur das Sahnehäubchen.)

Artikel 20 der Bundesverfassung sagt kurz und knapp: "Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung ist gewährleistet." Solange auch renommierte schweizerische Hochschulen bereit sind, ihre Reputation für ein Linsengericht zu verkaufen, hat der schöne Satz einen reichlich hohlen Klang.

Montag, 10. August 2009

Kalimera

Am Anfang stand eine nicht alltägliche Reiseidee einer Gruppe österreichischer Philhellenen: Sie wollten sich auf griechische Spuren ausserhalb Griechenlands begeben. Gemeint sind nicht die Spuren der Millionen griechischer Auswanderer der neuesten Zeit in Deutschland, Australien oder den USA, sondern vielmehr die Spuren und Überreste aus jenen längst vergangenen Tagen, da griechisches Leben und griechische Kultur den ganzen Mittelmeerraum, Kleinasien und die Levante dominierten – angefangen mit der griechischen Kolonisation des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts über den Hellenismus bis zum oströmischen Kaiserreich und damit zum Ende des Mittelalters. Von dieser glorreichen Vergangenheit haben da und dort, an allen möglichen und unmöglichen Orten einige wenige Dörfer, einige hundert Leute überlebt – und mit ihnen ihre Dialekte, die immer noch unschwer als Griechisch erkannt und verstanden werden.

Drei der Reisegefährten haben die Fahrten an diese unwahrscheinlichen Orte griechischer Kultur in einem schönen, wirklich bibliophilen und zu Recht ausgezeichneten Buch dokumentiert: Du bist keine Fremde hier in Kalimera (oder auf Griko, dem süditalienischen Griechischen: Zeni sù en ise ettù 'sti Kalimera). Auf Deutsch und Griechisch parallel beschreibt der Text die Reisen von Kalabrien nach Syrien, berichtet von den Begegnungen mit den dortigen Griechen und ordnet ihre Schicksale in den historischen und sprachlichen Kontext ein. Ein ausführlicher Bildteil versammelt unspektakuläre Momentaufnahmen von ärmlichen Dörfern und ausufernden Grossstädten, von alten Kirchen und weiten Landschaften. Eine gewisse Melancholie durchweht Text und Bild, denn es sind wenige, vor allem Alte, welche Sprache und Kultur noch kennen und leben, und die jahrhundertealten Traditionen scheinen trotz Überlebenshilfe und Anstrengungen überall dem Untergang geweiht zu sein. Das gilt für die letzten Überreste der Magna Graecia (von Grossgriechenland also, den unteritalienischen Kolonien des archaischen und klassischen Griechenlands), einige Gebirgsdörfer in Kalabrien und Apulien, darunter das im Titel erwähnte Calimera, wo in den letzten Jahren die staatliche Förderung sprachlicher und kultureller Minderheiten viel Gutes getan hat, aber vielleicht schon zu spät kam. Das gilt besonders für Istanbul, von den Griechen Konstantinopel oder einfach die Stadt genannt, wo die früher nach Hunderttausenden zählende griechische Bevölkerung nach den Kriegen, Pogromen und Verfolgungen des 20. Jahrhunderts auf viertausend verstreute Seelen zusammengeschrumpft ist. Das gilt ähnlich auch für die Schwarzmeergriechen, die sogenannten Pontier, die in der Türkei und in verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken leben, und für den Sonderfall unter den Sonderfällen, das Dorf Al Hamidiyeh an der syrischen Mittelmeerküste, wo Nachfahren kretischer Muslime wohnen, die ihre Insel vor 120 Jahren verlassen haben. Einzig die grossmehrheitlich griechischsprachige Insel Zypern passt nicht ganz in dieses Schema und wird entsprechend summarisch abgehandelt.

Die Texte sind kurz, gleichsam Pinselstriche oder Impressionen. Die historischen und politischen Hintergründe wirken dabei manchmal langfädig, da hauptsächlich entsprechendes Handbuchwissen referiert wird – was zum Verständnis zwar hilfreich ist, aber oft auch etwas zufällig und anekdotenhaft. Die Faszination dieses schönen Buches liegt anderswo: in den unglaublichen Wendungen der Geschichte, die überall anklingen; im Zusammenspiel von Text und Bild; in den sehr persönlichen Berichten über Begegnungen auf der Reise, über spontane Gespräche in einem Griechisch zwischen österreichischem Akzent und byzantinischer Tradition.


Technisches: Reinhard Gassner, Kunrich Gehrer, Paul Rachbauer: Du bist keine Fremde hier in Kalimera. ZENI SÙ EN ISE ETTÙ 'STI KALIMERA. Ξένη δεν είσαι εσύ εδώ στην Καλημέρα. Thessaloniki, Ianos / Wien, Residenz, 2008. ISBN 978-3-7017-3074-2

Samstag, 1. August 2009

Sommerfilm

Peter Rüedi hat vor Kurzem in der Weltwoche (members only) die herkömmliche Definition eines Sommerweins wie immer pointiert und sprachgewaltig hinterfragt. Dennoch evoziert der Begriff gängigerweise immer noch einen jener Weissen, die wegen ihrer Frische und Leichtigkeit auch bei dreissig Grad eine gute Figur machen. An einen solchen Sommerwein habe ich kürzlich gedacht, als ich einen - um es so auszudrücken - Sommerfilm sah: Ocean’s Eleven. Die Gangsterkomödie mit Superstarbesetzung hat nichts Schweres noch Bemühtes, perlt rasant, aber immer leichtfüssig daher, die Spielfreude lacht Clooney, Pitt, Damon und Konsorten aus jeder Pore, der Plot hat Charakter, aber wenig Ecken und Kanten (was hier ein Kompliment ist). Man kann sich zwar nicht ohne weiteres zurücklehnen und den Film anspruchslos geniessen, weil man sonst die schnellen Zusammenhänge und Übergänge zu verpassen droht; aber man kann sich ohne theoretische Schwere anderthalb Stunden bestens unterhalten lassen. Einen solchen Film zu besprechen, hiesse ihn zu zerreden. Deshalb, und weil ich’s in der Ferienzeit auch mal etwas ruhiger angehen lasse, hier nur der Verweis auf zwei Webressourcen: eine kurze, nämlich den Trailer des Films; und eine lange, nämlich einen fantastischen Wired-Artikel über den Diamantenraub von Antwerpen, an den mich der Film teuflisch erinnert hat (ein bisschen weniger federleicht, da real, aber genauso atemberaubend). Es heisst, das Sequel sei etwas schwächer als das Original, die dritte Edition jedoch wieder auf ähnlichem Niveau. Ich werde mir gerne zu gegebener Zeit ein eigenes Urteil bilden.


Technisches: Ocean’s Eleven fanden wir bereits auf dem Wühltisch bei Interdiscount. Die DVD ist aber auch im ganz normalen gutsortierten Handel für wenig Geld erhältlich.

Samstag, 25. Juli 2009

Homer revisited

Es ist ein Fluch mit den Ausstellungskatalogen. Zu mächtigen Bergen aufgeschichtet warten sie hochglänzend im Museumsshop auf den geneigten Besucher. Dieser weiss: Hier findet er den aktuellen Forschungsstand von führenden Experten aufgearbeitet und dargelegt, illustriert mit qualitativ hochstehenden, grossformatigen Farbbildern der erstklassigen Exponate – und das alles zu einem höchst fairen Preis. Wer möchte da, beeindruckt und leicht ermüdet vom Ausstellungsbesuch, widerstehen? Ich nicht; oft jedenfalls. Nach dem Kauf und nach kurzem Blättern und Schmökern verstaue ich das gute Stück dann im überfüllten Bücherregal, wo es fortan vor sich hinaltert.

Doch da ich vor geraumer Zeit den Vorsatz gefasst hatte, mich beherzt der vielen Leichen im Regal anzunehmen, jener Bücher also, die ungelesen verstauben, habe ich unlängst zu einem jener monumentalen Kataloge gegriffen: zu dem der letztjährigen grossen Basler Homer-Ausstellung. Ich sollte es nicht bereuen. Zum bekannten Glücksgefühl, das mich immer befällt, wenn ich wieder einmal Philologisches oder Archäologisches lese und durcharbeite, gesellte sich ein grosses Lesevergnügen. Gliederung und Textauswahl sind souverän; die einzelnen Artikel durchwegs von jener schwer zu erreichenden, konzentrierten Kürze, welche die Lektüre gehaltvoll macht; der Katalogteil in Text und Bild nach allen Regeln der Kunst gestaltet. An Erkenntnissen und wirklichen Aha-Erlebnissen besonders reich waren die Artikel von Joachim Latacz (Spiritus Rector der Basler Ausstellung und begnadeter Didaktiker) über die Struktur der Ilias und von Martin L. West über die Überlieferung der homerischen Schriften. Da gab es zuhauf diese glücklichen, fruchtbaren Momente, wo ich gerade so viele Grundlagen und Halbwissen abrufen konnte, dass ich die Argumentationen und Schlüsse in hoher Kadenz voll nachvollziehen konnte, ohne dass sie mir banal erschienen.

Einzig ein leises Bedauern darüber schwang bei der Lektüre mit, dass ich mich in den sechs Jahren meines Philologiestudiums nie wirklich gründlich mit Homer befasst hatte. Das ist nicht nur, aber auch meine Schuld. Ich habe durchaus ein paar Bücher Ilias und Odyssee im Original gelesen, auch ein bisschen was an Sekundärliteratur, aber diese Explorationen nie vertieft. Die meisterhaften Darstellungen von Latacz, West und anderen werfen ein schwaches Licht auf die Erkenntnisse, die ich hätte gewinnen können, als ich im Vollbesitz meiner philologischen Kenntnisse war. Diesen Flow der (vor allem späteren) Studienjahre bringe ich jetzt natürlich nicht mehr hin und muss mich mit seinem Abglanz trösten.


Technisches: Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst. Hg. von Joachim Latacz, Thierry Greub, Peter Blome. München, Hirmer 2008. ISBN 978-3-777-43965-5. Leider ist der Katalog bereits vergriffen und allenfalls noch antiquarisch erhältlich.

Freitag, 17. Juli 2009

Letzte Runde in Bond-Land

Ein Meilenstein ist aus meinem Bildungsleben zu vermerken, eine bedeutende Lücke wurde endlich geschlossen: Vergangene Woche habe ich den letzten James-Bond-Film gesehen, der mir noch fehlte: You only live twice. Seit Jahren scheinen im Fernsehen nur immer wieder die gleichen mittelmässigen Machwerke wie Moonraker und A View To A Kill wiederholt zu werden, währenddem YOLT (wie die Bondianer sagen) nie zu sehen war – oder allenfalls auf einem dieser obskuren Lokalsender, die wir hier nicht kriegen. Dafür haben wir vor Ort glücklicherweise eine gutsortierte Mediathek, von wannen mir jetzt endlich Abhilfe kam. So gross das Vergnügen war, zum letzten Mal einen klassischen Bond-Film zum ersten Mal zu sehen, so wenig begeistert war ich schliesslich; und das lag vor allem an der Fabel.

Das Verbrechersyndikat SPECTRE, Stammgast in allen frühen Bond-Filmen, versucht dieses Mal, die USA und die UdSSR gegeneinander aufzuhetzen, indem es wechselnd ihre Raumkapseln vom Himmel holt. Bond soll den Weltfrieden retten, und um seine Gegner in Sicherheit zu wiegen, wird in aufwendiger Weise sein Tod fingiert. Und da fängts schon an: Mir war nun überhaupt nicht einsichtig, weshalb diese Idee ein solcher Knaller sein sollte, dass der ganze Film danach benannt werden müsste. Der Kunstgriff wird dramaturgisch nämlich überhaupt nicht ausgenützt. Und vollends an den Haaren herbeigezogen ist der seltsame Plan für die Infiltrierung der Insel der Schurken: Bond (der doch alles kann und mit jedem Gegner fertig wird) muss ein intensives Ninja-Training bestehen, dann wird er in der Tarnung eines Fischers auf die Insel gebracht, sprich: er bekommt eine Japanerperücke aufgesetzt und muss (darf) eine Inselschönheit heiraten. Bitte? Normalerweise braucht es zu einem solchen Geheimeinsatz nicht mehr als einen Tauchanzug. Schön war hingegen der dadurch ermöglichte wirklich sehr ausführliche Einblick in Japan – minutenlange Landschaftsaufnahmen und religiöse Zeremonien ohne Ende. Da wird man schon mal ein bisschen nostalgisch, wenn man an die heutige Bond-Hektik denkt.

Sean Connery verbreitet wie üblich Esprit und Grandezza, und die Chemie zwischen ihm, Geheimdienstchef Tanaka und den weiblichen Protagonistinnen ist gut. Das Drehbuch hingegen – obwohl es vom grossen Roald Dahl stammt – taugt nichts.

So enden meine Entdeckungen in Bond-Land. Zum Glück gibt es ein paar Ausgaben, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Und wenn alles nichts mehr nützt: Für 2011 ist der nächste Bond angekündigt.

Samstag, 11. Juli 2009

Kunst-KMUs

Nachlese: Nochmals Belluard, nochmals Wirtschaft. Für uns Normalsterbliche bedeutet „Wirtschaft“ ja nicht in erster Linie Optionen oder Credit Default Swaps, sondern zu einem guten Teil das Ausgeben ganz realen Geldes, sprich Einkaufen. Dazu haben wir SchweizerInnen die allerbesten Voraussetzungen: Die NZZ berichtete letztes Jahr über eine Studie, wonach die Schweiz europaweit die grösste Verkaufsfläche pro Einwohner hat. Fribourg wiederum hat (gefühlt) die grösste leerstehende Verkaufsfläche pro Einwohner. Ausserhalb der konzentrierten Shoppingviertelmeile vom Bahnhof zur Place Python schliessen laufend Läden. Fünf dieser Leerflächen hat das Belluard-Festival fünf KünstlerInnen zum Bespielen überlassen. Das Ergebnis waren anregende Versuche zum Zusammenhang zwischen Kunst und Ökonomie.

Mein Spaziergang zu diesen Läden führte zunächst mitten in die Rue de Lausanne. Im ehemaligen Benetton Uomo hatte das Wiener Duo Matsune & Subal seinen Store eingerichtet. Sie betrieben die Demokratisierung von Kunst, denn sie verkauften Mini-Performances zu absolut konkurrenzlosen Preisen. Ein freundlicher Herr sprach die Passanten auf der Strasse an und zeigte ihnen das Menu: zwei dicht beschriebene Seiten zur Wahl, unterteilt in Daily Specials, Take Away, Home Delivery, Cheap Copies und anderes. Kaum ein Preis lag über zehn Franken. Im engen Schlauch des Ladens nahmen Michikazu Matsune und David Subal – schlecht sitzende Anzüge, schlimme Krawatten, freundliches Lächeln – die Bestellung auf; man zahlte bar und kam umgehend in den Genuss der bestellten Performance. Das Publikum amüsierte sich prächtig. So lockte „Monsieur 3.50“ die ganze Kundschaft aus dem Store, in Prozession die Rue de Lausanne hinunter und zu „Monsieur 2.50“, dem Laden, in dem alles 2.50 kostet. Der Kunde durfte sich, beraten von Matsune & Subal, eines der Stücke aussuchen. Selten war Kunstfinanzierung transparenter: Vom Preis von 3.50 gingen 2.50 an den Laden, ein Franken als Honorar an die Künstler. Die Performance „A6“ (gesprochen „Aah – Sex“) war eine nicht ganz jugendfreie Variation über einen A6-Block. Ich selber bestellte für 5.90 „Double Valued“ und bin nun stolzer Besitzer der doppelten Signatur von Matsune & Subal in einem verschlossenen Umschlag, notabene ihr einziges Werk, das von beiden signiert ist.

Das Story Café zuunterst in der Rue de Lausanne übersprang ich und bog in die Rue Pierre-Aeby ein. In einem Ecklokal zeigte Anna Faroqhi Das Nötigste – Le strict nécessaire, einen gezeichneten Tante-Emma-Laden. In Vitrinen und auf Regalen standen und hingen Zeichnungen von Gütern des täglichen Bedarfs. Die Installation las sich gleichsam als Spiegel der Wareninszenierung in unseren Geschäften, die ja immer ausgefeilter und künstlerischer wird. Wunderschön die Regieanweisungen: „Wenn Ihnen ein Artikel gefällt, können Sie ihn abzeichnen und zu Hause aufhängen. Wenn ein Artikel fehlt, können Sie ihn zeichnen und aufhängen. Das Personal hält Papier und Farbstifte bereit.“

Der Berner Künstler San Keller befasste sich mit dem Kunstmarkt. (Wie elegant sich in diesem Begriff Kunst und Wirtschaft verbinden!) Seine temporären Galerie in einem kleinen, etwas abgelebten Verkaufsraum in der Grand-Rue war leer bis auf eine jener üblichen Kunst-Preislisten. Darauf waren Galeristennamen und Werktitel verzeichnet. Ausgestellt wurden hier nämlich für einmal keine Kunstwerke, sondern die Kommentare von Galeristen zu Kunstwerken – zu jeweils einem ganz bestimmten Kunstwerk. Man wählte also eine Galerie aus und hörte die Beschreibung des entsprechenden Werks. Aber es war kein simples Konsumieren: San Keller half bei der Auswahl, diskutierte die Werke, fragte nach meiner Meinung. Die ersten beiden Kommentare tönten für mich nach dem allzu bekannten Galeristen-Speak, bestätigten mich in meinem Vorurteil über Gegenwartskunst, dass dort nämlich ein zufälliges, seltsames, unerklärliches Erzeugnis durch die Expertenanalyse zum Kunstwerk geadelt wird; dass mithin das Kunstwerk ohne Kunstmarkt-Gütesiegel gar keines ist. San Keller spielte mir dann als Kontrast einen dritten Kommentar ab: Alain Kupper von Kupper Modern sprach sehr persönlich über seine Beziehung zum Künstler und zum besprochenen Kunstwerk. Hier wurde das Wechselspiel von Galerist und Künstler fühlbar, das Kunstwerk wurde auch emotional aufgeladen. Zuhause am Computer stellte ich fest, dass sich Metabetrachtungen zu Kunst, Kunstmarkt, Galerien und Museen immer wieder in San Kellers Werk finden – beispielhaft treffsicher dazu das Museum San Keller. Die Galerie San Keller ist also ein Weiterspinnen dieser Ansätze und Versuche. Passend dazu waren übrigens auch die Preise, die sich im üblichen Kunstmarkt-Kontext bewegten: Die Werkkommentare standen nämlich allesamt zum Verkauf; kaum einer kostete weniger als einen Tausender.

Der letzte Kunstladen lag unten in der Altstadt. Im ehemaligen Kiosk beim Samaritaine-Brunnen, einem kleinen, dunklen Raum, standen zwei Kühltruhen, darin Objekte aus Eis: Tiere jeglicher Art, Gesichter, ein Schlüssel, auch ein Kruzifix. Tout doit disparaître war der Name des Ladens. Die Objekte konnten für einen frei wählbaren Betrag käuflich erworben werden und schmolzen im Idealfall in der Plastiktüte auf dem Weg nach Hause. Die Plastiktüte liess sich (nehme ich an) im Haushaltkehricht entsorgen. Ein geniales Konzept: endlich ein Kunstwerk, dass nach dem Kauf nicht jahrelang Staub ansetzt, ohne dass man es fortzuwerfen wagt!

Da ich mich auf dem Rückweg noch mit der realen Ökonomie befassen, sprich meine Wochenendeinkäufe tätigen wollte, verzichtete ich darauf, in ein Eiskunstwerk zu investieren. Der Bus brachte mich zurück in die Oberstadt. Meine Erfahrung auf dem Spaziergang durch die Kunstläden war vielschichtig: Der herb-abgewetzte Charme leerstehender Läden hatte etwas Melancholisches. Die künstlerischen Bespielungen stellten intelligente Fragen und versuchten originelle Antworten. Besonders gefreut hat mich, dass das Belluard-Festival sich dorthin begab, wo die Leute sind. Der einzigartige Hauptstandort oben beim Bollwerk scheint oft etwas weg vom Schuss. Mit der neuen Schaltzentrale in der Ancienne Gare und mit den in der ganzen Stadt verteilten Läden besetzte das Festival Räume im Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gerade zum diesjährigen Thema passte das ideal.

Freitag, 3. Juli 2009

No Money, No Love

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist unbestreitbar das bisherige Thema des Jahres. Nach vielen gelehrten und weniger gelehrten Stimmen in Funk und Fernsehen nimmt sich jetzt auch das Freiburger Festival Belluard Bollwerk International des Themas an. Das mag naheliegend erscheinen, ist aber in zweierlei Hinsicht innovativ und wichtig. Einerseits hat das Belluard, soweit ich mich erinnern kann, noch nie ein thematisch so kompaktes Programm gezeigt. Anderseits ist es höchste Zeit, dass sich zu den ach so rationalen Analysten der Krise, die von ihren Hauptakteuren zum Teil schwer zu unterscheiden sind, auch Künstlerinnen und Künstler gesellen. Die Kunst als Seismograf der Gegenwart, als Erklärerin und Verarbeiterin des Weltgeschehens – das ist der hohe Anspruch, und das scheint mir bitter notwendig.

Am Mittwochabend stand der Berliner Tänzer Jochen Roller auf der Bühne des Nouveau Monde. Sein Stück No Money, No Love ist eine Art dokumentarische Tanzperformance über die ökonomischen Bedingungen des Tänzer-Seins; über die Jobs, die ein Tänzer ausüben muss, um für seinen eigentlichen Job als Tänzer zu überleben. Roller erzählte von diesen beruflichen Erfahrungen. Er analysierte am Flipchart den Wert und die Kosten von einer Minute Tanz. Er philosophierte mit Wort und Körper über den Begriff Performance – über die Performance auf der Bühne, über die wirtschaftliche Performance der bezahlten Arbeit, aber auch über die Arbeit als Rollenspiel. Denn nicht nur Jochen Roller spielt den Verkäufer, wenn er bei H&M als Verkäufer arbeitet; auch seine Kolleginnen schlüpfen in eine Rolle, verhalten und bewegen sich als Arbeiterinnen anders denn als Privatpersonen. Roller seinerseits suchte und identifizierte den künstlerischen, tänzerischen Charakter der Bewegungen in seinen Jobs: das (patentierte!) T-Shirt-Falten bei H&M entwickelte sich zu zackigem Kampfsport, das Brief-Verpacken wurde zur gymnastischen Übung, und im Call-Center, wo der Tänzer nur noch akustisch mit den Kunden interagieren muss, wurde er nebenbei, das Infrarot-Headset über den Ohren, wieder zum Tänzer.

No Money, No Love ist ein kurzes Stück; nur vierzig Minuten dauerte die autobiografisch-ökonomische Performance. Das ist an einem warmen Sommerabend sehr angenehm; trotzdem wäre ich gerne noch ein bisschen sitzengeblieben. Vieles war nur angetönt, manches hätte ich mir vertiefter gewünscht. Das wiederum passt zum Belluard: Das Festival scheint mir zwar in den letzten Jahren weniger schräg, weniger extrem avantgardistisch geworden zu sein. Pfannenfertigen Genuss serviert es dennoch keinen. Der Anspruch bleibt intellektuell. Gerade für die Positionierung als Akteur in der Diskussion zur Krise ist das unabdingbar.


Technisches: Das Belluard-Festival dauert noch bis morgen Samstag. Jochen Roller ist auch sonst regelmässig an verschiedenen Orten anzutreffen.