Freitag, 24. April 2009

Eines blauen Tages

Ein Geständnis zu Beginn: Wenn jemand als seine Lieblingslektüre „Biografien und wahre Geschichten“ angibt, fühle ich mich immer leicht belustigt – als sorge erst das Gütesiegel des wirklich Wahren für den ultimativen Kick bei der Lektüre, als sei eine „erfundene“ Geschichte nicht auch wahr, als könnten Fakten wertfrei und Fiktives losgelöst vom konkreten Entstehungskontext überhaupt existieren. Doch kürzlich verfiel auch ich wieder einmal dieser Magie des Wahren, als ich in der Bahnhofsbuchhandlung durch die Autobiografie von Daniel Tammet blätterte und mich zu einem meiner seltenen Spontanbücherkäufe hinreissen liess.

Tammet, dreissigjährig, ist ein Savant, einer jener nur fünfzig bis hundert Menschen weltweit, die eine spektakuläre Inselbegabung haben. Wie viele andere Savants leidet auch er am Asperger-Syndrom, einer abgeschwächten Form von Autismus – das bedeutet zugleich, dass er ein grosses Bedürfnis nach strikter Regelmässigkeit hat und dass ihm die soziale Interaktion Probleme bereitet, die er nur mit viel Training und Willenskraft überwinden kann. Drei Dinge machen ihn zu einem einzigartigen Fall in dieser bereits sehr einzigartigen kleinen Gruppe. Zum ersten hat Daniel Tammet nicht nur eine, sondern mehrere Inselbegabungen: Er geht mit spielerischer Leichtigkeit mit Zahlen um und löst mühelos komplexe Rechenaufgaben. Er hat ein ausserordentliches Gedächtnis. Und – das ist die wirklich seltene Kombination – er ist ein Sprachgenie. Mittlerweile beherrscht er elf Sprachen und hat unter Beweis gestellt, dass er innert einer Woche eine ihm unbekannte Sprache (zum Beispiel Deutsch) genügend lernen kann, um sich problemlos darin zu unterhalten. Zum zweiten ist er Synästhetiker: Zahlen und Daten sieht er in Farben und Formen; wenn er zwei Zahlen multipliziert, taucht ihr Produkt als Form vor seinem inneren Auge auf, und wenn er die ersten 25'000 Nachkommastellen von π rezitiert, bewegt er sich im Geist durch eine charakteristische Landschaft von vollkommener Schönheit. Und drittens, und damit kommen wir zum zu besprechenden Buch: Im Gegensatz zu den meisten anderen Savants, deren kognitive Behinderung zu stark ist, ist er fähig zu beschreiben, was er tut und wie er es tut.

So lesen wir also seine Autobiografie gleichsam als Live-Bericht aus einem einzigartigen Gehirn. Die Stellen, in denen er beschreibt, was in seinem Kopf vorgeht, sind denn auch die Essenz des Buches. Sie vermitteln uns Durchschnittsbegabten mindestens eine Idee davon, wie Inselbegabung funktioniert: Wer von Zahlen spricht wie von alten Freunden, muss im Umgang mit ihnen nicht nur keine Mühe, sondern Freude und Genuss empfinden. Und wer in einer ihm noch unbekannten Sprache so feine Nuancen wie die inhaltlichen Assoziationen bemerkt, die mit gewissen Buchstabengruppen einhergehen, wird – in Verbindung mit einem nahezu fotografischen Gedächtnis – schnell erkleckliche Fortschritte machen. Nur relativ knapp erwähnt Tammet, wie er unter seiner Krankheit gelitten, wo sie ihn zum Aussenseiter und Sonderling gemacht hat. Wer sich an die zeitweise brutale Direktheit von Kindern und Jugendlichen erinnert, kann sich vorstellen, wie jemand in Schule und Freizeit unten durch musste, der mit sozialer Interaktion seine liebe Mühe hat. Daniel Tammet scheint sich in solchen Momenten in seine innere, durchstrukturierte Welt zurückgezogen und die verständnislose Umwelt weitgehend ausgeblendet zu haben.

Zwischen diesen eindrücklichen Passagen hat das Buch gewisse Längen. Tammet erzählt sein Leben mit grossem Detail. Das verwundert nicht, erinnert er sich doch an weit mehr als andere Autobiografen; aber bei den ausführlichen Berichten aus dem Alltag hätte ich mir zwischendurch ein etwas verbindlicheres Lektorat gewünscht. Was nach der Lektüre jedoch bleibt, ist die Faszination dieser Inselbegabung – und mehr noch, vielleicht fast wertvoller: zu sehen, wie es sich hier jemand nicht auf seinem einzigartigen Talent bequem gemacht hat, sondern gerade dort, wo er alles andere als talentiert ist, nämlich im „normalen“ Leben, im Umgang mit Menschen und Unvorhergesehenem, mit grossem Einsatz um seine Selbständigkeit und seine Normalität ringt. Noch immer droht unter der geregelten Oberfläche mit jeder Abweichung vom Plan die Panik der Strukturlosigkeit durchzubrechen. Doch Daniel Tammet hat in seinem Leben Ungeahntes erreicht – und gleichzeitig erst angefangen, seine Begabung zu nutzen.


Technisches: Daniel Tammet, Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. München, Heyne, 2008. ISBN 978-3-453-64040-5. Das englische Original ist unter dem Titel Born on a Blue Day. A Memoir of Asperger’s and an Extraordinary Mind bei Hodder&Stoughton erschienen. Inzwischen hat Tammet ein zweites Buch geschrieben, Embracing the Wide Sky, das wiederum in allen seriösen Bahnhofbuchhandlungen prominent platziert ist. Eine ideale Ergänzung zur Lektüre ist der dreiviertelstündige Dokumentarfilm The Boy With The Incredible Brain über Daniel Tammet und andere Savants.

Sonntag, 19. April 2009

Sturmhöhe

Dieses Mal wollte ich mich von Cathy Marstons literarischem Ballett nicht wieder auf dem linken Fuss erwischen lassen; wollte nicht wieder erst am Tag der Aufführung auf Wikipedia oder im Programmheft hektisch die Grundzüge der literarischen Vorlage studieren, um dem Geschehen auf der Bühne einigermassen folgen zu können. Also bin ich rechtzeitig in die Buchhandlung gegangen, habe mir Wuthering Heights von Emily Brontë besorgt und mich in die Geschichte auf den windumtosten Höhen von Yorkshire vertieft. Ich gestehe: Ich hatte eine Liebesgeschichte erwartet. Tatsächlich ist die Sturmhöhe eine Leidenschaftsgeschichte, ein Beziehungsdrama, ein brutales und verlustreiches Aufeinanderprallen von Charakteren. Im Mittelpunkt dieses Orkans steht das Findelkind Heathcliff. Vom Moment an, da er vom mitleidigen Vater Earnshaw auf den Strassen von Liverpool aufgegriffen und auf sein Gut Wuthering Heights gebracht wird, ist es, als würde seine wilde Natur in allen um ihn herum die schlechte Seite ihrer Persönlichkeit ans Licht bringen: beim Adoptivbruder Hindley eine unkontrollierte Brutalität; bei Edgar Linton von benachbarten Thruscross Grange ein kultiviertes Dahinschwinden und bei seiner Schwester Isabella eine unterwürfige Faszination; beim Diener Joseph die Bigotterie – und bei Catherine Earnshaw, Heathcliffs Adoptivschwester und grossen Liebe, dieses verhängnisvolle Zuvielwollen, dieses verwöhnte Sich-nur-für-alles-zusammen-entscheiden-können, das Cathy Marston an der öffentlichen Kostprobe des Ballettabends speziell herausgehoben hat. Denn natürlich ist Wuthering Heights auch die Geschichte einer Liebe, einer sehr speziellen, wenig expliziten, nur hie und da mit einfachen, klaren Worten erläuterten Seelenverwandtschaft zwischen Heathcliff und Catherine, welche letztere ihrer Amme einmal so erklärt:

My love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath: a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff! He’s always, always in my mind: not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself, but as my own being.

Doch diese Liebe scheitert daran, dass Catherine eben auch den ruhigen, belesenen, reichen Edgar Linton liebt, und dass sie meint, beide Seiten ihrer Liebe einvernehmlich leben zu können. Heathcliff flüchtet vor dieser Zumutung, und als er nach einigen Jahren zurückkehrt, tut er dies, um leidenschaftlich, masslos und erfolgreich Rache zu nehmen an beiden Familien; an allen, die er als Hindernisse zu seinem Glück empfinden musste. Das vorsichtige, zaghafte Glück, das zum Schluss zwischen den Kindern der Protagonisten, Cathy und Hareton, aufzublühen beginnt und das Heathcliff letztlich, sterbend, nicht mehr in sein Zerstörungswerk einbezieht, kann den Schrecken nur wenig mildern.

So war mir Wuthering Heights eine bedrückende, beklemmende Lektüre, nur oberflächlich etwas geglättet durch die schöne, gewählte Sprache. Zur Tiefe, Prägnanz und Spannung trägt Brontës Kunstgriff bei, die Geschichte von Heathcliff sowohl durch den Ich-Erzähler, seinen Untermieter auf Thruscross Grange, als auch durch die alte Magd Nelly erzählen zu lassen.


Für die Inszenierung konzentrierte sich Cathy Marston auf die Beziehungen der fünf Hauptpersonen im ersten Teil des Romans, also gleichsam auf dessen Skelett: Hindley und Catherine Earnshaw, Edgar und Isabella Linton sowie Heathcliff. Die Vielschichtigkeit der Beziehungen und die Zerrissenheit der Figuren akzentuiert sie mit einem einfachen, aber wirkungsvollen Kunstgriff: mit der Aufspaltung einzelner Figuren auf mehrere Tänzerinnen oder Tänzer. Das ist ganz am Anfang etwas verwirrlich; aber schnell erkennt man die Personen in ihrem Umgang miteinander: das unbeschwerte Spielen von Hindley und Catherine, die symbiotische Beziehung von Catherine und Heathcliff, das Liebeswerben von Edgar und Catherine, die Faszination zwischen Isabella und Heathcliff. Ab und zu sind einzelne Szenen des Romans getreulich nachgezeichnet; dann wieder ist das Geschehen auf der Bühne Ausdruck der Sehnsüchte und Enttäuschungen, der Liebe und des Hasses der Protagonisten. Die Wucht des drei-, vierfachen Parallelauftretens einer Figur verleiht den entsprechenden Szenen eine jähe Intensität.

Umgesetzt ist das Geflecht in einer ausgesprochen athletischen, akrobatischen, sehr körperlichen Tanzsprache: Sprünge, Werfen, Ziehen, Stossen – der Sturm im Titel des Abends weht sehr sichtbar über die Bühne. Die Musik stammt (wie schon bei den Gespenstern) als Auftragskomposition von Dave Maric und wird live gespielt vom Kontrabassisten Mich Gerber, unterstützt durch Elektronik und Samples. Sie kreiert die Schattierungen eines akustischen Sturms, hat mich aber (wieder) weniger begeistert als der Tanz. Diskret im Hintergrund bleibt das sehr sobre Bühnenbild, das nur aus einem geflochtenen Himmel, zwei Rampen, einigen Stühlen und einem Objekt besteht, das einen Felsen und anderes darstellt und in der ergreifenden Schlussszene, die das Ende des Romans aufnimmt, zu Catherines Grab wird.

Man merkt, dass Cathy Marston aus dem Vollen schöpft; dass sie diesem Werk, welches sie endlich auf die Bühne bringt, schon lange tief verbunden ist: Der Abend wirkt wie aus einem Guss, hat keine Längen, dafür wiederholt Stellen von atemberaubender Intensität. Die Konzentration auf fünf Hauptpersonen des komplizierten, zeitweise langfädigen Dramas legt seine Essenz offen: die Beziehungen zwischen diesen inhärent konfliktreichen Persönlichkeiten. Das Bern:Ballett, vor allem „Catherine“ Jenny Tattersall, überzeugt neben der künstlerischen auch durch die athletische Leistung. Leider haben sich nur vergleichsweise wenige Tanzfreunde im Stadttheater davon überzeugt. Ich hoffe, dass die verbleibenden Aufführungen besser besucht sein werden, damit die Kreativität von Cathy Marston in Bern nicht verschwendet wird.


Technisches: Weitere Aufführungen stehen Ende April sowie im Juni auf dem Programm. Fachlich fundiertere Kritiken findet die geneigte Leserin beim Bund (verhalten positiv), bei der BZ (begeistert) sowie auf tanzkritik.net (wohlwollend kritisch).

Dienstag, 14. April 2009

Haller

Zu Beginn das Bild einer Kunstkammer, eines Bibliothekssaales also voller Kunstwerke und Kuriositäten aus der Natur; am Schluss ein Naturalienkabinett mit der geordneten Systematik der Biologie. Dazwischen liegt das 18. Jahrhundert, und dazwischen liegt die Ausstellung, welche das Historische Museum Bern jener Person gewidmet hat, die wie kaum eine zweite diesen dramatischen Übergang von einer universalen Gelehrsamkeit zur Fachwissenschaft verkörpert hat: Albrecht von Haller. Als Universalgelehrter ist er bekannt, und ein Genie war er zweifelsohne – doch zugleich hat er als Spezialist in gerade neu entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen wie der Botanik und der Embryologie deren Herausbildung entscheidend vorangetrieben. Hallers dreihundertster Geburtstag war Anlass nicht nur für umfangreiche Forschungen, Publikationen und Begleiterscheinungen, sondern auch zu dieser Ausstellung, die einem der grössten Berner seinen verdienten Platz in der europäischen Geistesgeschichte zuweist. Nachgezeichnet werden zunächst sein Werdegang, seine wunderkindliche Genialität, seine Studienjahre in Tübingen und Leiden; dann die gewaltige Fussnote seines Lebens, die Alpenreise und das Gedicht Die Alpen (das en passant der Naturbegeisterung, dem Tourismus und mithin dem Reichtum der Schweiz gewaltigen Vorschub geleistet hat); und schliesslich im Detail seine wissenschaftliche und berufliche Laufbahn.

Ich weiss um die Berner Krankheit (die sich auch im Historischen Museum von Zeit zu Zeit manifestiert), Bern für den verkannten Mittelpunkt des Universums zu halten. In diese Kategorie könnte man auch die Installation auf dem Zugang zur Ausstellung verbuchen, in der Hallers Alpen in der Reihe jener 70 Bücher präsentiert werden, welche nach Dietrich Schwanitz die Welt am meisten verändert haben – allein, es ist tatsächlich etwas spezifisch Bernisches an Haller. Denn der grosse Gelehrte, der sich selber und seiner jungen Universität Göttingen im jungen Alter Weltruhm verschafft hatte, der durch Sektion, Tierversuch und Analyse Wegweisendes entdeckt und sich mit den grossen Wissenschaftlern seiner Zeit darüber ausgetauscht hat – dieser Haller kehrte 1753 ins patrizisch-verkrustete heimische Bern zurück, um dort zunächst als Rathausamtmann, dann als Salzdirektor zu amten. Nicht abgebrochen ist darob in all den Jahren seine wissenschaftliche Kreativität und seine chalkenterische, übermenschliche Schaffenskraft: Fünfundzwanzigtausend Seiten wissenschaftliche Artikel, fünfzehntausend Briefe an Korrespondenten aus ganz Europa, neuntausend Rezensionen (Angaben aus der Ausstellung, Wikipedia kennt noch mehr), zusätzlich zehn dicke Bände kommentierte Bibliografie der gesamten Medizin und Botanik hat Haller verfasst – ein Brief pro Tag, mehr als eine Artikelseite, alle zwei Tage eine Rezension, sein gesamtes Gelehrtenleben lang. Noch in dessen letzten Zügen, als er, von Krankheit geplagt, seine Schmerzen mit Opium bekämpfen musste, beobachtete er mit unverändertem Interesse die Auswirkungen der Droge und hielt sie in Publikationen fest.

Im Kubus, dem neuen, modularen Ausstellungsraum des Historischen Museums, wurde Haller mit grossem Gestus inszeniert: eine eiskathedralenartige Halle für die Alpenreise, ein Spiegelsaal für das fürstliche Göttingen, warme Farben für das heimelige Bern. Die Ausstellung war didaktisch von gewohnter Qualität und vermittelte ein faszinierendes, mir in dieser Art nicht vertrautes Gesamtbild der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts. Aus der wie üblich gutsortierten Museumsbuchhandlung erwarb ich zum abrundenden Weiterlesen das Werk, das in Hallers reichem Wissenschaftsleben fast unterzugehen droht und doch (Schwanitz dixit) von so eminenter Bedeutung war: Die Alpen.


Technisches: Ich kann eine gewisse Schlampigkeit beim Museumsbesuch nicht abstreiten. So habe ich mich auch hier erst eine Woche vor Schluss aufraffen können und komme mit der Rezension einmal mehr zu spät.

Donnerstag, 9. April 2009

Invektiven aus der Immunologie

In der letzten Weltwoche [kein Link, da die Seite meinen Browser zum Absturz bringt] versuchte der Berner Immunologe Beda M. Stadler eine Debatte zu provozieren, indem er der universitären Theologie ihren Status als Wissenschaft aberkennen wollte. Nun sollte, wer anderen fehlende Wissenschaftlichkeit vorwirft, mindestens seine eigenen Fakten präzise auf die Reihe kriegen – sollte also beispielsweise wissen, dass es in der Schweiz acht, nicht fünf, theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten gibt und dass die Fächer Religionswissenschaft und Theologie nicht dasselbe behandeln. Bei dieser Unkenntnis (oder Übersimplifizierung) des Themas wird das nichts mit der Debatte. Aber Beda M. Stadler ist ja, wie wir schon anlässlich seiner Invektiven gegen Rauchverbote und für Offroader gesehen haben, ohnehin mehr an Anekdoten und Polemik interessiert. Warum ich jedoch mit meinen Abo-Gebühren statt harter Reportage solch faktenfreie Selbstfindung mitfinanzieren soll, ist mir schleierhaft.

Sonntag, 5. April 2009

Blühende Kimjongilien

Wer meine Theaterberichterstattung mitverfolgt, wird gemerkt haben, dass ich keinen besonders avantgardistischen Geschmack habe: Ich gehe gerne in die grossen Häuser und sehe mir Klassiker an (wobei die – ich denke an griechische Tragödien – durchaus weiterhin avantgardistisch sein können). Entsprechend bin ich bei Besuchen in der freien Szene häufig leicht überfordert. So geschehen, als das Berner Schlachthaus kürzlich eine Annäherung an die Persönlichkeit des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il zeigte: Der ewige Sohn. Ein fragmentarisches Stück, eine Collage aus offiziellen Verlautbarungen, Geschichtsbüchern, Reiseberichten und literarischen Texten; und die Collage setzte sich auch im Bühnenbild fort, einer Ansammlung von Stühlen, Fernseher, Hochsitz, Musikanlage, Lampen, Stromgitarre, Propagandapostern und anderen Objekten in der alten, wuchtigen Leere des Schlachthauses. Drei Figuren agieren und bringen temporär Ordnung in dieses Durcheinander. Eine zusammenhängende Geschichte, ein roter Faden sind kaum erkennbar – und das wäre auch erstaunlich, gibt es doch in der allentdeckten Welt der Gegenwart wenige Orte, die uns so mysteriös, befremdend und unbekannt sind wie Nordkorea und sein seltsamer Herrscher. Aus seltenen Reportagen und jenen Pressecommuniqués, die urkomisch wären, wäre die Situation nicht so bedrückend, fügt sich uns ein lückenhaftes Bild eines Landes zusammen; und der Schritt von diesem inszenierten, theaterhaften Land zu seiner Analyse mit den Mitteln der Bühne durch die Gruppe FAX AN MAX ist ein kleiner.

Vielleicht muss man, um das Stück zu verstehen, bei den Details ansetzen, bei einzelnen Einfällen und Szenen – so beim Vaterkomplex. Im Titel und in einigen kurzen Wortwechseln ist dieser Erklärungsversuch des Phänomens Kim Jong Il angedeutet. Wir „normale“ Söhne „normaler“ Väter können die Komplexität dieser Beziehung nur erahnen, wenn der Vater der personifizierte Held seines Volkes ist und der kleingewachsene, etwas linkische Sohn ihm nachfolgen muss. Umso eindrücklicher fand ich die auf den beiden überlebensgrossen, gemalten Porträts auffallende Ähnlichkeit von Vater und Sohn Kim. Oder ein anderer Ansatz: die Monarchie. Denn tatsächlich ist es ja eine absolute Monarchie, die im Arbeiterstaat Nordkorea herrscht. Entsprechend wird Kim im Stück als König angesprochen, und bezeichnend ist das Sprachbild, dass er sein Land, sein Volk nicht führt oder beherrscht, nein: Er ist das Land, er ist das Volk.

Mir gefällt die Idee von einem Stück wie Der ewige Sohn als Blick ins Atelier eines Steinmetzen. Einzelne Schläge führen in Richtung eines Gesamtbildes, Details werden sichtbar, Konturen zeichnen sich ab und fallen auf. Gefragt, was er sehe, könnte jeder guten Gewissens etwas anderes sagen; erfahrene Werkstattbesucher mit etwas mehr Überzeugung. Den Unerfahrenen lüften solche Stücke den Kopf aus und deuten an, was mit dem Vokabular des Theaters auch noch möglich wäre.


Und noch eine Ergänzung aus der Regie: Das hier ist der hundertste Post auf Phemios Aoidos. Dass er in eine sehr aktive Blog-Periode fällt, freut mich besonders. In diesem Stil und Rhythmus soll es weitergehen.