Samstag, 27. Juni 2009

Soeur Sourire

Die letzten Wochen auf diesem Blog waren etwas religiös geprägt. Und jetzt also noch ein Film über Soeur Sourire, die belgische singende Nonne der sechziger Jahre? Aber gemach – es ist weniger ein religiöser Film als die frei nacherzählte Geschichte einer Frau auf der beschwerlichen Suche nach ihrem Platz im Leben. Wenn man die Protagonistin, die junge Jeanine Deckers, in den ersten Einstellungen in der Pfadi am Fussballspielen sieht, im Unterhemd und mit burschikosem Kurzhaarschnitt – und dann am Familientisch, zwischen dem Vater, dem massigen, stillen Einzelkämpfer in seiner Bäckerei, und der herrischen Mutter mit der strengen Frisur, fühlt man die Bedrückung geradezu körperlich. Der Ausweg dieser energiegeladenen Frau aus ihrem perspektivenlosen Leben geht nicht ohne Türenknallen und führt sie geradewegs ins Kloster. Ihre Motivation dazu bleibt im Film seltsam unscharf, wenn auch ihre Frömmigkeit und Ernsthaftigkeit ausser Zweifel stehen. Jedenfalls ist es eine Flucht vom Regen in die Traufe, denn der freudlose Gehorsam, der ihr im Konvent anexerziert wird, wird der vor Ideen und Plänen sprühenden Jeanine ebenso wenig gerecht wie das rigide Elternhaus. Die junge Nonne blüht erst wieder auf, als sie sich über die Musik ausdrücken und junge Leute bei Einkehrtagen begleiten darf, wo sie ihre Kontaktfreudigkeit und ihren missionarischen Eifer ausleben kann. Dann schlägt gewissermassen die Bombe ein: Ihr selbstgeschriebenes Trällerliedchen Dominique kommt einem übermotivierten Jungpriester zu Ohren; er kann die Mutter Oberin überzeugen, eine Platte herauszubringen; und die Single schlägt alle Erwartungen und Rekorde, sogar die Beatles. Das klösterliche One-Hit-Wonder bringt jedoch die alten Gegensätze zum Ausbruch: Währenddem die junge Nonne in ihrer missionarischen Begeisterung den Schwung der überraschenden Publicity nutzen möchte, versucht die Oberin jeglichen Personenkult im Keim zu ersticken. Wieder lässt sich der Konflikt nur durch Flucht lösen, durch Flucht aus dem Kloster. Und wieder taumelt Jeanine direkt ins nächste Fiasko. Auf einer Kanada-Tournee, die ihr ein findiger Impresario organisiert hat, wird überdeutlich, dass die Fanmassen zur Hauptsache vom Phänomen der singenden Nonne Soeur Sourire angezogen waren, nicht von Jeanine Deckers oder gar ihren Liedern. Mit neuen, kirchenkritischen Songs (so dem frechen La pilule d’or) vergrämt sie zudem ihr katholisches Kernpublikum. Die Katastrophe ist total. Endlich, an diesem Tiefpunkt, flüchtet sie nicht mehr; erkennt ihren Platz im Leben an der Seite ihrer Jugendfreundin Annie Pécher, welche sie in all den Jahren, teils ganz nah, teils aus der Ferne beständig begleitet hat. Die ewig suchende, flüchtende Jeanine Deckers kommt endlich an; und in bewusster Abweichung von der wahren, traurigen Geschichte gönnt ihr der Film ein gelöstes, versöhnliches Ende. Selbst der gemeinsame Freitod mit ihrer Lebensgefährtin wird nicht als Verzweiflung, sondern ganz ruhig als Befreiung geschildert.

Was mich beim Anschauen dieses bewegenden Films beeindruckt hat: Soeur Sourire steht stellvertretend für jenen ganz kurzen Moment in der Geschichte der katholischen Kirche, als die Tür zur Moderne offen stand; als Kirchenleute – neben Soeur Sourire erinnert man sich beispielsweise an den Jesuiten-Chansonnier Aimé Duval – die Sprache ihrer Zeit zu sprechen begannen und damit ein breites Publikum erreichten und faszinierten. Die Tür war, wie man weiss, bald wieder zu. Nur vierzig Jahre später wirkt das alles so fremd und sonderbar wie aus einer längst vergessenen Zeit, und lässt sich die damalige Begeisterung kaum mehr nachvollziehen. Diejenigen, die seinerzeit die Lieder von Soeur Sourire nachsangen und im vorsichtigen kirchlichen Aufbruch Haupt- und Nebenrollen spielten, sind jetzt pensioniert und müde; und wer damals zu jung war, um den Aufbruch mitzuerleben, ging der Kirche auf ihrem Weg ins Reservat der reinen Lehre in der Regel verloren. So scheint es beinahe surreal, dass Soeur Sourire 2009 zur Hauptfigur eines Kinofilms und vom belgischen Jungstar Cécile de France verkörpert wurde. Dass der Film selbst in der einstigen katholischen Zitadelle Fribourg schon nach einer Woche ins Vorabendprogramm des kleinsten Saales verschoben wurde, wo sich neben mir gerade noch fünf andere Interessierte verloren, ist seinerseits bezeichnend.


Technisches: Ob der Film in der Deutschschweiz auch in die Kinos kommt, weiss ich nicht. Hier in der Romandie ist er gerade noch in ein paar Landkinos zu sehen.

Montag, 22. Juni 2009

In den Abgründen des Kalten Krieges

Man würde sich wünschen, dass alles nur ein Thriller wäre, klug komponiert, zeitlich und geografisch breit gefächert, vielleicht aus Gründen der Dramatik da und dort etwas überspitzt. Aber leider ist es eine historische Dissertation, vierhundert Seiten stark, dazu 40 Seiten Anmerkungsapparat, ursprünglich auf Englisch bei Routledge veröffentlicht, bereits in sieben europäische Sprachen übersetzt und jetzt auch noch ins Deutsche, die Muttersprache des Autors Daniele Ganser: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Der Basler Historiker geht darin den Spuren jener geheimen Streitkräfte nach, die nach dem Zweiten Weltkrieg in allen NATO-Länder als Stay-behinds eingerichtet wurden; als von der regulären Armee unabhängige Spezialtruppen also, die im Fall einer sowjetischen Invasion im besetzten Gebiet verbleiben, als Guerilla den Widerstand aufnehmen, Nachrichten beschaffen, Personen in Sicherheit bringen und Sabotageakte durchführen sollten. Diese Truppen trugen bald blumige (Gladio), bald nüchtern-codierte Namen, verwendeten weitgehend die gleiche Funkinfrastruktur und waren miteinander durch verschiedene Koordinationsgremien vernetzt.

Ganser arbeitet die militärische Logik dieser Geheimarmeen gut heraus: Die Angst vor einer Invasion aus dem Osten war gross, und man wollte nicht wieder (wie im Zweiten Weltkrieg gegen Hitlerdeutschland) überrascht werden, um dann den Widerstand gegen den Eroberer gewissermassen improvisieren zu müssen. Dass die sukzessive Aufdeckung dieser verdeckten Strukturen ab 1990 trotzdem zu einem Skandal führte, hat zunächst damit zu tun, dass jegliche parlamentarische Kontrolle über die Geheimarmeen fehlte und in der Regel nur ausgewählte hohe Exekutivmitglieder eingeweiht waren. Die nationale Souveränität über die eigene Verteidigung wurde dabei oft geritzt und gelegentlich schlicht ignoriert, da US-kontrollierte Institutionen innerhalb der NATO die Kontrolle über die Stay-behinds ausübten und die Kommandogewalt zum Teil ausdrücklich bei amerikanischen Generälen lag. So erklären sich der Aufschrei der Empörung in den hintergangenen nationalen Parlamenten und die Tatsache, dass ein guter Teil der vorliegenden Analysen auf Arbeiten parlamentarischer Untersuchungskommissionen beruhen.

Richtig unangenehm wird die Lektüre von Gansers Buch jedoch, wenn klar wird, welchen Schaden an der Demokratie der strikte, paranoide Antikommunismus angerichtet hat, der diesen Geheimarmeen wesentlich zugrunde lag. Das fing an mit der Rekrutierung ihrer Mitglieder – denn wo konnte man sicherer sein, Leute mit unerschütterlich antikommunistischer Gesinnung zu finden, als in rechtsextremen und faschistischen Kreisen? So wurde der deutsche Kriegsverbrecher General Reinhard Gehlen, der sich zahlloser Grausamkeiten gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen schuldig gemacht hatte, dank seiner Informationen und seines Netzwerkes Chef des ersten deutschen Geheimdienstes und Vater der deutschen Geheimarmee. Andere Nazis wie Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, wurden als Informanten rekrutiert und bei Gefahr oder Problemen gedeckt und beschützt. Die faschistoiden Diktaturen in Spanien und Portugal dienten derweil als Austausch- und Rückzugsort für rechtsextreme Geheimagenten aus ganz Europa. Und weil die Paranoiker in den NATO-Führungsetagen im Kalten Krieg die rote Gefahr nicht nur in den Armeen des Warschauer Paktes witterten, sondern mehr oder weniger auch in allen, die im demokratischen System des Westens links der Mitte politisierten, war es eigentlich nur folgerichtig, dass die ursprünglich als Partisanentruppen gegründeten Geheimarmeen auch für den verdeckten Kampf gegen linke Parteien und Gruppen eingesetzt wurden. In Italien fand Richter Felice Casson ab 1984 heraus, dass mehrere Terroranschläge in den „bleiernen“ sechziger und siebziger Jahren, für welche die linksextremistischen Brigate Rosse verantwortlich gemacht worden waren, in Wahrheit von rechtsextremen Gruppen verübt wurden, die zur Gladio-Geheimarmee gehörten oder mindestens durch die Gladio-Strukturen gedeckt waren. Gladio war in Italien auch für die Vorbereitung zweier (nicht ausgeführten) Staatsstreiche 1964 und 1970 verantwortlich. So sorge die Stay-behind für Angst und Schrecken und übte gleichzeitig subtilen Druck auf die linken Parteien aus. In Griechenland waren ab 1944 zunächst die kommunistischen Partisanen der ELAS, später dann die verschiedenen Parteien links der Konservativen mit amerikanischer Hilfe und unter anderem durch die NATO-Geheimarmee Hellenic Raiding Force bekämpft worden. Als die Stärke der Linken in mehreren Wahlen nicht entscheidend ab-, sondern eher noch zunahm, griff die Hellenic Raiding Force zum ultimativen Mittel des Staatsstreiches: Nach dem Putsch vom 21. April 1967 etablierte sich für sieben Jahre eine brutale, rechtsnationalistische Militärdiktatur. Und in der Türkei bestand die NATO-Geheimarmee nicht nur aus den paar Dutzend bis Hunderten Widerstandskämpfern, wie in den übrigen Ländern, sondern nahm ganz andere Dimensionen an und wurde zu jenem „tiefen Staat“, der mittels wiederholter Staatsstreiche, Militärregierungen und Repressalien gegen die Minderheiten der Kurden, Armenier und Griechen die Nachkriegspolitik des Landes entscheidend prägte.

Neben den Extremfällen Italien, Griechenland und Türkei wurden auch in anderen NATO-Staaten mindestens Vorbereitungen für illegale Aktivitäten gegen kommunistische und linke Parteien getroffen. Daniele Ganser hat in mühsamer Kleinarbeit die bekannten Fakten zum Stay-behind-Netzwerk der NATO zusammengetragen. Die Quellenlage ist naturgemäss dürftig. So machen journalistische Berichte und parlamentarische Untersuchungen einen grossen Teil des Rohmaterials aus, währenddem echte, deklassifizierte Geheimdienstdokumente nur in glücklichen Ausnahmefällen zur Verfügung stehen. Deshalb bleibt vieles im Vagen, und der Autor muss sich an einzelnen Stellen spürbar zurückhalten, um nicht Unbestätigtes auch zu den Resultaten seiner Untersuchung zu schlagen. In Anbetracht der gefestigten Fakten fällt es tatsächlich schwer, nicht zum Verschwörungstheoretiker zu werden. Der Ruf nach weiterer Forschung, der in den Vor- und Nachworten erhoben wird, ist absolut gerechtfertigt.

Leider wird die Lektüre dieses wichtigen Werkes durch ein sehr nachlässiges Lektorat unnötig erschwert. Natürlich darf man von einer Dissertation keine literarischen Qualitäten erwarten. Aber über den vielen Einzelbetrachtungen der NATO-Länder, die fast den Charakter eigenständiger Artikel annehmen, geht bisweilen die Leserführung durch das Gesamtwerk verloren. So werden Institutionen und Akteure der Zusammenarbeit halbherzig neu erklärt, obwohl sie zuvor schon eingeführt wurden, und nützliche Querverweise fehlen praktisch vollständig. Der Autounfall von Susurluk 1996 beispielsweise, der bei der Aufdeckung der Geheimarmee-Strukturen in der Türkei eine wesentliche Rolle spielte, kommt bereits in der Einleitung auf p. 50 zur Sprache und wird auf p. 367 beiläufig erwähnt, bevor er auf p. 374 ausführlich beschrieben und eingeordnet wird, ohne dass auf die früheren Stellen Bezug genommen wird. Verwirrung herrscht auch bei gewissen Namen. Der 1954 mit CIA-Beihilfe weggeputschte guatemaltekische Präsident Jacobo Arbenz Guzmán heisst auf p. 66 Jakobo Arbenz, auf p. 106 Arbanez und auf p. 120 Alvarez. Der CIA-Offizier Thomas Karamessines (p. 125f., 337) wird zunächst standhaft als Karamessiness (pp. 101, 108, 122) eingeführt, was zudem seine im Kontext nicht unwesentliche griechische Herkunft verschleiert. Ein aufmerksameres Lektorat hätte auch Übersetzungsfehler wie „11th du Choc“ (als Abkürzung für das unter wechselnden Namen firmierende französische Spezialregiment 11e demi-brigade parachutiste du choc) korrigiert und sprachliche Holperer wie das verunglückte Zitat auf p. 299 oben geglättet.

Man muss diese Unzulänglichkeiten in Kauf nehmen, um sich in die gleichermassen faszinierenden wie empörenden Abgründe westlicher Politik im Kalten Krieg zu vertiefen. Daniele Ganser arbeitet den fragmentarisch zerstreuten Wissens- und Forschungsstand auf und bietet eine souveräne Rundumsicht. Beunruhigend ist, was noch fehlt: War beispielsweise die Schweizer Geheimarmee P-26 mit dem NATO-Netzwerk stärker als nur durch gemeinsame Ausbildung verknüpft? Und welche Strukturen traten denn wohl an die Stelle all dieser Geheimarmeen, als sie Anfang der neunziger Jahre unter öffentlichem Protest aufgelöst wurden? Man wünscht Daniele Ganser einen langen Atem und viel Hartnäckigkeit für seine weiteren Arbeiten.


Technisches: Daniele Ganser, NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten Roth. Zürich, Orell Füssli 2009. ISBN 978-3-280-06106-0.

Samstag, 13. Juni 2009

Zeit der Orden

Gewissermassen als Nachlese zum grossen historischen Bildband über Klöster und Orden habe ich ein schmales Büchlein von Johann Baptist Metz gelesen, das eine Frage zum Titel hat: Zeit der Orden? Metz, einer der wegweisenden katholischen Theologen der Gegenwart, Begründer der neuen politischen Theologie und Lehrer einer ganzen Generation von Theologietreibenden, stellte diese Frage bei einem Vortrag vor der Vereinigung der Deutschen Ordensoberen, und die Zeit, die er ansprach, war die damalige Gegenwart, Mitte der Siebziger Jahre; die Zeit also, in welcher die katholische Kirche, noch beschwingt durch ihren zaghaften Aufbruch in die Moderne am Zweiten Vatikanischen Konzil, aber zugleich konfrontiert mit einer zunehmend unkirchlichen Gesellschaft, sich in der Welt neu zurechtzufinden versuchte. Im Vortrag und im Buch analysiert Metz die Rolle, welche die Orden dabei spielen könnten, spielen müssten. Er geht dabei von der Prämisse aus, dass die Orden durch die Radikalität ihrer Lebensweise ganz wesentlich Mahner, ja „Schocktherapeuten“ der Kirche sind. Schon immer nämlich – das hat mir auch Kristina Krügers Buch wieder deutlich gezeigt – waren Orden und Klöster eine Antwort auf innerkirchliche Probleme mit verkrusteten Strukturen und veralteten Vorstellungen, und waren Ordensleute scharfe Ankläger ebendieser Phänomene des wohligen Sich-Einrichtens in einem sehr weltlichen Umfeld. Metz zeigt auf, dass dies kein Zufall, sondern ihre wesentlichste Funktion ist, und dass sie aus ihren besonderen Voraussetzungen stammt. Ordensleute haben keinen Besitz zu verlieren, sind an keinen Menschen gebunden, sind im Grundsatz radikaler, weil sie ihr Leben in den Dienst einer höheren Sache stellen, weil sie selber zurücktreten vor dem, was sie als eigentlich wichtig erachten.

32 Jahre später hat sich die Situation der katholischen Kirche in der westlichen Welt dramatisch verschärft. In unseren Gesellschaften bricht ihre Basis massenhaft weg (wovor Metz ausdrücklich warnte), und was noch blüht, sind bald allein die frömmlerischen Grüppchen und Traditionalisten jeglichen Couleurs bis hin zu jenen rückwärtsgewandten Ultraorthodoxen, die die Diskussion der letzten Monate beherrschten. Wollte Metz heute die Rolle und Aufgabe der Orden in der Kirche analysieren, bräuchte er in seinem Buch kaum ein Wort zu ändern. Er müsste seine Analyse einzig noch etwas zuspitzen. Von wem sonst sollte denn heute der radikale Impuls ausgehen, den die katholische Kirche braucht, um nicht weltfremd im Ghetto zu verschwinden? Doch nicht von den immer mehr zu Laufbands-Sakramentsspendern herabgewürdigten, alternden Priestern, die einsam ihre Altäre abklappern und scharf gemassregelt werden, wenn sie aufzumucken wagen; und auch nicht von den kirchlich engagierten Laien mit und ohne Amt, die zusehends brüskiert und hinausgeekelt werden. Nein, es sind die Orden, in ihrer Gemeinschaft geborgen, traditionell international vernetzt und in ihrem Charisma verwurzelt, die noch am ehesten neue Wege aufzeichnen könnten. Besonders gilt, dass Orden für sich in Anspruch nehmen können, was Metz „kirchliche Autorität“ nennt – denn diese legitimiert sich durch religiöse Kompetenz, und „das Kriterium für diese religiöse Kompetenz kirchlicher Autorität steht nicht zur Disposition; es liegt fest: es heisst 'Nachfolge'. Aus radikaler Nachfolge erwächst religiöse Kompetenz.“ (p.75f.) So hätten die Orden insbesondere die Autorität, berechtigt und unerschrocken Kirchenkritik zu üben, auf Missstände aufmerksam zu machen und den Finger in die Wunde zu legen. Metz skizziert einen möglichen Punkt: Die Orden sollten eigentlich die schärfsten innerkirchlichen Kritiker des priesterlichen Pflichtzölibats sein – wenn sie nämlich die Verpflichtung zur Ehelosigkeit als ihre spezielle Eigenschaft begreifen, die ihre spezielle Rolle begründet und befördert, können sie die vorgeschriebene Ehelosigkeit der Priester ja nicht anders denn als Verwässerung dieses Charakteristikums interpretieren. Das wäre dann originelle, quergedachte innerkirchliche Kirchenkritik mit Sprengkraft.

Und weil es ihnen nie um sich selber geht, sondern immer um die Sache, um die Kirche – so Metz –, brauchen Orden auch nicht krampfhaft an Erstarrtem und Veraltetem festzuhalten. Richtig verstanden, ist selbst ihre eigene Existenz kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie haben das Potential, sich in ihrem Einsatz zu verbrauchen; zu verschwinden, ohne dies als persönliche Niederlage oder gar Schmach empfinden zu müssen. So können sie mehr wagen, mit grösserem Einsatz und Risiko die Nachfolge antreten. Dies ist für Metz der zentrale Begriff. An ihm muss sich sämtliche Aktivität messen lassen, die sich christlich nennt. Das Christentum ist in diesem Sinn eine praktische Religion: zu wissen, wie ein christliches Leben aussehen sollte, reicht nicht; man muss es auch leben. Man kann das Christsein nicht delegieren. Metz erwartet viel von den Ordensleuten. Aber seine Anfragen, seine Anforderungen stellt er nicht delegierend nur an sie, sondern an alle Christinnen und Christen. Die Zeit drängte, schon damals. Sie drängt erst recht heute. Dieses Drängen, dieses Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, dass Hilfe nottut, dass man sich nicht bequem im Diesseits einrichten kann: das war von Anbeginn an und bleibt weiterhin die Essenz des Christentums.


Technisches: Johann Baptist Metz, Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge. Freiburg, Herder 21997. ISBN 3-451-17724-2. Antiquarisch erhältlich z.B. via Amazon.

Freitag, 5. Juni 2009

Sentier des champs a capella

Wer sich durch die Kategorien dieses Blogs klickt, stellt schnell fest: Von Literatur ist viel die Rede (vor allem in letzter Zeit), von Tanz und Theater auch regelmässig, von Musik aber so gut wie gar nie. Der Eindruck täuscht nicht. Tatsächlich gehe ich sehr selten ins Konzert und weiss dann in der Regel auch nicht so recht, was darüber zu schreiben wäre. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir bei Tanz und Theater auch als Dilettant eine Meinung zutraue, währenddem ich mir bei der Musik bewusst bin, dass es ein grosses Wissen und breite Erfahrung braucht, um einigermassen haltbare und sinnvolle Kommentare machen zu können. Aber da es hier unter anderem auch um learning by doing geht, versuche ich ein paar Notizen zu einem Konzert, auf das ich letzte Woche vollends zufällig gestossen bin. In der Kirche St-Jean in Fribourg präsentierte das Ensemble Sobalte unter der Direktion von Nicolas Reymond ein Programm mit dem Titel Sentier des champs a capella. Der junge Chor deklariert sich als Elite-Laien-Ensemble, und diesen Anspruch unterstreicht ein Blick auf sein aktuelles Programm ohne weiteres. Gesungen wurden nämlich geistliche und weltliche A-Capella-Stücke aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und es braucht einiges an Stimmsicherheit und Erfahrung, um die ungewöhnlichen Akkorde und die magischen Dissonanzen zum Beispiel des Magnificats von Arvo Pärt auszuhalten, zu gestalten und klingen zu lassen. Das Ensemble und sein fast verlegen junger Dirigent waren dieser Herausforderung bestens gewachsen. Stimmgewaltig und aufmerksam, in wechselnden Formationen und mit einigen leuchtenden Soli führten sie von Britten über Poulenc und Rutter zu Ravel. Um auf meine Eingangsbemerkung zurückzukommen: Musik hat gegenüber Theater und Literatur den beglückenden Vorteil, dass sie leichter auch ohne Hintergedanken einfach genossen werden kann.


Technisches: Sobalte arbeitet projektweise. Für den Advent 2009 ist ein John-Rutter-Abend angekündigt, für den Herbst 2010 ein Programm mit englischen Werken des 20. Jahrhunderts.