Samstag, 25. September 2010

Das Fell der Trommel

Wer plant, etliche Stunden an Bord von Fähren sowie an einsamen Stränden zu verbringen, rüstet sich besser mit ausreichend Ferienlektüre aus. Meine Wahl fiel diesen Sommer auf Matutin von Arturo Pérez-Reverte, das dickste Buch auf dem Stapel der Leihgaben meiner Freundin L., und ich habe die Lektüre sehr genossen. Eine Warnung sei einleitend jedoch angebracht: Wie es der Titel andeutet, ist dies gewissermassen ein katholischer Krimi, und wer die religiösen, aber vor allem politischen Ränkespiele innerhalb der römischen Kurie irrelevant oder uninteressant findet, den wird Matutin passagenweise arg langweilen. Denn das Buch bezieht seine Spannung zu einem grossen Teil aus dem Zusammenprall ebendieser Intrigen mit der Realität der Gläubigen draussen in der Welt. Sein Held Lorenzo Quart ist Priester und Agent des päpstlichen Geheimdienstes, einer Institution, für die „christlich“ ein äusserst unpassendes Adjektiv ist. Er wird nach Sevilla geschickt, um eine beunruhigend-kuriose Geschichte aufzuklären: Mitten in der Stadt soll eine zerfallende Kirche abgerissen werden, die von einem alten Pfarrer und einer kleinen Schar treuer Gläubigen verteidigt wird – und sich offenbar durchaus auch selber zu wehren weiss; jedenfalls sind in letzter Zeit gleich zwei Menschen auf etwas verdächtige Weise in der Kirche zu Tode gekommen. Die Geschichte ist dem Heiligen Vater höchstpersönlich zu Ohren gebracht worden, via Nachricht eines Hackers (Deckname Matutin) in seinem Privatcomputer, und deshalb soll nun der beste Mann des Vatikans sich vor Ort umsehen.

Das tönt alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, ich weiss, und ist es auch: Die Suche nach dem Hacker, die dem Buch Titel und Plot gibt, erweist sich letztlich als nebensächlich. Dies ist kein Whodunit. Es ist vielmehr (auf der grossen, duftigen Bühne von Sevilla) ein fein orchestriertes Ballett einer ziemlich bunten Truppe. Die alte Kirche von Nuestra Señora de las Lagrimas verbindet sie alle: diejenigen, die sie abreissen wollen – den hinterfotzigen Erzbischof und einen unappetitlichen Emporkömmling von Banker samt Faktotum –, und diejenigen, die sie bewahren und umsorgen: den rebellischen Padre Ferro und seine Mitstreiter, zu denen neben Vikar und Restauratorin auch Macarena Bruner, die Nicht-mehr-wirklich-Ehefrau des Bankers gehört. Und da man sich in einem historischen Ambiente bewegt, treten zu diesen Protagonisten in einer Parallelhandlung auch zwei unglücklich Liebende aus ferner Vergangenheit. Pérez-Reverte folgt Lorenzo Quart durch die Strassen und Paläste von Sevilla, konfrontiert ihn mit diesen Akteuren, sieht ihn da und dort einen Faden des Verständnisses erhaschen und vergeblich zu verknüpfen suchen, lässt ihn langsam das Vertrauen gewisser Personen und die Feindschaft von anderen finden. Letztlich wird nichts aus der wissenschaftlich korrekten und bürokratisch distanzierten Aufklärung: Der bei Bedarf skrupellose Priester, der seine Masshemden mit Priesterkragen trägt wie ein Ritter seine Rüstung, verwickelt sich selber mit Kopf und Herz in den Fall, den er untersuchen sollte; und das Schicksal der alten Kirche wird zu seinem eigenen.

Das alles entfaltet Pérez-Reverte fein und dennoch farbig, mit grosser Lust am Erzählen. Zu bunt ist ihm einzig das Möchtegern-Ganoventrio geraten, das im Auftrag des Sekretärs des Bankers in die Geschichte eingreifen soll und wie eine wandelnde Anhäufung von Klischees daherpromeniert. Wie er aber die Diskussion über die Rolle der Kirche in der Welt und die Auseinandersetzung mit den quälenden Schatten der Vergangenheit von Padre Ferro, Lorenz Quart und Macarena Bruner zusammenbringt, ist von einer weisen Intensität.


Technisches: Arturo Pérez-Reverte, Jagd auf Matutin. Roman. Aus dem Spanischen von Claudia Schmitt. München, btb 2007. ISBN 978-3-442-73721-5. Das Original ist 1995 unter dem (viel passenderen) Titel „La piel del tambor“ in Madrid bei Alfaguara erschienen (ISBN 978-84-204-7206-5).

Dienstag, 21. September 2010

Zum Davonlaufen

Die Weltwoche hat zum zweiten Mal ein Ranking aller Schweizer Gemeinden erstellt (Artikel online nicht frei zugänglich). Siegerin, wie schon letztes Jahr: Feusisberg im Kanton Schwyz. In der kurzen Charakterisierung der besten Gemeinde der Schweiz lesen wir unter anderem:

Immer mehr Einheimische ziehen weg aus der Idylle. Mit ihnen der Nachwuchs. Bereits überlegt man sich aufgrund des Kindermangels Mehrjahrgangsklassen in der Grundschule einzuführen. Was die Elternschaft wenig freut. Schuld daran ist die Tiefsteuerpolitik der Gemeinde.

Es ist der Weltwoche hoch anzurechnen, dass sie das Problem der fortschreitenden „Zugisierung“ immerhin thematisiert und mögliche Gegenmassnahmen diskutiert. Glaubwürdiger wären diese Diskussionen jedoch, wenn sie irgendeinen Einfluss aufs Ranking hätten. Dem gesunden Menschenverstand jedenfalls leuchtet nicht ein, dass eine Gemeinde, der die Leute davonlaufen, die Nummer eins sein kann.

Sonntag, 19. September 2010

Der Herr Karl

Wien, im Keller eines Feinkostgeschäftes, Ende der Fünfziger Jahre. Der Protagonist kommt mit einem Harass Sprudel die Treppe heruntergeächzt: Der Herr Karl, etwa so alt wie das Jahrhundert, Ausbund speckgewordener Selbstgerechtigkeit. Mit der Adaptation des klassischen Monologs von Helmut Qualtinger eröffnet das Theater an der Effingerstrasse die Saison 2010/11. Regie führt Stefan Suske, und auf der Bühne führt Uwe Schönbeck während eineinhalb Stunden das grosse Wort. Er erzählt dem jungen Kollegen im Nebenraum gönnerhaft-jovial sein Leben, und wie er seine immense Erfahrung, sein sicheres Gespür und seine stetigen beruflichen und privaten Erfolge vor ihm ausbreitet, wird schnell klar: Gross ist an diesem Schleimer nur das Maul.

Einzigartig ist, wie messerscharf Qualtinger seinen Anti-Helden sich selber entlarven lässt. Er lässt ihn einfach reden, lässt ihn sich hineinsteigern, von sich selbst schwärmen, in einer Mischung zwischen Stolz und Zufriedenheit auf sein Leben zurücksehen, nur gelegentlich mit fliegenden Hamsterbäckchen Schmerz und Erschütterung markierend – und sich so bis auf die Knochen entblössen. Zum Vorschein kommt ein Möchtegern-Frauenheld, ein Vorstadt-Don-Juan, der keiner Frau auch nur ein Bruchteil von dem durchgehen liess, was er für sich selber in Anspruch nahm. Zum Vorschein kommt ein bedenkenloser Opportunist, der sich in fliegender Folge mit den Sozialisten, den Nazis, den Russen und dann den Amerikanern nicht nur arrangiert, sondern sich allen geradewegs angedient hat – genau wie er auch jetzt gegenüber der Chefin im oberen Stock freundlichst und geübt buckelt, nur um im Schutz seines Kellers umgehend nach Herzenlust über sie zu schnöden. Zum Vorschein kommt schliesslich eine kleinbürgerliche Seele, ein Drückeberger, der ob all seinem Beteuern, wie Grossartiges er geleistet habe, in der Dauer des Stückes gerade mal sechs Flaschen in die Regale räumt (und sich im Gegenzug die halbe Cognacreserve hinter die Binde schüttet). Die Pointen fallen in dichter Folge Schlag auf Schlag, sind dabei immer fein und oft nur angedeutet, manchmal aber wieder so erschreckend, dass einem die Spucke wegbleibt.

Als Der Herr Karl 1961 erstmals im ORF ausgestrahlt wurde, war der Aufschrei gross. Offenbar hatten einige etwas von sich selbst in dem Typen wieder erkannt, der mit einer Mischung von Gönnerhaftigkeit und Bestürztheit verdecken wollte, dass er sich Zeit seines Lebens durchgemogelt und sein Mäntelchen in jeden Wind gehängt hatte, egal ob dieser von links oder von rechts blies. Doch dieser Typus ist natürlich nicht an eine bestimmte Epoche gebunden, sondern so zeitlos wie alle menschlichen Schwächen und Macken. Der Dekor der späten Fünfziger Jahre legt zwar eine leichte Patina auf die Geschichte, aber Uwe Schönbeck wischt diese sogleich wieder weg. Er spielt seinen Herrn Karl souverän, lässt ihn charmieren, um Verständnis werben, munter seine eigenen Regeln aufstellen und beinahe platzen vor Selbstzufriedenheit und Ichbezogenheit.


Technisches: Der Herr Karl steht an der Effingerstrasse noch bis am 27. September 2010 auf dem Programm. Zum Weiterlesen verweise ich auf die Berichte von Bund, Berner Zeitung und von Fritz Vollenweider beim Seniorweb. Das Original, gespielt von Helmut Qualtinger, findet sich auf Youtube.

Freitag, 10. September 2010

Spartacus

Spartacus ist heutzutage einer der bekanntesten antiken Namen – dank Hollywood, verschiedenen revolutionären Vereinigungen und zuletzt einem Radprofi. Dass diese Bekanntheit nicht unverdient ist, zeigt Catherine Salles’ Monografie 73 av. J.-C., Spartacus et la révolte des gladiateurs, ein kluges, präzises Buch, das völlig frei ist von der sonst so künstlich schwerfälligen französischen Gelehrtensprache. Salles zeichnet an Hand der wenigen, entfernten Quellen das Leben und Wirken des berühmtesten antiken Sklavenrevolutionärs nach. Geboren um 100 v. Chr. in Thrakien, von den Römern zum Kriegsdienst verpflichtet, desertiert, gefangen genommen und in Rom als Sklave verkauft, gelangte er in die Gladiatorenschule des Lentulus Battiatus im kampanischen Capua. Dort gelang es ihm, angeblich unter Mithilfe seiner Gefährtin, einer in Mysterienkulten bewanderten Priesterin, seine Schicksalsgenossen zum Widerstand zu vereinen und aus der Schule auszubrechen. Schnell wuchs das kleine Grüppchen von 70 Gladiatoren durch den Zufluss von Sklaven und armen Landarbeitern auf eine Freibeuterschar von zehntausend Männern an, die, von den durchtrainierten Berufskämpfern angeführt und eingewiesen, die Vesuvgegend mit Raubzügen heimsuchten. Auf Widerstand trafen sie zunächst kaum: Die Ordnungskräfte wollten sich nicht richtig in einem unwürdigen Kampf gegen den (in ihren Augen) Abschaum der Gesellschaft engagieren, und die unzureichenden Polizeieinheiten, die ihr entgegengeschickt wurden, vermochte die bereits zu grosse Sklavenschar problemlos zu dominieren. Sie wuchs im Gegenteil zu einer regelrechten Armee von siebzigtausend Soldaten an, gut bewaffnet, richtig organisiert und straff geführt. Unklar ist ihr eigentliches Ziel: Wollten die Sklaven zurück in ihre Heimat? Wollten sie sich in einem eigenen Staat dauerhaft einrichten? Wollten sie ihre Bewegung in anderen Regionen Italiens noch weiter stärken? Jedenfalls zog ein Teil des Heeres gegen Süden, der grössere Teil mit Spartacus an der Spitze nach Norden, schlug mehrmals die römischen Legionen, die sich ihm entgegenstellten, wandte sich jedoch nicht gegen Rom, sondern kehrte nach Süditalien zurück, wo sich Spartacus vergeblich in Thurium, am Golf von Tarent, einzurichten versuchte. Nach über einem Jahr, in dem er die römischen Truppen praktisch nach Belieben vorgeführt hatte, erwuchs ihm in der Person des schwerreichen, ehrgeizigen und skrupellosen Crassus endlich ein übermächtiger Gegner. Auch er wurde zwar noch mehrmals ausgespielt, setzte jedoch schliesslich dem Aufstand (und seinem Anführer) ein blutiges Ende.

Im Lauf seiner zweijährigen Revolte erwies sich Spartacus ganz offensichtlich als charismatische Persönlichkeit, fähiger Heerführer und geschickter Taktiker. Was ihn darüber hinaus so interessant macht, sind die Parallelen zwischen seiner und den verschiedenen anderen Sklavenrevolten im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. Wesentliche Elemente begegnen dabei immer wieder: Die wichtige Rolle eines mitreissenden, oft mit den Göttern in besonderer Verbindung stehenden Anführers, die Verbündung der Rebellen mit anderen Benachteiligten ihrer Zeit wie beispielsweise der armen Landbevölkerung sowie die anfängliche Unterschätzung durch die Obrigkeit, die sich nicht so richtig durchzuringen vermag, gegen die angeblichen Untermenschen ernsthaft, das heisst mit genügend schlagkräftigen Truppen, vorzugehen. So erreichten einzelne Revolten von Sklaven eine erstaunliche Dauer und Beständigkeit; in Sizilien errichtete der Syrer Eunous in den Jahren 139 bis 132 v. Chr. sogar ein eigentliches Königreich, in welchem die Sklaven jahrelang unbehelligt lebten. Verbindende Konstante war aber auch jedes Mal die Ausweglosigkeit des Aufstandes, der – sobald Rom sich einmal ernsthaft zu dessen Bekämpfung entschlossen hatte – brutal und umfassend niedergeschlagen wurde. Von besonderer, beispielhafter Grausamkeit ist die Triumph- und Strafmassnahme des Crassus, der 6000 der Gefährten des Spartacus entlang der 195 Kilometer der Via Appia von Capua bis Rom ans Kreuz schlagen liess.

Catherine Salles begreift und beschreibt diese Serie von Aufständen als charakteristische Konsequenz des Sklavenwesens gegen Ende der römischen Republik. Oder genauer: als Konsequenz des sich zuspitzenden Verhältnisses von Herren und Sklaven. In den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten vergrösserte sich die Zahl derer massiv, die als Kriegsgefangene oder als Piratenbeute in die Sklaverei geraten waren. Das Überangebot an Sklaven verleitete dazu, diese in grossem Umfang und fast ohne Rücksicht auf Verluste einzusetzen. Und diese harten Lebensbedingungen mussten besonders denen unerträglich erscheinen, die frei geboren und erst durch Gefangenschaft zu Sklaven geworden waren. Die Häufigkeit und die Intensität der Sklavenrevolten liessen dann nach, als die beiden Quellen der Eroberungskriege und der Piraterie versiegten, als der Anteil der bereits in Gefangenschaft geborenen Sklaven wieder stieg und als gleichzeitig die Brutalität der Herren gegenüber ihrem „sprechenden Besitz“ zurückging.

Schliesslich kann der Aufstand des Spartacus auch gleichsam als Scheinwerfer auf die Krisensituation der ausgehenden Republik gelesen werden. Das Thema verdiente eine umfassendere Beschäftigung (und die entsprechende Literatur liegt hier auch schon bereit). Salles liefert jedoch bereits eine präzise, einleuchtende Analyse eines von seinen eigenen Erfolgen überrumpelten Stadtstaates, der innert wenigen Generationen zum Weltreich geworden ist, aber immer noch von den gleichen Institutionen geführt, von den gleichen wenigen Adelsfamilien regiert wird. Vielfach erschreckend unfähig, im Glanz ihrer Familiengeschichte erstarrt, von den durch Handel reich gewordenen, aber politisch wenig einflussreichen Rittern bedrängt, rieb sich diese Aristokratie in Fraktionskämpfen und Bürgerkriegen auf. Ihr Niedergang war der Niedergang der römischen Republik, und es erscheint nur folgerichtig, dass im ganzen ersten vorchristlichen Jahrhundert einige „starke Männer“ die Geschicke Roms dominierten – eine Entwicklung, die schliesslich in den Augusteischen Prinzipat, das Kaisertum, mündete. Die eigentlichen Opfer dieses durchgeschüttelten Jahrhunderts, die brutalisierten Sklaven und die verarmten Kleinbauern, bleiben grossmehrheitlich namenlos. Die Sklavenrevolte des Spartacus rückt sie kurz, aber jäh, ins helle Bühnenlicht der Geschichte.


Technisches: Catherine Salles, 73 av. J.-C., Spartacus et la révolte des gladiateurs. Bruxelles, Editions Complexe 1990/2005. ISBN 2-8048-0053-9. (Ich hätte hier gerne einen Link zum Buch gesetzt, aber die Website der Editions Complexe ist dermassen schräg, dass ich es unterlassen muss. Oder hat schon mal jemand inmitten einer Katalogsuchmaske einen Link auf „cheap dell laptop batteries online“ gesehen? Tja, der Niedergang des gedruckten Buches scheint unaufhaltsam…)

Freitag, 3. September 2010

Tanz um Säulen

Ich wills ja nicht übertreiben mit dem Lob der Kleinstadt, aber ein kultureller Kurzausflug vor der Sommerpause muss hier doch noch erwähnt werden. Er führte uns nach Neuenburg, in diese liebliche, mit Freiburg in einigem vergleichbare Stadt. Anlass war das Festival neuchâtel scène ouverte, das freie Tanzfestival, das seit inzwischen sieben Jahren die ockergelbe Bühne der Neuenburger Plätze und Gemäuer bespielt – und dies volle zwei Wochen lang. Auf dem Weg zum Hôtel de Ville hörten wir zunächst allerdings Gesang: Gleichentags fand ein Chortreffen statt, in welches das städtische Samstagmorgenpublikum grosszügig und selbstverständlich einbezogen wurde. Man wird verstehen, dass ich eine Stadt glücklich schätze, die mitten im Sommer ein solch verschwenderisches Angebot öffentlicher Kultur aufzuweisen hat! Doch nun zum Tanz: Gekommen waren wir wegen Attention à la marche der Compagnie pas perdus. Ihr Theatersaal war die Eingangshalle des Rathauses, ein grosser, T-förmiger Raum, dem zwei massive Säulenreihen die nötige republikanische Gravität verleihen. Zwischen den Säulen und in den Nischen wandelte oder ruhte bereits das gute Dutzend Tänzerinnen und Tänzer. Wir richteten uns ebenfalls möglichst diskret ein und sahen zu, wie sich die einleitenden, aufwärmenden Bewegungen langsam zu einem Anfang verdichteten. Markiert wurde dieser – und mit ihm das ganze Stück – durch die Musik. Eine verwirrende Vielfalt von Instrumenten lagen bereit, die alle aussahen, als wären sie direkt einem unbekannten, dunklen Kult entnommen. Ein schamanenhafter Multiinstrumentalist erweckte sie zum Leben, erzeugte Rhythmus und Geräusche, schrille, pochende, durchdringende, und trieb die Tänzerinnen und Tänzer durch den Raum, aufeinander zu und voneinander weg, in abgelegene Ecken und dann wieder mitten durchs Publikum. Die Säulen versperrten die Sicht, die Mitzuschauenden erschwerten die Bewegung: So sah wohl jeder der Anwesenden ein anderes Stück, eine individuelle Kombination aus Bewegungsfetzen und Musik von allen Seiten, aber auch aus dem Rhythmus der nackten Füsse auf dem Steinboden, dem heftigen Atmen eines Tänzers und der Zugluft einer vorbeieilenden Tänzerin. Ich liess mich von meiner Intuition durch den Raum bewegen, war immer auf der Suche nach dem Herzen des Geschehens und fand öfter intensive Details, die ich gar nicht gesucht hatte. Kurz: Attention à la marche war ein fesselndes theatrales Gesamtkunstwerk, das vom erfreulich zahlreichen Publikum mit herzlichem Applaus bedacht wurde.

Und um auf die Eloge auf Neuchâtel zurückzukommen: Abgerundet wurde der sommerliche Theatertrip mit einem Cidre in der Brasserie Le Cardinal, einem Sandwich am See und einem erfrischenden Bad in demselben; und an Körper und Geist gleichermassen gestärkt und erholt schlugen wir den Heimweg ein.