Samstag, 26. Februar 2011

Römische Paläste

Rom beeindruckt wie keine andere Stadt, die ich kenne, nicht nur durch seine grossartige Architektur, sondern auch durch die schiere Masse an grossartiger Architektur. Man kann stundenlang in der Stadt flanieren, ohne dass Hässlichkeit sich breitmacht, und begegnet dabei immer wieder herrschaftlichen Villen mit fantastischen Gärten oder verläuft sich in Parkanlagen von unabsehbarer Weite. Die Namen nennt jeweils der Stadtplan, und der Reiseführer liefert gelegentlich ein historisches Häppchen dazu. Wer aber gerne da und dort ein bisschen mehr wissen möchte über die imposanten Palazzi, dem sei das Buch Römische Paläste und Villen des Regisseurs und Autors Ernst Batta ans Herz gelegt. Dabei geht es nicht, wie man denken könnte, um Kunstgeschichte, sondern in erster Linie um historischen Klatsch und Tratsch. Anhand von 25 Palästen und Villen erzählt Batta aus der Geschichte von ebenso vielen römischen Familien. Und das sind beileibe keine Gutenachtgeschichten. Römische Familien im Lauf der Jahrhunderte, das bedeutet Adlige, Kardinäle und Päpste, das bedeutet Aufstieg und Niedergang, Reichtum und Prunk, Krieg, Intrigen und Vetternwirtschaft. Alle ziehen sie so am Auge des Lesers vorbei: die Borghese und die Colonna, die Barberini und die Farnese, die Borgia und die Pamphili – klingende Namen, Triumphe und Abgründe. Die Lektüre ist höchst unterhaltsam (wie bei Klatschheften üblich), und mit fortschreitendem Buch kommen Handlungsstränge zusammen, zeigen sich Links und Verbindungen, werden Nebenfiguren im einen Palazzo zu Protagonisten im anderen, folgen Schirmherren auf Beschirmte, Kardinäle auf Päpste und umgekehrt. Es entsteht das Porträt einer langen Epoche, von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert, in der Rom der Mittelpunkt der Welt war – und des Christentums ohnehin (wobei das meiste der pikanten Details, von denen dieses Buch lebt, mit Christentum herzlich wenig zu tun hat; aber das ist eine andere Geschichte).

Ernst Batta hat ein vergnügliches Buch geschrieben. Seine Liebe zu und Begeisterung für Rom, diese einzigartige Schaubühne von Kabalen und Ränken, leuchtet aus jeder Seite. Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich die dreihundert Seiten wirklich studiert habe. Aber auf der nächsten Romreise (so Gott will) werde ich da und dort eine Fassade wiedererkennen, ein Detail beachten, mich an eine Anekdote erinnern – und mich darüber freuen.


Technisches: Ernst Batta, Römische Paläste und Villen. Annäherung an eine Stadt. Insel Taschenbuch 1324. Frankfurt, Insel 1992. ISBN 3 458 33024 0. Das Buch ist vergriffen und nur mehr antiquarisch erhältlich.

Samstag, 19. Februar 2011

Hereafter

So müsste man alt werden können: wie Clint Eastwood. Alles gemacht, alles erreicht, nichts mehr zu beweisen, aber noch gut im Saft und mit Zeit und Musse, das zu tun, was man einfach noch so tun will. Filme machen zum Beispiel, die eine oder andere Geschichte erzählen, gute Geschichten mit interessanten Figuren. Das tut der Mann jetzt seit zehn Jahren mit Meisterschaft. Und aus jedem seiner Filme sprechen die Freude an seinen Geschichten und die Zuneigung zu seinen Figuren.

Sein aktuelles Werk trägt das Thema im Titel: Hereafter: Es geht um das Jenseits – oder präziser, um den Tod. Eastwood folgt den Geschichten von drei Menschen, die mit dem Tod konfrontiert und darob aus der Bahn geworfen wurden. Die französische Star-Journalistin Marie Lelay (eine unglaublich präsente Cécile de France) wird auf einem indonesischen Markt in einer atemberaubenden Sequenz von der Welle des Tsunami erfasst und verweilt für einen kurzen Moment im Zwischenbereich zwischen Leben und Tod, bevor sie wieder zu sich kommt. Äusserlich erholt sie sich schnell, kehrt (ganz Powerfrau) dynamisch in die Redaktion zurück – aber in Wirklichkeit ist zu viel in ihr erschüttert, und sie merkt, dass sie keinen Frieden finden wird, bevor sie ihrem Nahtoderlebnis nicht auf den Grund gegangen ist. Gleichzeitig sieht sie sich dadurch erbarmungslos in die esoterische Ecke gestellt. In London verliert der zwölfjährige Marcus in einem Unfall seinen Zwillingsbruder Jason und damit gleichsam die Hälfte von sich selber, denn es war immer der elf Minuten ältere Jason, der dem Jüngeren Beschützer und Anführer war im ärmlichen Leben in der baufälligen Sozialsiedlung mit der drogenabhängigen Mutter. Die Mutter muss in die Therapie, der Sohn in eine Pflegefamilie; aber nichts kann ihn aus seinem Dämmerzustand der Trauer herausholen. George Lonnegan (Matt Damon, etwas verhalten) aus San Francisco schliesslich hat die unerklärliche Gabe, mit Verstorbenen kommunizieren zu können. Damit ist viel Geld zu machen, was sein geschäftssüchtiger Bruder auch beherzt an die Hand nimmt. Aber George wird die Gabe derart zur Belastung und zum Fluch, dass er lieber als Lagerist im Hafen malocht und sich ansonsten immer mehr von der Welt und den Menschen abkapselt.

Der Film wechselt ohne Hektik zwischen den drei Leben hin und her, verfolgt sie mit meisterhafter Kameraführung, zeichnet sie mit klug komponierten Farben und präzisen Bildern. Und gegen den Schluss lässt er sie mühelos, wie beiläufig, miteinander in Kontakt geraten und lässt die drei Verlorenen sich gegenseitig aus ihrem Verlorensein heraushelfen. Dass er mich dennoch nicht restlos begeistert hat, liegt an zwei Dingen, denke ich. Erstens hat, wer in eineinhalb Stunden drei Geschichten erzählen will, für jede einzelne nur sehr wenig Zeit. So wirken die Charaktere, obwohl sie mit knappen Strichen sehr präzise gezeichnet sind, in den paar Minuten, in denen wir sie jeweils sehen, etwas eindimensional. Dazu kommt zweitens, dass sich die Geschichten gelegentlich in Nebensträngen verlieren, die nicht viel zum Ganzen beitragen – beispielsweise Melanie, Georges Kochkurs-Bekanntschaft: Sie wird in einer schönen, langen Sequenz eingeführt, überredet ihn dann beim Rendez-vous zu einer Totenkontaktaufnahme und ergreift vom Gehörten geschockt die Flucht. Gewiss verdeutlicht sie damit erneut und übergross den Fluch von Georges besonderer Gabe, bleibt aber im dramaturgischen Gefüge ein etwas verlorener Fremdkörper.

So ist Hereafter vor allem ein besinnlicher Film; einer, der ruhig und offen Fragen stellt und beiläufig Anregungen gibt. Uns hat er ganz von selbst in eine lange, intensive und persönliche Diskussion geführt; und das ist vielleicht das Beste, was ein Kunstwerk überhaupt bewirken kann.


Technisches: Hereafter läuft immer noch in vielen Kinos in der ganzen Schweiz. Vorsicht: Es kommen im Film Phänomene vor, die sich rational nur schwer erklären lassen. Eingefleischte Atheisten schauen sich vielleicht lieber etwas anderes an…

Freitag, 11. Februar 2011

Parzival, reiner Tor

Ich muss so elf, zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Geschichte von Parzival las (in der Bearbeitung der grossen, heute etwas vergessenen Jugendbuchautorin Auguste Lechner, deren Bücher ich damals in Serie verschlang), und sie liess mich etwas befremdet zurück – befremdet von ihrer seltsamen Logik und ihrem atypischen Helden, diesem leicht blutleeren, ungelenken jungen Ritter Parzival, den das Schicksal zum Erlöser des Gralskönigs Anfortas bestimmt hatte, der aber diese einmalige Chance glatt versiebte. Und als wäre es nicht schon bei weitem genug der Ehre und der Glückseligkeit, überhaupt einmal der Gralsburg, des Grals ansichtig geworden zu sein, kriegt dieser durch Tollpatschigkeit schuldige Held, der zunächst mal eine Spur der Zerstörung hinterlässt, allen Ernstes zunächst eine ausführliche Belehrung, dann die Möglichkeit zur Bewährung und zuletzt die Gnade einer zweiten Chance. Erst mit fortschreitendem Alter merkte ich, dass ich schon richtig verstanden hatte. Dieser Legende ist mit kartesianischer Logik nicht beizukommen, vielmehr geht es – die Schlüsselbegriffe sind bereits gefallen – um Erlösung, um Schuld und um Gnade. Im Mittelpunkt steht der reine Tor, der mit der erstarrten, höfischen Welt kollidiert, an dem aber auch die Menschlichkeit, das Mitgefühl als höchster Wert aufscheint.

Im Stadttheater Bern war eine Bühnenfassung von Wolfram von Eschenbachs mittelhochdeutschem Versroman angekündigt, besorgt vom dramatischen Shooting Star Lukas Bärfuss – die vielleicht spannendste Ausgangslage dieser Theatersaison und ein Grund, umgehend in den Vidmarhallen einen Platz zu reservieren. Da beherrschte zunächst ein Regieeinfall die Szene: Die ganze Bühne war mit Plastikblachen abgedeckt, auf denen eine schmutzige Brühe schwappte, und die bedauernswerten Schauspielerinnen und Schauspieler mussten sich nach jedem ihrer häufigen Kostümwechsel umgehend in die Pfützen schmeissen und sich im braunen Wasser wälzen. Eine treffliche Metapher für das irdische Jammertal, gewiss, aber eine, die in ihrem offensiven Aufdrängen mehr schadet als nützt. Doch nun zum Stück. Bärfuss legt einen schlanken, stark abstrahierten Parzival vor, der sich trotz zwei Stunden ohne Pause relativ kurz anfühlte. Schuld, Gnade, Erlösung kommen natürlich einem Dramatiker des 21. Jahrhunderts nicht mehr so ring von den Lippen. Der christlich-mythische Überbau fehlt denn auch fast vollkommen, und im Sumpf der Vidmar-Bühne nimmt das grosse Stück häufig fast banale Züge an – am deutlichsten sichtbar bei König Arthus, einem schmächtigen Männlein im durchfallbraunen Strampelanzug und mit lächerlicher Mähne, der sich schier zu entschuldigen scheint, wenn er denn einmal überhaupt das Maul aufmacht. Die Aufmerksamkeit liegt bei dem Menschen Parzival, beim Mysterium seines Wesens (um doch noch einmal die grossen Worte zu gebrauchen). Fröhlich, interessiert, mit grossem Herzen, aber naiv bis zur Einfalt wegen der weltfremden Erziehung durch seine paranoide Mutter bricht er auf in die Welt, wo er unbewusst und unschuldig nicht nur in sämtliche Fettnäpfchen tappt, sondern auch Leid und Unheil über die Menschen bringt, denen er begegnet. Und fasziniert sehen wir ihm zu, wie er langsam, Stück für Stück, so etwas wie eine Weltsicht, ein Konzept entwickelt. Das ist häufig auf den ersten Blick mehr oder weniger komisch, auf den zweiten aber berührend oder nachdenklich machend. Eine Fülle von Themen wird angetippt; zuvorderst natürlich die alte Frage nach Erziehung versus Persönlichkeit, und vieles wird sehr beiläufig in Frage gestellt. Die Schlussszene, das erneute Zusammentreffen mit dem grässlich leidenden Anfortas, wird dann sehr banal: Dass Parzival Gralskönig werden wird, dass er jetzt endlich die entscheidende Frage stellt – all das ist nur en passant ein Thema. So wird abschliessend noch einmal klar: Um Handlung, um Spannung, um Parzivals Rolle geht es hier nicht. Es geht bei dieser Interpretation des Mythos um sein Wesen. Eine überzeugende Milva Stark bringt seine Unschuld, seine Einsamkeit und seine Verzweiflung mit grosser Intensität auf die sumpfige Bühne.


Technisches: Parzival, von Lukas Bärfuss nach dem Versroman von Wolfram von Eschenbach, steht im Stadttheater noch zwei Mal auf dem Programm. Das Stück ist ein Erfolg; mehrere Vorstellungen waren ausverkauft – wer interessiert ist, sollte sich also beeilen.

Beflügelt von der Vorstellung habe ich die nächste Buchhandlung aufgesucht, um im Original zu blättern, aber die 1200 Seiten und die betont sachliche Prosaübersetzung in Reclams zweisprachiger Ausgabe haben mich etwas entmutigt. Vielleicht sollte ich mal mit Reclams Auswahlausgabe beginnen, oder mit der Versübersetzung von Simrock. Die Alternative: mein Mittelhochdeutsch etwas aufpolieren und das Original lesen, zum Beispiel in der Bibliotheca Augustana.

Sonntag, 6. Februar 2011

Die Schweiz inszenieren

Letztes Jahr bot uns ein Ausflug nach Zürich die Gelegenheit, endlich einmal die neu gestaltete Dauerausstellung des Landesmuseums anzuschauen. Wie jeder brave Schweizer Schulbub hatte ich die weihevollen Hallen unseres nationalen Museums als Kind zwei-dreimal mit gehörigem staatsbürgerlichem Respekt durchschritten. Respekt erheischt das Schloss beim Zürcher Hauptbahnhof weiterhin, auch wenn die neue Präsentation sehr zugänglich ist. Und an einige Eindrücke aus meinen Kindheitsbesuchen wurde ich auf dem historischen Rundgang ganz zwangslos da und dort wieder erinnert – so im ausführlichen Abschnitt über die Reformation, wo die wohl bekanntesten Reliquien des Hauses, Helm und Schwert von Zwingli, ihren gebührenden Raum einnehmen. Zuvor wird in aller Kürze, aber mit edelsten Objekten das christliche Mittelalter veranschaulicht; zuletzt leitet der Aufstieg der Schweizer Industrie in die Zeitgeschichte über. Und wie es inzwischen Mode ist, werden nach dem ersten, chronologischen Teil die überreichen kunsthistorischen Bestände an Skulptur, Malerei, Kunsthandwerk in ihrer ganzen Masse eindrücklich und sehr gekonnt präsentiert. Mangels Zeit und Energie konnten wir diese reiche Fülle gar nicht mehr im Detail betrachten.

Im Zusammenhang mit der Neueröffnung hatte ein Detail einiges an Polemik im rechten politischen Spektrum entfesselt: Die mit dem simplen (geklauten) Satz „Niemand war schon immer da“ gemachte Feststellung, dass viele bedeutende Schweizerinnen und Schweizer ursprünglich gar keine solchen waren. Das Landesmuseum als Propagandaschleuder? Gemach. Das Einführungskapitel in die Dauerausstellung stellte einzig die – in diesem Zusammenhang nicht nur berechtigte, sondern selbstverständliche – Frage, wer denn die Menschen waren, die früher auf dem Gebiet der heutigen Schweiz wohnten, und woher die kommen, die jetzt hier sind. Diese doppelte Frage gibt einerseits Anlass zur gerafften Präsentation der Frühgeschichte und Antike, anderseits zu ein paar Feststellungen über die heutige Bevölkerung. Dass eine nationale Selbstbildvermittlungsinstitution dabei die Gelegenheit ergreifen muss, Vorurteile zu berichtigen und unbekannte Aspekte in die Diskussion einzubringen, erscheint mir naheliegend; es wäre sogar möglich gewesen, auf die Konstruktion (und Konstruiertheit) der nationalen Identität noch expliziter einzugehen. Aber der Teil über die Schweiz und die Schweizer ist ohnehin nicht der politischste Teil der Ausstellung. Das eigentliche politische Statement ist die Ausführlichkeit, mit welcher die spannendsten fünfzig Jahre der Schweizer Geschichte inszeniert sind, die Epochenwende zwischen dem Ende des Ancien Régime und der Verfassung von 1848. Für mich ist das die Schlüsselperiode der Schweiz. Unerträgliche Spannungen hatten sich im kurzen Bürgerkrieg entladen – und danach schafften echte Patrioten ruhig und speditiv unter dem Radar des monarchistischen Europas hindurch den modernsten Staat des Kontinents. Wenn man unbedingt auf eine Periode der Schweizer Geschichte stolz sein will, dann ist es diese. Und man kann gegenüber all jenen, die sich mit bewusstem oder unbewusstem Zurechtbiegen der historischen Forschung die Eidgenossenschaft von 1291 für ihre Propagandazwecke zu nutzen machen, die Bedeutung des Bundesstaates von 1848 nicht genügend betonen. Dem Landesmuseum gebührt Dank dafür, diese Zeitenwende in den Fokus gerückt und mit grosser Geste illustriert zu haben.


Technisches: Das Landesmuseum Zürich hat die wohl beste ÖV-Anbindung aller Schweizer Museen: In Zürich HB aus einem der zahllosen Züge steigen, zum Perronkopf gehen und dann nur noch links raus – voilà. Das Haus ist täglich ausser montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet, am Donnerstag sogar bis 19 Uhr.