Waiter Rant war das erste Blog, das ich von vorne bis hinten komplett und mit wachsender Begeisterung durchlas – und das noch bevor ich wusste, was ein Blog überhaupt ist (in grauer Vorzeit, so um 2005). Ein anonymer Kellner in einem Upperclass-Italiener in New York schreibt da über seine leidvollen Erfahrungen mit schwierigen Kunden, zickigen Kolleginnen und einem cholerischen Chef. Als Europäer muss man wissen: In den USA hat das Servierpersonal einen mehr symbolischen Grundlohn, lebt aber zur Hauptsache vom Trinkgeld, ist also dem Anstand und dem Goodwill seiner Kundschaft auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Wer nicht mindestens 15% gibt, betrügt den Kellner, ohne dass dieser sich wehren kann. Zudem gilt jenseits des grossen Teichs nicht nur in der Gastroindustrie das Prinzip des Hire and Fire: Wenn der Chef schlecht geschlafen oder sonst miese Laune hat, kann er seinen Angestellten ohne Aufhebens und auf der Stelle die Tür weisen – und auch diese können ihre Schürze von einem Moment auf den anderen an den Nagel hängen. Reichlich Konfliktpotential also, und reichlich Potential für gepfefferte Geschichten auf des Kellners Blog. Doch dieser erschöpft sich nicht im Anekdotenerzählen. Seine Jahre im Priesterseminar haben sich in einer eleganten, besonnenen, eine kleine Spur altmodischen Sprache niedergeschlagen. Seine Erfahrungen als Psychiatriepfleger verhelfen ihm zu verblüffend enthüllenden Analysen des Geisteszustandes seiner jetzigen Klienten. Und seine Zeit als Kellner hat seiner Menschenkenntnis den letzten Schliff gegeben – denn nichts ist so aussagekräftig für den Charakter eines Menschen wie seine Art, mit Dienstpersonal umzugehen. So sind die kleinen, oft hässlichen Geschichten aus dem Nobelrestaurant nur ein Vorwand für allgemeingültige Betrachtungen zum Wesen der Menschen und zum Sinn des Lebens. Dass der Autor dabei das Abgleiten in Kitsch und Trivialitäten durch den gut dosierten Sarkasmus in der Rahmenhandlung gekonnt vermeidet, macht sein Blog so lesbar.
In der englischsprachigen Blogwelt gibt es so etwas zwischen Jackpot und Ritterschlag: den Book Deal. Wer einen Buchvertrag erhält, der hat es geschafft, der kann auf beträchtlichen finanziellen und emotionellen Lohn für hunderte Stunden einsames Bloggen hoffen. Als der Kellner seiner Leserschaft im Sommer 2006 mitteilte, er habe einen Book Deal abgeschlossen, war meine Vorfreude darauf, seine Schreibe bald auch in anderer Form und Aggregatszustand geniessen zu können, etwas gemischt mit Bedenken, ob sich ein lesenswertes Blog denn tatsächlich in ein lesenswertes Buch transformieren lassen würde. Das war freilich unnötig: Waiter Rant hat eine prägnante Struktur und einen roten Faden. Halb Autobiografie, halb Blick hinter die Kulissen eines Restaurants, nicht frei von Pathos, aber immer in der mir lieb gewordenen, leicht fliessenden Sprache des Kellnerpoeten, liest sich das Buch angenehm und spannend. Es ist, als würden dutzende von Facetten aus mehreren Jahren der punktuellen Lektüre aufs Mal mit sicherer Hand zu einem abgerundeten Ganzen zusammengefügt.
Für den anonymen Kellner war sein Buchvertrag tatsächlich das grosse Los. Zwar scheint das Schreiben eine Durststrecke gewesen zu sein – er verliess nach sieben Jahren zermürbt The Bistro, sein Restaurant, hatte mit anderen Stellen noch weniger Glück, und vor allem litt auch das Bloggen unter seiner Konzentration auf das Buch. Am Erscheinungstag jedoch liess er sich in der New York Post outen (sein wahrer Name ist Steve Dublanica), andere Artikel, Radio- und Fernsehbeiträge folgten, Waiter Rant wurde zum Bestseller, mehrere Übersetzungen sind in Vorbereitung, und auch das nächste Buch ist schon in Arbeit. Selten habe ich jemandem einen solchen Erfolg mehr gegönnt!
Technisches: Waiter Rant. Behind the Scenes of Eating Out, by A. Waiter. London, John Murray 2008. ISBN 978-1-84854-007-1. Die deutsche Übersetzung wird bei Droemer Knaur erscheinen.
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