Sonntag, 11. Januar 2009

Die Blechtrommel

Günter Grass muss in einen Kessel voller Worte gefallen sein, als er klein war – anders kann ich mir die Blechtrommel nicht erklären, diesen grosszügigen, verschwenderischen Roman, diese ungebremste Fülle von Bildern und Szenen, Ausdrücken und Ideen, diesen (um es mit dem Nobelpreiskomitee zu sagen) narrativen Karneval. Das Buch war mein Begleiter auf den Reisen des letzten Halbjahres; und damit Oskar Matzerath, das altkluge kleine Grossmaul, allmächtig waltender Erzähler seiner eigenen Geschichte, der mit dem Leser Katz und Maus spielt, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, der immer schon alles wusste und auch fast alles konnte, der seine halbe Familie auf dem Gewissen hat und verurteilt wird ausgerechnet für einen Mord, den er nicht begangen hat, dieses liebenswerte Scheusal. Wie könnte einen ein solcher fabulistischer Kraftakt nicht in den Bann ziehen, fesseln, bewegen, fröhlich und traurig machen, ja im altgriechischen Sinne läutern? Und wie könnte man ein solches Buch beschreiben? Da ist Stoff drin für Dutzende Analysen (und, nebenbei, für Dutzende Bücher, weshalb ich von Grosszügigkeit spreche), und wenn ich hier in der gebotenen Kürze meine Eindrücke festhalten will, muss ich gnadenlos reduzieren und stellvertretend eine Episode herausheben: den Zwiebelkeller. Dieser ist eine extravagante Kleingaststätte im Nachkriegsdüsseldorf, für welche Gastwirt Schmuh den Blechtrommler Oskar und seine Musikkumpane Klepp und Scholle als The Rhine River Three anwirbt. Was es mit dem feuchten Nachtlokal auf sich hat, erfährt man bei der detaillierten Schilderung eines Abends im Zwiebelkeller. Da setzen sich die Oberklassegäste auf die mit Zwiebelsäcken bespannten Kisten an hölzernen Tischen, von Karbidlampen erleuchtet; da erscheint nach bedrücktem Warten der Wirt, einen Schal mit Zwiebelmuster umgelegt, und verteilt Holzbrettchen, Messer, Zwiebeln; da enthäuten die Herrschaften ihre Zwiebel, schneiden sie – und da rinnen ihnen endlich die Tränen reichlich aus den Augen; denn um in diesem tränenlosen Jahrhundert wieder einmal richtig, hemmungslos und in Fülle weinen zu können, drängten sich all die Gäste in den feuchten Keller. Dann schlägt Oskar die Trommel, die Rhine River Three leiten musikalisch zum Alltag zurück, und leergeweint verlassen die Leute den Zwiebelkeller. Nicht mal zwanzig Seiten braucht Grass für dieses kleine Kunstwerk (das, nebenbei, auch schon Anlass zu einem Bühnenstück geboten hat), schon folgt nahtlos das nächste, und über siebenhundert Seiten spannt sich so der Bogen der Danziger und der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Wahrlich ein gewaltiges Buch.


Technisches: In meinem Fundus befindet sich diese Ausgabe: Günter Grass, Die Blechtrommel. Danziger Trilogie 1. Sammlung Luchterhand 147. Hamburg, Luchterhand Literaturverlag 1974. ISBN 3-630-61147-8.

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