Donnerstag, 4. November 2010

Ficus macrophylla

L’arbre von Julie Bertuc(c)elli erzählt die Geschichte einer Familie und eines Baumes. Die Familie O’Neil wohnt einfach und glücklich in der Hügellandschaft von Queensland; hinter ihrem Haus steht ein uralter, breit verzweigter Grossblättriger Feigenbaum. Der Film beginnt mit einem Fertighaus aus Holz, das von Peter O’Neil auf einem Tieflader an seinen Bestimmungsort gefahren wird. Als Peter von dem Transport zurückkehrt, erleidet er einen Herzstillstand; Verlust und Schmerz ziehen in das Haus unter dem Baum ein. Simone, die einzige Tochter und nach eigenem Empfinden des Vaters Lieblingskind, verkriecht sich stunden- und nächtelang auf die Äste des Baumes. Bald ist sie überzeugt, dass ihr Vater aus dem Baum zu ihr spricht. Die kindlich-versponnene Idee ist für Simone beruhigend und tröstlich und hilft auch ihrer Mutter Dawn wieder Tritt im Leben zu fassen. Aber der Baum ist nicht nur Trostquelle. Seine Äste bedrohen das Haus, die wild wuchernden Wurzeln die Nachbarn. Und schliesslich ist es, als ob sich an ihm Widerstrebendes und Unausgesprochenes kristallisiert, bis es kulminiert und sich brachial entlädt. Am Schluss ist wieder gleichsam ein Haus auf Reisen, eines ohne Wände und Dach freilich: Familie O’Neil verlässt ihren Baum, nur mit dem Nötigsten im Kofferraum des Autos, um anderswo neue Wurzeln zu schlagen.

L’arbre ist ein Film wie ein Fotoessay, geprägt durch lange, ruhige Einstellungen und magistral komponierte Bilder: Das Holzhaus, das von einem gigantischen Truck quer durch die Einöde gefahren wird, festlich beleuchtet auf seinem Weg durch die Nacht. Der Blick über die hügelige Ebene am Morgen und am Abend. Und immer wieder die Portraits des uralten, breit verzweigten Baumriesen, seine langen, dick wuchernden Wurzeln, seine kurvigen, fast körperhaften Äste, die Silhouette von Stamm und Zweigen im goldenen Mondlicht. Das langsame Tempo tendiert freilich dazu, das Handeln der Akteure in Richtung Klischeehaftigkeit zu reduzieren. Die grossartige Charlotte Gainsbourg jedoch verkörpert zum Greifen intensiv die abgrundtiefe Leere und verzweifelte Verlorenheit der Dawn O’Neil und dann ihr starkes Erwachen aus der Lethargie.


Technisches: L’arbre lief hier vor einigen Wochen und inzwischen in der Schweiz allenfalls noch vereinzelt. Auch als DVD oder Blu-Ray-Disc scheint der Film zurzeit nicht greifbar zu sein, weswegen mir nur der Link auf die Website bleibt.

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