Die Insel Kea (für Altgriechen: Keos) liegt dem Festland von allen Kykladen am nächsten, gehört aber dennoch nicht zu den ausserhalb Griechenlands bekannten Reisezielen. Wer ein Auto zur Verfügung hat, erreicht den kleinen Hafen Lavrio an der Südostspitze Attikas von Athen aus relativ speditiv; mühsamer reist an, wer auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist. In Lavrio schifft man sich auf der Fähre ein, die einen in gut einstündiger Fahrt, vorbei an der langgestreckten ehemaligen Gefängnisinsel Makronissos, in Keas Hafenort Korissia bringt. Die eindrücklichste Attraktion der ruhigen, grünen Insel ist der Hauptort Ioulis, spektakulär auf einem Sattel zwischen zwei Hügeln gelegen, mit seiner archaischen Kolossalstatue eines liegenden Löwen. In der klassischen Antike bestanden auf Kea vier politische Zentren: neben Ioulis und Koressia auch Poieessa und Karthaia, dessen Akropolis sich an der Südostküste auf einem schmalen Felshügel zwischen zwei Bachbetten erhebt. Wer nicht per Boot an dem flachen Strand an Land gehen kann, erreicht Karthaia nur per mindestens einstündigen Fussmarsch auf einem der diversen Wanderwege, die sich die Flanken der Insel hinunterwinden.
Dieser unzugänglichen, aber spektakulär gelegenen und archäologisch wertvollen Stätte wurde zwischen 2002 und 2008 durch das „Programm zur Konservierung und Entwicklung des antiken Karthaia“ – unter anderem mit Geldern aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung – neues Leben eingehaucht: Die Steine wurden vom Wildwuchs befreit, Mauern gerade gerichtet und ausgebessert, Bauglieder der Tempel und anderen Gebäude identifiziert, und die Rekonstruktion einzelner Säulen und Maueransätze (zusammen mit den Informationstafeln) erleichtert dem unerfahrenen Besucher das Verständnis der Fundamente. Parallel dazu vervollständigten punktuelle Ausgrabungen das Bild, das sich die Fachwelt bisher von der archäologischen Stätte gemacht hatte. Ausdrückliches Ziel war es, in Karthaia einen sanften, möglichst naturnahen Tourismus anzuregen. Entsprechend wurden die althergebrachten Wander- und Ziegenwege nicht zu Autobahnen ausgebaut, sondern einzig instand gestellt und markiert. Karthaia soll weiterhin hauptsächlich zu Fuss erreicht werden.
Die Restaurierungs- und Rekonstruktionsarbeiten wurden vor bald zwei Jahren abgeschlossen. Dazu erschien die Publikation, um die es hier eigentlich gehen soll: Καρθαία / Karthaia. Ich muss gleich anfügen, dass ich das Buch nicht gekauft, sondern geschenkt bekommen habe, und zwar von einer der Autorinnen, meiner Studienkollegin Tania Panagou. Wenn ich mir trotzdem eine kurze Besprechung erlaube, dann aus zwei Gründen: Erstens glaube ich nicht, dass irgendjemand, der hier mitliest, zum potentiellen Käuferkreis des Werkes gehört. Zweitens aber finde ich es wichtig zu betonen, wie schön und zugleich nützlich die Publikation einer archäologischen Stätte sein kann, wenn alle Ingredienzen stimmen – wenn Geld und Zeit vorhanden sind, um Stress und Schludrigkeit zu verhindern, wenn eine kleine Equipe mit Herzblut bei der Sache ist, und wenn auf die Selbstbespiegelung in einer abgehobenen Fachdiskussion verzichtet wird zugunsten einer zugänglichen, aber immer präzisen Darstellung. Dass eine relativ entlegene Stätte mit einer so gelungenen Publikation geehrt wird, ist beglückend. Das Buch ist reich und hilfreich bebildert, und der in drei Sprachen parallel gehaltene Text (Griechisch-Englisch-Französisch) überlässt dem geneigten Leser jederzeit die Wahl, welche Fremdsprache er aktuell gerade revidieren möchte.
Technisches: E. Simantoni-Bournia, L.G. Mendoni, T.-M. Panagou, Καρθαία. ...ἐλαχύνωτον στέρνον χθονός... Athen 2009. ISBN 978 960 89366 2 1. Einen Link zum Buch konnte ich beim besten Willen nicht finden.
UPDATE: Wer des Neugriechischen mächtig ist, findet hier ziemlich ausführliche Informationen zur Restaurierung von Karthaia mitsamt der zugehörigen Bilddokumentation. Und anstatt auf Google Maps zeigt der Link zu Kea jetzt auf die offizielle Website der Insel.
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