Freitag, 8. April 2011

Herbst in Kaschmir

Kaschmir, sagte der indische Schauspieler und Regisseur Aamir Bashir bei der Vorstellung seines Films Harud (Autumn) am 25. Festival International de Films de Fribourg (FIFF), sei früher wegen seiner Naturschönheit auch als die Schweiz Asiens bezeichnet worden. Seit den kriegerischen Auseinandersetzungen, die vor rund 30 Jahren begannen, sei das ehemalige Paradies aber zur Hölle geworden.

Diese beiden Sätze können gleichsam als Zusammenfassung des Films verstanden werden. Autumn zeigt nämlich das Leben in dieser Hölle, die sich zwar nicht durch Feuer und offene Brutalität auszeichnet, aber durch Trostlosigkeit und Verzweiflung. Verkörpert werden diese in erster Linie von Rafiq, der jungen Hauptperson, der den ganzen Film hindurch ein dermassen leeres, von jeglicher Energie und Freude freies Gesicht zeigt, dass man ihn schütteln möchte, wenn man nicht wüsste, dass Schütteln nicht reichen wird. Rafiqs älterer Bruder gehört zu den Tausenden von spurlos Verschwundenen, und es ist als ob der Vermisste jegliches Leben aus der Familie saugen würde. Die Mutter leidet still, protestiert wöchentlich gegen die Praxis des Verschwindenlassens. Der Vater, Verkehrspolizist und eine markante Erscheinung mit seiner Uniform, seinen scharfen Zügen und dem grauem Haar, versinkt in der Verzweiflung, bis er buchstäblich den Verstand verliert. Rafiq selber will über die Grenze nach Pakistan flüchten, scheitert aber, muss zurück in die Hölle, in die Apathie. Weder seine Freunde noch die bevorstehende Einführung der Mobiltelefonie können ihn daraus aufwecken. Einmal kommt beim Betrachter kurz Hoffnung auf, als Rafiq nämlich die Kamera seines Bruders findet, den Film entwickeln lässt und auf den Fotos eine junge Frau entdeckt, die ihn offensichtlich interessiert. Aber auch dieser mögliche Rückweg ins Leben stellt sich als Sackgasse heraus, versandet im Niemandsland der Tristesse.

Die Geschichte wird mehr angedeutet als erzählt, vieles muss man sich zusammenreimen. Fragmente des kaschmirischen Herbstes reihen sich aneinander, Hintergrundmusik fehlt vollständig. Die Kamera hat viel Zeit: Es passiert hier nichts. So inszeniert sie meisterhaft Stillleben mit bunten Blättern, blickt desillusioniert auf die Grenzanlagen, folgt lange den davonfliegenden Vögeln. Das lässt die drückende Stimmung in der Hölle Kaschmir erleben und macht Autumn trotz seiner Kürze zu einer schweren Kost: kein Film also, den man aus vollem Herzen weiterempfehlen könnte, aber ein wichtiger Film, einer, der eine Fussnote der Aktualität fühlbar und begreifbar macht. Nur selten gestatten wir dem Kino diese aufklärerische Funktion. Einem Festival wie dem FIFF ist es zu verdanken, dass es immerhin einmal jährlich geschieht.


Technisches: Harud (Autumn), Regie Aamir Bashir, Indien 2010. Von den Filmen aus dem Wettbewerb beim FIFF schaffen es bekanntlich die wenigsten regulär in die Schweizer Kinos. Dass ausgerechnet dieser schwierige Film dazu gehören sollte, ist kaum zu erwarten.

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