Heimat – das sind nicht nur alte Mauern und grüne Hügel.
Heimat – das sind auch Lebensmittel, die hier wuchsen und nicht in Spanien,
Produkte, die hier geschaffen wurden und nicht in China. Das ist auch für den
Nicht-Biertrinker das Bier aus der lokalen Brauerei, gebraut mit Wasser, das in
Gehdistanz entspringt, aus Gersten und Hopfen, die auf den Feldern rund um die
Stadt geerntet wurden. Die Deindustrialisierung unserer Städte betrifft nicht
nur den Fabrikarbeiter, sondern auch den Schreibtischtäter hinter seinem
Bildschirm. Wie ein jeder seine Wurzeln hat, die er nicht folgenlos
abschneidet, so hat auch eine Gesellschaft ihre Wurzeln, ihre kollektive Geschichte,
die sich festmacht an und festsetzt in Orten, auf Strassen und Plätzen, in
Parks und – Fabriken.
Dies ungefähr ist die Gemengelage in meinem Kopf nach meinem
gestrigen Besuch von Je suis à Cardinal.
Die wirtschaftlichen Fakten sind bekannt: Konnte 1996 die geplante Schliessung der
Freiburger Brauerei Cardinal durch Feldschlösschen noch aufgeschoben werden
durch einen regelrechten Volksaufstand, begleitet von Boykottdrohungen und muskulösen
politischen Interventionen, so wurde fünfzehn Jahre später das Abwürgen der
ausgezehrten und geschwächten Brauerei, die Entlassung der noch siebzig
Arbeiter fast schicksalsergeben hingenommen. Der Gegner sass nicht mehr in
einem Schloss am Rhein, sondern unerreichbar hoch oben im Norden, in Dänemark:
Carlsberg hatte nicht nur Feldschlösschen übernommen, sondern quer durch Europa
Brauereien zusammengekauft – nein, nicht Brauereien, vielmehr Markennamen und Produktionskapazitäten,
die es nun emotionslos und profitgeil miteinander abzustimmen galt. Bier kann
man überall brauen, wo ein Kessel steht, so lautete die Devise… als wäre nicht
gerade die Qualität des lokalen Quellwassers das Herz des Gerstensaftes, als
wären Handwerk und Tradition frei beweglich auf der Europakarte, nur durch die
nackten Kosten gelenkt. Also verschob Carlsberg seine Biere von dort, wo sie
herkamen, dorthin, wo gerade Platz war. Es war ein bisschen wie beim
Hütchenspieler auf dem Markt: Wo ist die Münze? Na? Hier? Pech gehabt, da ist
sie schon längst nicht mehr. Und der stumme Komplize grinst zufrieden.
Aber man schliesst ja auf diese Weise nicht einfach eine Brauerei,
man schliesst, beschliesst, Geschichte und Geschichten. Lärm und Geruch
(beziehungsweise Gestank, de gustibus non
est disputandum) sind verflogen, doch die Seele des Ortes wabert noch durch
die leeren Hallen von Cardinal. Man kann die Gebäude, in denen so viele Menschen
über Jahrzehnte ihr Herzblut in die Produktion eines Lebensmittels gesteckt
hatten, doch nicht einfach so sang- und klanglos abreissen; man muss sich doch
von genius loci in gebührender Weise
verabschieden. So überlegte die Theaterschaffende Isabelle-Loyse Gremaud und
machte sich auf, mit Veteranen von Cardinal zu sprechen, ihre Erinnerungen zu
dokumentieren, ihre Anekdoten zu sammeln, ihre Nostalgie und ihre Wut
aufzufangen. Und sie brachte all dies zurück an den Ort des Geschehens, öffnete
die schweren Rolltore und lud die Bevölkerung ein, in Form eines Theaters Abschied
zu nehmen von einem wichtigen Stück Freiburger Industriekultur: Je suis à Cardinal.
Die gewaltigen Hallen sind reingefegt. Stahlträger,
Leitungen – Industriearchitektur, nicht schön, nur zweckmässig, und dadurch
eben wieder schön. Al Comet von den Young
Gods legt einen Soundteppich in die beeindruckenden Raumvolumina, originalen
Fabrikationslärm und Elektroklänge. Gelbe Harasse sind Bühnenbild und Bestuhlung
in einem. Vier Arbeiter und eine Arbeiterin erzählen von ihrem Leben bei
Cardinal, auf Französisch, Hoch-, Berner- und Senslerdeutsch: Die
Alltagssprache in der Brauerei war ein funktionales Röstigraben-Sprachgemisch. Durch
die teils fragmentarisch, teils ausführlich erzählten Biografien blickt man zurück
in die Vergangenheit der Fabrik und der Stadt. Es sind Geschichten aus einer
Zeit der Patrons alter Schule, der Lebensstellen – Bier trinkt man immer,
Cardinal ist der sicherste Arbeitgeber am Platz, so berichtete mehr als einer.
Von Berufsstolz war die Rede: Bei Cardinal zu arbeiten, das war gesucht und
renommiert; die betriebliche Pensionskasse datiert aus den dreissiger Jahren; sicher
ein Dutzend Handwerksberufe wurden hier ausgeführt und zum Teil auch gelehrt: Brauer
natürlich, aber auch Mechaniker jeder Art, Chauffeure, Autolackierer,
Wäscherinnen, Stapelfahrer, Schreiner und sogar einen Maurer beschäftigte die
Brauerei. Es gab eine Blechmusik und einen Kegelclub, und nach Schichtende traf
sich die Cardinal-Familie im Stern,
der Beiz beim Eingang, auf ein letztes Bier. Wobei: Was das denn für eine
Familie sei, lauter Männer, kritisierte eine Wäscherin die fröhliche Nostalgie –
die Frauen seien jedenfalls nach der Arbeit, auch über Mittag, sofort nach
Hause geeilt, um dort die hungrigen Mäuler zu stopfen. Der Rückblick verklärt
vieles, ohne Frage. Aber die Berichte vom Stolz über die selbständige Arbeit,
von der Freude über erfolgreiche Weiterbildungen begeisterten dennoch – und kontrastierten
scharf mit den ernüchterten Erzählungen aus den letzten Jahren, die nur noch
ein langsames Sterben waren, ohne Neueinstellungen, ohne Lehrlinge, ohne
Perspektive. Was die Sibra Holding in den siebziger Jahren vielen
Kleinbrauereien angetan hatte, Aufkauf und Schliessung, das widerfuhr nun
Cardinal selber.
Die Bearbeitung und Inszenierung dieser Lebensgeschichten überzeugte
in nie erwarteter Weise. Das waren kraftvolle, kernige Texte ohne Längen oder Peinlichkeiten,
da stimmten Rhythmus und Dramaturgie, da nahmen in Gestalt von Jean-Luc Borgeat, Olivier Havran (der Oedipus in Jocaste Reine), Luc Spori und Niklaus Talman namenlose Arbeiter ein letztes Mal
Fleisch und Blut an, und es hätte niemanden erstaunt, wenn die vier am Schluss ein
Glas Selbstgebrautes aufgetischt hätten, so lebensnah verkörperten sie die
altgedienten Charakterköpfe von Brauern, Mechanikern und Chauffeuren. Wir sahen
einen seelenvollen Tribut an ein wichtiges Stück Freiburger Industriegeschichte
und ein Abschiedsritual im besten Sinn des Wortes. Das Fabrikgelände an bester
Innenstadtlage wurde von Stadt und Kanton übernommen; dort soll in den nächsten
Jahren ein Technologiepark entstehen, wie das halt so geht bei der Gentrifizierung.
Wer Bier trinkt, weicht am besten aus auf die überall florierenden
Mikrobrauereien.
Technisches: Wegen
grossen Erfolges gibt es eine kurze Verlängerung: Heute und morgen abend sowie
nächste Woche vom vierten bis zum sechsten wird Je suis à Cardinal nochmals
gespielt. Ich empfehle den Besuch mit Nachdruck jedem, der es sich einrichten
kann. Karten (bzw. Bierdeckel) zu 25 Franken gibt es bei Fribourg Tourisme (026
350 11 00) und mit etwas Glück gewiss auch an der Abendkasse im Empfangshäuschen
am Passage du Cardinal.
Freitag, 29. Juni 2012
Je suis à Cardinal
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Sonntag, 24. Juni 2012
Klischee essen Stück auf
Schon vor einigen Jahren hat Direktor Ernst Gosteli
ernüchtert festgehalten, das Theater an
der Effingerstrasse habe inzwischen wohl den gesamten weltweiten Vorrat an Einpersonenstücken
durchgespielt. Für die kleine, knapp kalkulierende Bühne kann jeder zusätzliche
Schauspieler potentiell das Budget ins Minus kippen lassen. Umso mehr
Kreativität fliesst alljährlich in die Gestaltung des Spielplans, der Klassiker
des Repertoires mit neu geschriebenen Stücken kombiniert und sich mit sicherer
Hand in der Literatur und beim Film bedient. Zum Saisonschluss gabs einen (grosszügig
besetzten) Rückblick ins deutsche Kino der Siebziger: Angst essen Seele auf, Rainer Werner Fassbinders Geschichte über
die unmögliche Liebe zwischen einer deutschen Witwe und einem zwanzig Jahre
jüngeren Marokkaner.
Das war nun nicht nur episches Theater, sondern geradezu
Anti-Theater. Auf der Bühne agierten wandelnde Klischees, mit gröbstmöglichem Meissel
geformte Figuren. Keinen Moment konnte man sich dem Fluss der Geschichte
überlassen, jede Geste, jeder Satz war über- und zugespitzt. Martin Helstone
als Ali musste jenes guttural akzentuierte Infinitiv-Deutsch sprechen, das in
Film und Theater den Ausländer markiert. Die bedauernswerte Karo Guthke
verkörperte die Kneipenwirtin Barbara als menschgewordenen Fettfleck. Emmis
Kinder, Nachbarinnen und Kolleginnen zeigten einen durch keine Konventionen
abgemilderten Rassismus: „Schweine sind das, Schweine“ war die typische
Reaktion auf die geringste Erwähnung eines Ausländers. So entwickelte sich bedeutungsschwanger, sehr didaktisch und
etwas langweilig die zunehmende, brutale Isolation des Liebespaares Emmi und
Ali von seiner gesamten Umwelt.
Nach der Pause wurde das Stück vielschichtiger. Als wäre
Emmis verzweifelt-utopischer Wunsch wunderbarerweise in Erfüllung gegangen,
fanden die beiden Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsreise, die eher eine
Flucht war, ein überraschend verändertes Umfeld vor. Noch reserviert, aber
durchaus freundlich knüpften die vormals schneidend Feindseligen wieder
Kontakte. Doch die Annäherung hatte ihren doppelten Preis: Die meisten suchten
Emmis Nähe aus schierem Eigennutz, und sie erkaufte die wieder entstehenden
Beziehungen damit, dass sie sich ihrerseits distanzierte – von ihrer neuen
jugoslawischen Kollegin beispielsweise, aber auch (andeutungsweise) von ihrem
Mann. Mit dem Ende des gegnerischen Sperrfeuers erstarb auch die
Schicksalsgemeinschaft zwischen Ali und Emmi. Das Stück schloss jedoch völlig
offen – illusionslos und dennoch hoffnungsvoll.
Dass die Geschichte so klischiert erzählt wurde, erschwert
ihre Würdigung. Kaum ein Akteur konnte den Holzschnitt seiner Figur nuancieren,
aber das schien auch nicht gewollt zu sein. Erwähnung verdienen immerhin
Giulietta S. Odermatt, die unter der betulich-naiven Oberfläche ihrer Emmi der
schleichenden Entsolidarisierung beklemmenden Ausdruck verlieh, und Robert
Runer, der den Kolonialwarenhändler Angermayer als erschreckend lebensnahen
Alltagsrassisten porträtierte. Ein Meisterwerk war die Bühne von Peter
Aeschbacher, auf der einige wenige Requisiten einzig durch die Lichtregie und
das Ziehen eines Vorhangs von der Kneipe zum Treppenhaus, vom Wohnzimmer zum
Laden wurden. Die Inszenierung von Regisseur Stefan Meier jedoch war ein
sperriges Stück politisch-engagiertes Theater, das wie aus einer fernen Zeit
gefallen schien.
Technisches: Angst
essen Seele auf wird am Theater an der Effingerstrasse noch die kommende Woche gespielt. Dann ist Saisonschluss, und wir können uns eine Sommerpause lang auf das
spannendste Programm freuen, das an der Effingerstrasse in den letzten Jahren
angekündigt war. Der Film von Rainer Werner Fassbinder lief vor ein paar Tagen
bei arte und ist deshalb noch bis am Mittwoch in der arte-Videothek abrufbar.
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Freitag, 15. Juni 2012
Lions, Tigers, and Women
Ich kann nicht über den letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater
Bern berichten, ohne zuvor eine kurze kulturpolitische Anmerkung zu machen. Auf
diesen Sommer fusionieren Stadttheater und Berner Sinfonieorchester zu Konzert Theater Bern. Bereits über diese Fusion wie über den wahnsinnig originellen
neuen Namen liesse sich trefflich debattieren; mir geht es aber um die Personalpolitik. Ein neuer Direktor wurde engagiert, Stephan Märki, Generalintendant des
renommierten Deutschen Nationaltheaters in Weimar, und wie üblich und wohl
unvermeidlich in solchen Fällen folgten weitere Rochaden auf den leitenden
Posten. Anfang Mai erfuhr man, dass der Vertrag mit Ballettchefin Cathy Marston,
die gerne in Bern geblieben wäre, nach Ablauf der nächsten Saison nicht
verlängert wird.
Nun stelle ich nicht in Frage, dass es bei unterschiedlichen
Ansichten in dieser Konstellation natürlich der (neu verpflichtete) Chef ist,
welcher bleibt, seine Untergebene, die gehen muss. Enttäuscht hat mich hingegen,
wie sang-, klang- und stillos die Ballettchefin abserviert wurde. Der neue
Intendant wird mit ein paar formelhaften Worten des Bedauerns zitiert, um dann spitz
anzumerken, die Sparte Tanz müsse mutiger werden. Mutiger, aha. Und das lässt ihm
der Stiftungsrat widerspruchslos durchgehen? Hat denn niemand der am Entscheid
Beteiligten Marstons Arbeit in den letzten Jahren verfolgt? Hat keiner darauf
hingewiesen, oder mindestens begriffen, was sie Bern alles gebracht hat? Dabei
ist die Liste doch lang: ihr zugänglicher, komplexlos
ästhetischer Stil (eine Wohltat nach dem bemüht intellektuellen Tanz unter
Stijn Celis); ihre Fähigkeit, Geschichten – wahre und erfundene – auf die
Tanzbühne zu bringen, die man dort nicht erwartet hätte; ihre präzise Analyse
der Figuren, ihr intensives, aber nie plakatives Sezieren von Gedanken und
Gefühlen; ihr freudiges Zugehen aufs Publikum mit öffentlichen Proben und Tryouts;
ihre schrankenlose Offenheit gegenüber der restlichen Berner und weiteren
Kulturszene, die sich insbesondere in der kreativen, respektvollen musikalischen
Zusammenarbeit gezeigt hat.
Geradezu exemplarisch war dies alles im letzten, eindrücklichen Ballettabend
der Saison zu besichtigen, Lions, Tigers,and Women. Nach For Play, einem
athletischen, rasanten, farbenfrohen Stück der New Yorker Choreografin Andrea
Miller zu Musik von Bach und Moderneren, stellt Cathy Marston im zweiten Teil, Hunting Me, die Grosswildjägerin Vivienne
von Wattenwyl ins Zentrum. Die Geschichte ist bekannt von Lukas Hartmann und
aus dem Naturhistorischen Museum: Die englisch-bernische Burgerstochter begleitete
ihren Vater, den Abenteurer Bernhard Perceval von Wattenwyl, auf Safari nach Afrika;
nachdem er durch einen Löwen zu Tode gekommen war, übernahm die Dreiundzwanzigjährige
die Leitung der Expedition und schoss die restlichen geplanten Grosswildeinheiten.
Auf der Bühne des Stadttheaters sind aber kaum Jagd- oder Heldengeschichten zu
sehen. Der Fokus liegt fast durchgehend auf dem Innenleben der seltsamen
Jägerin, die dem nervösen, safaribeigen Umfeld im langen blauen Kleid fast
entrückt scheint. Die Musik kommt live von der Pamela Méndez Band, ein jazziger
Pop in düsterer Clubatmosphäre; Band und Tänzer teilen sich die Bühne. Die
Bund-Kritikerin bemängelte dies als letztlich
unsinnigen Wettstreit zwischen Tanz und Musik; für mich ist es eher ein Beleg für
die Absenz jeglicher Eitelkeit bei der Ballettchefin, die sich auf eine
gleichwertige Partnerschaft mit der Sängerin eingelassen hat, weit entfernt
davon, einfach eine Begleitmusik für ihr Ballett einzukaufen. Allerdings war
die Musik der schwächere Part in diesem Duett; besonders im schlichten
Solostück am Schluss stiess Pamela Méndez‘ Stimme hörbar an ihre Limiten.
Eine Saison des Bern:Balletts mit Cathy Marston bekommen wir
noch, immerhin, und die werde ich als kostbares Erlebnis geniessen. Spannend
tönt alles, ganz besonders freue ich mich aber auf die erneute Zusammenarbeit
mit der Camerata Bern in einem Stück über Anna Göldi.
Technisches: Die
Dernière geht in diesen Minuten über die Bühne. Weiter nachgelesen werden kann das
Social-Media-Experiment zur Begleitung des Stücks, nämlich Vivienne von
Wattenwyls Blogeinträge und Twitter-Posts; Bewegtbilder gibts bei art-tv.ch. Zu
einer völlig gegenteiligen, vernichtenden Kritik – soweit ich seine überladen-selbstverliebte
Prosa richtig entschlüsselt habe – kommt poltron auf tanznetz.de.
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Montag, 4. Juni 2012
Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart
Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor
Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen
geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs,
zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge
Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in
der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und
präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner
Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das
Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen,
christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen
Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte
Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein
Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan
hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich
gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom
Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen;
bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.
Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter
beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln
dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum
eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen
hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben
gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete).
Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich
durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und
sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von
zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war
nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen
Menschen niederzureissen versuchten.
Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die
Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen
in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar
durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des
Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten
Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung
initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er
beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu
haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete,
durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und
Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es
entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden
Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende
Religion.
Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden
analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen
und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine
gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge
geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor
erschienene Monumentalwerk Der Glaube.
Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten
widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die
schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um
eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse
zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche
Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein
grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980
Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen
sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie
geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht
gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im
Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben
den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu
identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu
den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem
Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die
konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.
Technisches: Hubertus
Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss.
Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.
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