Freiburg ist nicht Weimar und schon gar nicht Athen. Aber es
gibt wohl in der Geschichte jeder Stadt Perioden, die etwas Klassisches an sich
haben; Zeiten, in denen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Umstände sich gegenseitig so in die Hände spielen, dass künstlerische oder denkerische
Genialität in hoher Dichte aufleuchten kann. Eine solche Zeit war für Freiburg
die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo in der Stadt ein intensives,
hochstehendes und unerwartet gut erhaltenes Skulpturschaffen stattfand. Fünf
Bildhauerwerkstätten waren teils neben-, teils nacheinander in der Stadt aktiv:
diejenige des nicht namentlich bekannten „Meisters der grossen Nasen“,
diejenigen von Martin Gramp, Hans Roditzer, Hans Geiler und (als letztem, alle
überstrahlend) Hans Gieng. Alle Meister waren wohl aus dem süddeutschen Raum,
damals das Zentrum der Bildhauerkunst, ins Uechtland gezogen und fanden dort
Arbeit, Brot und bescheidenen Ruhm.
Wohlgemerkt: Erwähnenswert ist nicht die Tatsache, dass es in
Freiburg Bildhauer gab. Solche gehörten für eine Stadt ab einer gewissen Grösse
jahrhundertelang zum unverzichtbaren Personal, galt es doch, profane und
geistliche Gebäude gleichermassen plastisch auszuschmücken: Stadttore,
Repräsentationsbauten und beispielsweise Brunnen bedurften einer Ikonografie
der Macht, und in den vielen Kirchen verlangten dutzende von Altären nach
Ausstattung mit Statuen und Reliefs. Machtbewusste Bürger und Magistraten,
fromme Bruderschaften, ehrgeizige Pröpste, Äbte und Kapitularen waren die
grosszügigen und wohl kalkulierenden Auftraggeber. Erwähnens- und
dokumentierenswert ist vielmehr, dass das kleine Freiburg über fünfzig Jahre
keine Dutzendware, sondern eine so hochstehende Skulpturenproduktion
hervorbrachte. Die Gründe für diese kleine Freiburger Klassik sind natürlich
vielfältig. Reichtum und Einfluss der Stadt wuchsen durch ihre territoriale
Expansion (sprich Eroberungen) zu Beginn des 16. Jahrhunderts beträchtlich an.
Die städtischen Eliten waren international gut vernetzt. Auch der Statusgewinn
der Stadtpfarrei spielte eine Rolle, der durch die päpstliche Errichtung des
Stiftskapitels zu Sankt Nikolaus vor genau 500 Jahren gekrönt wurde. Nicht zu
vergessen sind ferner die Konsequenzen der Reformation im näheren Umkreis: Das
bilderstürmerische Bern hatte zwar die entsprechenden Fachkräfte vertrieben, war
aber für profanen Schmuck weiterhin auf Bildhauer angewiesen. So schuf denn
Hans Gieng die berühmten Berner Brunnenstöcke – womit zuletzt auch die
wichtigste Ingredienz solcher Glanzzeiten erwähnt ist, das künstlerische Genie.
Die Freiburger Skulptur der Jahrzehnte nach 1500 war in den
letzten Jahren Gegenstand eines umfangreichen Nationalfondsprojekts. Erarbeitet
wurde nichts weniger als ein Catalogue
raisonné, ein imposantes Werk in zwei Bänden, dazu gewissermassen als
populärwissenschaftliche Ergänzung ein etwas zugänglicherer Bildband: Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas.
Und da man Statuen am besten in echt betrachtet, analysiert und vergleicht,
trug das Musée d’art et d’histoire
Fribourg einen Grossteil der erhaltenen Werke der fünf erwähnten Meister
aus Kirchen, Kapellen, Klöstern und eigenen Beständen zu einer
Überblicksausstellung zusammen. Beides zusammen bot eine Einführung in diese
Freiburger Klassik und ermöglichte eine vergleichende Würdigung dieser
verstreuten und oft übersehenen Werke.
Ausstellung wie Bildband schienen freilich auf den ersten
Blick etwas unklar gegliedert. Im Museum starteten wir in einem grossen,
reichen Raum, von der Fülle der Retabel fast erschlagen, während andere Statuen
und Details einzelne Aspekte vertieften. Erst im zweiten Teil wurden die
Techniken erläutert und die fünf Werkstätten vorgestellt und charakterisiert. Dem
optischen Genuss tat dies keinen Abstrich, aber umgekehrt wäre mir logischer
erschienen. Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: „Mit Bildern leben“, „Wie
die Statuen entstanden“ und „Reichtum, Ansehen, Macht“. Der Erzählfaden beginnt
bei den in der Stadt sichtbaren Skulpturen, vor allem den Brunnen, geht dann zu
den Heiligenfiguren und Retabeln über, um dann mittendrin die Akteure vorzustellen,
nämlich sowohl die wichtigen Auftraggeber als auch die Künstler und ihre
Technik, und zum Schluss auf die Selbstdarstellung von Zünften, Klerus und
Obrigkeit mittels Skulpturen zu sprechen zu kommen. Ich fand das etwas
zufällig, hätte das ganze vermutlich anders arrangiert, muss aber nach der
Lektüre unumwunden zugeben, dass diese Gestaltung Sinn und ein Ganzes ergibt,
vor allem, wenn sie in einem Schwung gelesen wird – was wiederum eigentlich
nicht schwierig ist, da das Buch in erster Linie ein Bilderbuch ist und an
einem ruhigen Abend ohne weiteres bewältigt werden kann. Zum Gesamtkatalog kann
ich mich nicht äussern, da ich diesen aus Mangel an Regalplatz und spezifischem
Interesse nicht beschafft habe. Bildband und Ausstellung hingegen ermöglichten
dem breiten Publikum einen kompakten Einblick und schufen ein umfassendes
Verständnis.
Technisches: Die
Ausstellung „Sculpture 1500“ war im MAHF vom 14.10.2011 bis zum 19.02.2012 zu
sehen gewesen. Die Begleitpublikation ist sowohl auf Deutsch (hier zitiert) als
auch auf Französisch erschienen: Jean Steinauer et al., Skulptur 1500. Freiburg
im Herzen Europas. Fotografien von Primula Bosshard, Übersetzung von Hubertus
von Gemmingen. Baden, hier+jetzt 2011. ISBN 978 3 03919 227 4. Der
Gesamtkatalog ist im Imhof-Verlag erschienen: Stephan Gasser, Katharina
Simon-Muscheid, Alain Fretz und Primula Bosshard (Fotos): Die FreiburgerSkulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung Funktion und Auftraggeberschaft.
Band 1: Text, Band 2: Katalog. Petersberg, Michael Imhof Verlag 2011. ISBN 978
3 86568 626 8.
Freitag, 31. August 2012
Freiburger Klassik
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Phemios
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Donnerstag, 23. August 2012
Mit Chrüüz und Fahne
Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was
beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel
wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits
begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg
vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der
Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese
Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der
Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater
inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden
Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und
Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso
treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten
konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert
Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die
wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere
Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die
Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen
Gesellschaft.
Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor
Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei
Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei
Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies
ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil,
dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen
Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis
zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus.
Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer
Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann
aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische
Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder.
So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn
versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz
jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in
die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne
hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter
prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt
Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier
tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im
Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant,
wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer
verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen
die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem
Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein
Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.
Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die
Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die
dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen
auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied
wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben
sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die
moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz
persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla
geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In
bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges
Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella
Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im
Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem
Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim
Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt,
wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn
das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen
erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.
Technisches: Mit
Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt;
sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist
für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige
Theaterteam.
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Phemios
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