Wenn man im Musée Romain von Vallon die Treppe hochsteigt, ist man erst mal sprachlos: Dort hängt, drei auf zwei Meter gross, mit feinstem Tuschstrich gezeichnet, der Vogelschau-Plan der Stadt Rom zur Zeit Konstantins von Gilles Chaillet. Eine Wucht. Das opus magnum ist Dreh- und Angelpunkt der neuen Sonderausstellung „La Rome des Césars“ und ihrer Begleitveranstaltungen.
Eigentlich ist es aussichtslos, einem solchen Werk noch mehr Magie hinzufügen zu wollen. Die Teams aus Arles, das die Ausstellung konzipiert, und aus Vallon, das sie für die Schweiz adaptiert hat, explorieren jedoch geschickt die verschiedenen Dimensionen des Plans, die archäologisch-kulturgeschichtliche, zeichnerisch-künstlerische und persönliche.
Das geballte archäologische und historische Wissen, das im Plan steckt, wird auf fünfzehn thematischen Schautafeln vertieft, die einen Aspekt aus der Fülle des Materials herauspicken, beleuchten und in Vergleich bringen mit Arles und der römischen Schweiz. Etwas textlastig, gewiss, etwas vorhersehbar, aber durchaus stringent geschrieben, innert nützlicher Frist gelesen und besonders aufschlussreich, was den Schweizer Teil angeht. (Nur schade, dass es in Vallon etwas eng ist und man sich vor den Tafeln gelegentlich auf die Füsse tritt.)
Der Glanz des zeichnerischen Handwerks strahlt den Betrachter schon aus dem monumentalen Plan an. Eindrücklich ist es, dem Zeichner im Video beim Tuschen zuzuschauen – eine Fleissarbeit sondergleichen. Für Comiclaien aufschlussreich sind die ausgestellten Originalseiten aus Comics von Chaillet: Bleistiftentwürfe, getuschte Reinzeichnungen, kolorierte und teilkolorierte Blätter. Der Arbeitsprozess wird sichtbar. Gleichzeitig vermisst man genauere Informationen über das Vorgehen des Künstlers, die auch sein Vortrag am Tag vor der Eröffnung nur beschränkt liefert: Was ist gesichert, was erfunden? Wo und wie ergänzt der Künstler die Wissenslücken der Archäologen? Und damit verbunden auch: Was sind Sinn und Unsinn, Nutzen und Risiken von Rekonstruktionen? Einige Modelle und Rekonstruktionen von römischen Gebäuden in der Schweiz liefern dazu weiteres Anschauungsmaterial; die Diskussion wird aber leider nicht geführt.
Dafür rückt zu Recht Gilles Chaillet selber in den Fokus, dieser Verrückte („Je ne savais pas que vous étiez fou“, sagte ihm sein Verleger, als er den Plan zum ersten Mal sah), dieser grosse Junge, der sich seinen Kindertraum erfüllt hat: Als er mit acht Jahren beim Warten auf seinen Haarschnitt Le journal de Tintin gelesen hatte, beschloss Klein-Gilles, Comiczeichner zu werden. Darauf entdeckte er die Comic-Serie um den gallorömischen Helden Alix und damit seine Faszination für die Antike. Und bereits im zarten Teenageralter machte er sich an seinen Plan von Rom, Version 1.0. Der Massstab war noch bescheidener, die Perspektive etwas wacklig, die Fantasie noch etwas freier, aber alles war schon da. Eine zweite, bessere Version schuf er zehn Jahre später; die endgültige dann, nachdem er Unmengen archäologischer Literatur gelesen und eine riesige Kartei zu allen bekannten Monumenten des antiken Roms angelegt hatte. Neben seinem Brotberuf als Zeichner für Asterix, Alix und eigene Comics sass er insgesamt viertausend Stunden im Atelier an seinem Plan; weitere zweitausend Stunden wandte Chantal Defachelle, seine Frau, für die Kolorierung auf. Ein Hobby nur, mehr nicht. Es brauchte einen ähnlich verrückten Verleger, der davon so begeistert war, dass er beschloss, diesen Plan herauszugeben. Aber wie? Herausgekommen ist ein dickes, respektheischendes Buch. Angeordnet um die einzelnen (ausklappbaren) Teile des Plans exploriert und erklärt es die Stadtviertel Roms, ihre Architektur und Baugeschichte, das tägliche Leben. Beigelegt ist Chaillets Plan als ganzes (leider, aber einleuchtenderweise nur in halber Originalgrösse). Am Samstag war bei Payot in Freiburg Signierstunde: Ein entspannter, freundlicher Gilles Chaillet nahm sich trotz der respektablen Warteschlange alle Zeit der Welt, um in unser Exemplar das Kapitol zu skizzieren, eine launische Widmung hinzuzufügen und mit uns zu plaudern.
Ein P.S. zum Römermuseum Vallon (das ich deswegen gut kenne, weil ich dort seinerzeit Führungen gemacht habe): Das Haus wurde an der Stelle des in den Achtziger Jahren ausgegrabenen römischen Landhauses gebaut und 2000 eröffnet. Um die beiden superben Mosaiken herum zeigte eine Dauerausstellung ausschliesslich an Hand von Ort gefundenen Objekten das Alltagsleben vor Ort. Als ich das Museum am Sonntag betrat, war ich deshalb zuerst mal sprachlos: Die ganzen Vitrinen waren fort; an ihrer Stelle standen die erwähnten wenigen Modelle römischer Bauten aus der Schweiz. Die Vitrinen, so erfuhr ich, seien beim archäologischen Dienst in Freiburg zwischengelagert. Auf dessen Website werde ich beruhigt: All das gehört zur Ausstellung. Einverstanden, dass man für einen grossen Künstler das Museum freiräumt. Aber man hätte den Platz sinnvoller nutzen können als für ein paar eher zufällig ausgewählte Modelle, währenddem im Obergeschoss Enge herrscht. Und zur Gewohnheit wird das hoffentlich auch nicht werden: Das thematisch kompakte und didaktisch überzeugende Museum ist zur Manövriermasse zu schade.
Technisches: Chaillet, Gilles: Dans la Rome des Césars. Grenoble, Editions Glénat 2004. ISBN 2-7234-4050-8.
Musée Romain de Vallon, Vallon/Carignan. Am Museum fährt zwar alle paar Stunden ein Bus aus Freiburg oder Payerne vorbei, aber mit einem Individualverkehrsmittel ist man deutlich besser bedient – und kann gleichzeitig eine Spazierfahrt durch die Broye anhängen, z.B. zur Abbatiale von Payerne, der vielleicht schönsten romanischen Kirche der Schweiz, oder zu ihren kleinen Schwestern in Donatyre oder Corcelles. Oder natürlich, wenn man von den Römern noch nicht genug hat, nach Aventicum.
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