Vor drei Wochen war ich im Theater an der Effingerstrasse; gegeben wurde die Medea von Euripides, ein Stück, das ich kenne und liebe und in meiner Gymnasial- und Unikarriere schon mehrmals gelesen habe. Es fällt mir aber schwer, darüber zu schreiben – ich weiss nicht so recht, was ich denken und sagen soll. Hier ist das Problem: „Medea“ ist eine bis zum äussersten stringente und präzise Tragödie. Es brodelt durchgehend. Erzählt wird Medeas Rache. Sie beginnt am Boden zerstört, von ihrem Mann Jason verlassen und aus dem fremden Korinth ausgewiesen, ganz allein und rechtlos – und setzt dann geduldig, hartnäckig, unerbittlich Stück um Stück ihres Racheplans zusammen: Sie gewinnt die Solidarität der Korintherinnen, erwirkt einen kurzen Aufschub der Ausweisung, sichert sich eine Zuflucht in Athen, lullt den treulosen Gatten in Sicherheit – und schlägt dann zu. Mit ihrem Triumph, um einen fürcherlichen Preis erkauft, endet die Tragödie.
Soweit Euripides, und man mag verstehen, dass ich eine Inszenierung erwartet habe, welche diese Gestalten von archaischer Grösse schonungslos aufeinanderprallen und Rechenschaft über ihr Tun ablegen lassen würde. Und dann dies: Das Drama ist verhalten, recht eigentlich episches Theater in Brechtscher Tradition; Emotionen schaffen es kaum über die Oberfläche; die Figuren haben im schlicht-gräzisierenden Dekor eine Tendenz zur Schablone. Zwei Dinge tragen wesentlich dazu bei. Einmal die Übersetzung: eher philologisch als poetisch (was ich üblicherweise durchaus für eine Qualität halte), verstärkt sie den Verfremdungseffekt. Sie scheint mir nicht für die Bühne geschrieben, im Mund der Schauspieler wird sie zur elaborierten Rezitation. Und dann der Chor, diese Knacknuss einer jeden modernen Inszenierung von antikem Drama. Die korinthischen Frauen werden zu einer einzigen, einer distanzierten Vertrauten von Medea. Das ergibt schöne Szenen der Solidarität, aber auch gesucht wirkende Auftritte, wenn die Korintherin sich – mitten in einem Dialog zweier Figuren – aus dem Halbschatten am Bühnenrand erhebt, in die Mitte tritt, etwas Gutes, Wahres, Schönes spricht und wieder in den Schatten zurückkehrt.
Dies also ist mein Dilemma: Ist das Theater an der Effingerstrasse, indem es eine griechische Tragödie kaum aktualisiert und mit Effekten äusserst zurückhält, jetzt vielleicht gar Avantgarde, und ich sensationshungriger Simpel habe es gar nicht gemerkt? Oder hat es Regisseur Markus Keller einfach verpasst, einen entscheidenden Trumpf zu spielen, nämlich die Emotionalität des Stücks? Er hat den Text in den Mittelpunkt gestellt, und das durchaus zu Recht. Dieser Text ist von einer bedrückenden Aktualität und einer Qualität, die locker den Abend trägt. Damit könnte ich eigentlich die Besserwisserei sein lassen, wenn es nicht ein starkes Argument für die verpasste Emotionalität gäbe: die Medea der wunderbaren Sabine Krappweis. Auch da ist vor allem Verhaltenheit, aber was für ein Vulkan brodelt unter der Oberfläche! Im flammend roten, langen Kleid lässt Krappweis hinter jedem Drehen des Kopfes, jeder Handbewegung, jedem Blick Abgründe von kaum gebändigten Emotionen aufblitzen und spielt damit die ganze Gesellschaft an die Wand. Das soll sie auch – es ist ihr Stück, ihr Plan, ihre Rache, und wie sie zum Beispiel Kreon, nominell der König des Landes und derjenige, der ihr die Ausschaffung ankündigt, als vertrottelten Alten erscheinen lässt, ist von schneidender Brillanz. Trotzdem würde man es gerne sehen, wenn auch die anderen Figuren die Ungeheuerlichkeiten, die sie sehen und begehen, etwas unmittelbarer fühlen liessen, statt sie nur zu referieren. Der Bote, der doch soeben den grausamen Tod Kreons und seiner Tochter miterlebt hat, berichtet davon wie von einem Autounfall mit Sachschaden. Und Jason, der Braut und Schwiegervater verloren hat und mit ansehen muss, wie Medea über den blutigen Leichen der gemeinsamen Söhne stehend triumphiert, greift sich ein bisschen ans Herz, als wäre er zu schnell gerannt. Mit Verlaub: Das würde man nur zu gerne mit dem gleichen unterirdischen Brodeln sehen, das einen bei Medeas Rache so atemlos in den Sessel gedrückt hat.
Technisches: Da ich so spät blogge, ist die Dernière inzwischen bereits vorbei. Eine Kurzkritik findet sich im Blog von Dan Riesen. Wie schon beim Revisor in Biel war der Bund-Kritiker deutlich begeisterter als ich. Ich mag Herrn Gosteli das gute Echo natürlich von Herzen gönnen und sage hier gerne noch ein bisschen deutlicher, dass auch ich das Theater mit starken Eindrücken verlassen habe.
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