Sonntag, 9. September 2012

Unternehmen Paradies

Hier ist König Albrechts Blut in den Boden gesickert. Von hier aus hat sein Sohn Leopold die Rache an des Vaters Mördern begonnen. Und hier hat Albrechts Witwe, Königin Elisabeth, ein Feld abgemessen, das nicht dem Kampf noch der Rache, sondern der Ruhe und dem Gebet geweiht sein sollte: das Doppelkloster Königsfelden. Hoch und elegant ragt das Mittelschiff im Bettelordenstil empor; im Inneren beeindrucken glasklare Formen, sparsame Ornamente unterstreichen das blendende Weiss der renovierten Wände, ein schlichter Lettner versperrt den Blick nach vorne, der Blick darüber hinweg erahnt aber im abendlich dunklen Chor die gotischen Glasfenster, die zu den schönsten der Welt gehören.

Nach Mit Chrüüz und Fahne in Villmergen also schon wieder Theater am historischen Schauplatz im Aargau. Der Anlass ist aber kein Jubiläum, sondern eine Tradition: Alle paar Jahre bezieht das Königsfelder Festspiel die Klosterkirche und bringt ein Tanzstück biblischen oder historischen Inhalts zur Uraufführung. Diesjähriges Thema ist die Geschichte des Ortes selber. Es liegt ein grosses dramatisches Potenzial in diesem Unternehmen Paradies, diesen beiden Strategien, mit denen König Albrechts Angehörige auf den Mord reagieren, der männlichen des Sohnes und Erben, der Rache sucht (suchen muss), und der weiblichen der Witwe, die sich um das Seelenheil des Verstorbenen sorgt und damit gleichzeitig Raum für Frieden und Versöhnung schafft. Und wie es in Königsfelden Brauch ist, wird dieses Geschichte im dichten Zusammenspiel von Musik, Bewegung und Licht erzählt. Der Begriff „Gesamtkunstwerk“ ist hier so angebracht wie selten. Der Tanz ist eher erzählerische Bewegung als Ballett; die Musik ist nicht lediglich Begleiterin, sondern gleichberechtigte Partnerin; und beide, Tanz und Musik, forschen den einzigartigen Raum aus, machen ihn sich zu eigen: Durch das schmale Tor im Lettner sieht man Schemen und Lichter im Chor; von rechts, hinter den Säulen zum Seitenschiff hervor, ertönt die Musik; die Sängerinnen und Sänger stehen bald oben auf dem Lettner, bald mitten in der Handlung, bald sind sie irgendwo verborgen.

Ausgeführt wurde das alles unter der Gesamtleitung von Peter Siegwart mit grosser Perfektion. Das Vokalensemble Zürich sang mit atemberaubender Schönheit Bach, Monteverdi und Siegwart selber; die individuellen, Alltagskleidern ähnlichen Kostüme (Sabine Schnetz), welche die zehn Sängerinnen und Sänger anstelle der sonst üblichen schwarzweissen Choruniform trugen, machten augenfällig, dass es sich nicht um namenlose Choristen, sondern um Solisten von höchstem Niveau handelte. Die Musiker des Ensemble la fontaine und die ad hoc rekrutierten Mitglieder des Tanzensemble Königsfelden (Choreografie Félix Duméril) standen ihnen in nichts nach. Das Lichtdesign von Bert de Raeymaecker machte den Raum erlebbar. Als schönste Passagen sind mir zwei im Gedächtnis geblieben: Der Tumult der Rachefeldzüge, in deren Mitte Königin Elisabeth und ihre Tochter Agnes ruhig, edel und bestimmt den Raum für Stille und Gedenken sich aneigneten. Und das Zur-Ruhe-Kommen der Schlussszene in der halbdunkeln, von Kerzen beschienenen Kirche, über der, jetzt von aussen angestrahlt, die kostbaren Glasfenster leuchteten wie das himmlische Jerusalem.

Technisches: Unternehmen Paradies ist noch die nächste Woche (Mittwoch bis Samstag) zu sehen, Karten gibt es online. Letzten Mittwochabend waren leider einige Reihen nicht besetzt – es sollte also wohl noch Plätze geben, und es wäre schade, wenn sie leer blieben. Einziger Wermutstropfen: Wer bis zur Abfahrt seines Zuges noch ein Glas trinken möchte, sucht sowohl im Festspielbistro als auch in der näheren Umgebung des Bahnhofs Brugg vergeblich. Einzig direkt die Altstadt anzusteuern, wäre wohl eine gewinnbringende Strategie gewesen.

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