Altjahreswoche, etwas Zeit zum Zurückblicken und -denken. Ein reiches Jahr spannt seine letzten Fäden. Ungezählte Erinnerungen werden bleiben als Schatz der kommenden Jahre, einige unübersehbar, andere so gering, dass sie mir erst nach langer Zeit wieder zufällig durch den Kopf schiessen werden. Etwas handfester ist die Zahl, die hier gleich rechts steht: Um 35 Artikel ist Phemios Aoidos dieses Jahr gewachsen, hat dabei seinen fünften Geburtstag gefeiert und (inkognito) die Zweihundertfünfzigermarke überschritten. In reinen Zahlen setzt sich der lange Negativtrend fort. Das wird sich ganz sicher nicht nächstes Jahr ändern, in dem sich der Fokalpunkt meines Lebens und meiner Energie massiv verschieben wird, und in dem radikal neu definiert wird, was wichtig und was dringend ist. Ich entlasse diesen Blog also in eine ungewisse Zukunft. Das Schreiben war mir nie in dem Masse Sauerstoffersatz, als dass ich für künftige hektische Phasen mir daraus Besinnung und Erholung versprechen würde. Zugleich weiss ich: Prognosen sind nicht mein Ding, und das Leben hat an sich, dass es am laufenden Band für Überraschungen sorgt. Darum wünsche ich ganz simpel hier und heute uns allen einen guten Jahreswechsel und ein frohes neues Jahr, offene Augen und Ohren – und reichlich Material, um sie zu füllen.
Montag, 31. Dezember 2012
Donnerstag, 27. Dezember 2012
Blaubart
Wer den abendländischen Kanon intus hat, kann getrost
jederzeit ohne spezifische Vorbereitung ins Theater gehen. Alle anderen haben
jeweils zwei Optionen: sich zuvor etwas einlesen, oder es drauf ankommen
lassen. Ich habe zwar auch schon ein ganzes Buch durchgearbeitet, um für einen
Ballettbesuch einigermassen auf dem Laufenden zu sein. In der Woche vor
Weihnachten haben mich jedoch Fest- und andere Vorbereitungen sowie ein Schuss
Abenteuerlust dazu gebracht, mir im Stadttheater Bern Blaubart anzusehen, ohne auch nur einen Blick in die Wikipedia
geworfen zu haben.
Da B. auch nicht ausführlicher belesen war, konnten wir
unbelastet von jeglicher Voreingenommenheit in das Stück eintauchen – und dabei
ein Konzeptkunstwerk entdecken. Die Inszenierung von Max Frischs letztem grossem Prosastück ist gewissermassen das Aushängeschild der ersten gemeinsamen Saison
des Berner Hochkultur-Trägers Konzert
Theater Bern: ein Abend, an dem Schauspiel, Sinfonieorchester, Oper und
Ballett auch auf der Bühne fusionieren wollten. Und so sah das aus: Auf einem
dünnen Vorhang erzählten ineinander gemorphte Schwarzweissbilder rückwärts die
Geschichte eines Autounfalls, und eine surreale Videosequenz zeigte die
Protagonisten in einem an Sisyphos gemahnenden Duell. Dazwischen schälten die
Scheinwerfer einzelne Zimmer eines überdimensionierten, dreistöckigen
Puppenhauses aus dem Dunkel hinter der Leinwand, in denen sich zwischen
Alltagsszenen finstere Auftritte eines Racheengels mischten. Aus dem
Orchestergraben erklang dazu Franz Schrekers Kammersinfonie, ein akut expressionistisches
Werk, das einer Filmmusik nicht unähnlich düstere Ahnungen anklingen liess. Und
das war erst der Anfang.
Das mag chaotisch tönen und war es auch – aber diese alle
Gattungs- und Genregrenzen umstossende Inszenierung erwies sich als dem Werk
auf intensive Weise angemessen. Max Frischs Blaubart
spielt im Wesentlichen im Kopf und in den Träumen des Dr. Felix Schaad, der vom
Vorwurf, seine sechste Ehefrau erwürgt zu haben, zwar trotz beunruhigender
Indizien freigesprochen wurde, in der Schuldfrage jedoch verstrickt bleibt, den
Prozess mit seinen ausführlichen Zeuginnenbefragungen obsessiv in seinen
Gedanken nachspielt, von queren und schweren Träumen verfolgt wird, ein
unerwünschtes Geständnis ablegt und schliesslich verunfallt. Da ist wenig
Klarheit und Logik, viel Verwirrung und Unverständnis; und dass diese
Gemengelage nicht nur durch schrille Szenen und unvermittelte Übergänge auf die
Bühne gebracht wird, sondern dass da aufs Mal eine Arie einen Traum
kommentiert, dass geistliche Musik das Pathos einzelner Gedanken schroff
überhöht, dass Figuren unerwartet in Bewegung übergehen, ist letztlich nur eine
Illustration jener Grenzüberschreitungen, die in der Vorlage bereits vorhanden
und vollzogen sind. Die Akteure sind allesamt zu loben: Stéphane Maeder als
düsterer Dr. Schaad, Henriette Cejpek als Staatsanwältin und Racheengel und
beides im Gleichen, Milva Stark, die den absurden Reigen der Zeuginnen
inkarnierte, Claude Eichenberger, die der toten Ehefrau eine sehr lebendige
Sopranstimme verlieh. Missglückt ist einzig der Einbezug des Balletts. Das
liegt nicht an Irene Andreetto, die ihre Rosalinde präzis erfasst und mit
dosierter Überzeichnung charakterisiert hat, vielmehr an einer Regie, die in
ihrem Gesamtkonzept für den Tanz keinen Platz gefunden hat, der über ein paar agitierte
Bewegungen hinausgegangen wäre. Ehrlicher wäre vielleicht gewesen, auf den
hohen politischen Anspruch und die Beteiligung des Ballettensembles zu verzichten.
Und ich weiss nicht recht, was ich angesichts der jüngsten Diskussionen über
die Zukunft des Tanzes am Stadttheater dabei fühlen soll: Unbehagen, dass ausgerechnet
diese Sparte in die Gemeinschaftsproduktion nur alibimässig integriert wurde, oder
Erleichterung, dass sie trotz mangelnder Verwendung mit einbezogen wurde?
Technisches: Blaubart
steht in Bern noch am 5. Januar auf dem Programm. Habe ich schon erwähnt, dass ich
die neue Website von Konzert Theater Bern nur für mässig geglückt halte?
Designer und Programmierer haben alles gegeben, das Navigieren ist ein
spektakuläres Erlebnis; aber auf dem Smartphone sehe ich nur die Hälfte, und
wie ich einen Link nicht auf eine spezifische Vorstellung, sondern auf ein
Stück setzen kann, erschliesst sich mir nicht. Wen ich oben gelegentlich ins Leere
schicke, bitte ich mit dieser Beschwerde präventiv um Entschuldigung.
Samstag, 15. Dezember 2012
Kapitale Erfindungen
Das Landesmuseum Zürich beweist wissenschaftliche Kühnheit, ein
so gewichtiges und spannendes, aber komplexes und wenig anschauliches Thema wie
die Herausbildung des Kapitalismus in einer Sonderausstellung umzusetzen: Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam.
Zu ihren Blütezeiten im Mittelalter beziehungsweise in der frühen Neuzeit
wurden in diesen beiden Städten wesentliche Elemente unserer heutigen
Wirtschaftsordnung entwickelt. In Analogie zur kulturell-literarischen Klassik liesse
sich von einer „ökonomischen Klassik“ sprechen, um das fruchtbare, komplexe
Zusammenspiel einer jeweils idealen geografischen Lage, einer atypischen
politischen Situation, einer kreativen Denkweise und weiterer Einflüsse zu
charakterisieren. Das führte zur Entstehung von neuen und bis heute
unabdingbaren Konzepten und Finanzierungsmodellen, zur scharfen Konzentration
aller staatlichen und privaten Anstrengungen auf den Handel sowie zu
unermesslichem Reichtum – in erster Linie für die führenden Familien, aber in
beschränktem Mass auch für eine entstehende, schmale Mittelschicht. Und mit dem
Verlust der günstigen Rahmenbedingungen ging in Venedig wie in Amsterdam ein
gleiches Symptom für den Niedergang einher: der Abschied der Kaufleute vom
risikoreichen Handel und der Rückzug auf den Genuss ihres Vermögens. Parallelen
zur Gegenwart werden am Schluss mit einem unerwarteten Schwenk auf China explizit
angedeutet, sind aber in der ganzen Ausstellung präsent.
Soviel zum Thema. Nun soll ein Museum aber Geschichte anhand
von Gegenständen erzählen; wer es besucht, will keine Texte lesen, sondern
Objekte sehen und dann den notwendigen Kontext dazu erfahren. Es zeigt sich,
dass das bei diesem Thema kaum möglich ist. Die Ausstellungsmacher haben zwar grosse
Kreativität bewiesen und kaum einen Aufwand gescheut: Beispielsweise haben sie
das halbe Museo Correr aus Venedig als
Leihgabe nach Zürich geholt. (Aus den eigenen Beständen des Nationalmuseums
konnte zu diesem Thema kaum etwas beigesteuert werden.) Viele der gezeigten Gegenstände
haben jedoch nur eine entfernt illustrative Funktion und stehen deshalb etwas
verloren da. Und viele spektakuläre Stücke sind nur als Kopien zu sehen –
punktuell zwar akzeptabel, aber für ein Museum eigentlich ein Unding. Nur
einige wenige Objekte haben ein echtes Wow-Erlebnis erzeugt: Eindrücklich sind
etwa die kürzlich wiederentdeckte älteste Aktie der Welt, oder die
detaillierten Modelle der Brenta-Villen, starke Symbole für den Rückzug der
reichen Venezianer ins Private in der Zeit des Niedergangs. Doch lässt sich im
Ganzen nicht überdecken, dass die Texte und Filme der zentrale Inhalt der
Ausstellung sind. Die sind freilich magistral, auf den Punkt formuliert, in der
richtigen Länge und Ausführlichkeit, im besten Sinne didaktisch. Aber soll man
deswegen nach Zürich reisen?
Die Frage ist umso berechtigter, weil das Landesmuseum zu
seiner Ausstellung den vielleicht genialsten Katalog veröffentlicht hat, der mir bislang
unter die Augen gekommen ist: Für zwanzig Franken erhält man ein kleines
(Reclam-Format), hochwertiges Bändchen, gebunden, mit goldfarbenem Umschlag und
Lesezeichen, das neben Einleitung und ausführlichem Glossar auf 270 Seiten
genau vier Essays enthält, zwei zu Venedig, zwei zu Amsterdam. Die Texte sind meisterhaft
geschrieben, lesen sich flüssig und logisch, bieten mit sicherer Hand die
Einordnung und die Gesamtsicht, welche die Ausstellung nicht in dieser
Konsequenz leistet. Ich habe es noch auf der Rückfahrt begonnen und mühelos
praktisch in einem Zug gelesen. Und wenn ich wählen müsste zwischen dem
Ausstellungsbesuch und der Kataloglektüre, würde ich mich ohne Zögern für
letzteres entscheiden.
Technisches: Die
Ausstellung „Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam“ ist im Landesmuseum
Zürich noch bis am 17.02.2013 zu sehen. Im Eintrittspreis von 10 Franken ist
neben den Sonderausstellungen auch die spektakuläre Dauerausstellung
inbegriffen. (Bernisches Historisches Museum, hörst du mich? Dagegen siehst du
mit deinen Fantasiepreisen ziemlich alt aus.) Der Katalog: Walter Keller
(Hrsg.), Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zürich, Kein&Aber
2012. ISBN 978 3 0369 5653 4.
Eingestellt von
Phemios
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Labels: Ausstellung, Kultur, Literatur, Museum
Freitag, 7. Dezember 2012
Einsamer Wolf
Findige Verleger haben es längst gemerkt: An
Ferienerinnerungen lässt sich im Literaturmarketing trefflich anknüpfen. Was
Donna Leon recht war, soll mir billig sein, scheint sich manch einer zu sagen;
und so übertreffen sich die Klappentexte gegenseitig mit der Versicherung,
umstehend lasse sich in das authentische Florenz, Triest, Bologna oder
Sardinien eintauchen. (Die Rezensenten spielen das Spiel denn auch brav mit,
sprechen von der „lebendigen, bunten Schilderung der Stadt“
oder halten mit der nötigen Dosis Kritik fest, dass der Autor seine Stadt
„alles andere als idyllisch [schildert], aber so liebevoll, dass man gleich
hinfahren möchte.“) Einen Stapel
solcher Bücher, allesamt Krimis und meist in Italien spielend, hat mir L. vor
einiger Zeit ausgeliehen. Da ist ziemlich alles dabei, vom schalen Misserfolg Das Geheimnis der Signora, dessen Florentiner
Lokalkolorit sich auf eine Vorbeifahrt am Ponte Vecchio beschränkt, bis zu
Valerio Varesi, der seinen Commissario Soneri in komplexen Szenarien durch den
Nebel der Bassa Padana streifen lässt und von dem ich mir inzwischen sogar ein Buch auf Italienisch gekauft habe. Inzwischen bin ich fast durch, bin auf
meiner Reise durch Italien in Genua angelangt, und stelle gewisse Ermüdungserscheinungen
fest: All dieser Lokalkolorit, dieses beiläufig-eifrige Namedropping, die
beflissenen Erklärungen des Eingeborenen und die oft kunstvoll distanzierte
Schreibe wiederholen sich allmählich ein bisschen. Und Bruno Morchio macht es
einem bei der ersten Begegnung mit seinem Ermittler Bacci Pagano auch nicht gerade
leicht: Dieser altgediente Schnüffler, der seine tiefgründigen Reflektionen im
Korbsessel auf dem Balkon inszeniert und selbstgefällig mit allem ins Bett
steigt, das einen Rock trägt, erstickt beinahe unter den dicken Schichten von Klischees.
Wer dem Reiz widersteht, Wölfe in Genua umgehend wieder wegzulegen, wird jedoch mit einer starken
Geschichte und einer souveränen Dramaturgie belohnt. Ein fait divers wie aus einem Fantasyroman steht am Anfang: In den
Wäldern über Genua ist ein alter Mann offensichtlich von einem Wolf totgebissen
worden. Wilde Wölfe gibt’s dort gar nicht, aber der Mann hatte seit kurzem eine
gut dotierte Lebensversicherung, und überdies eine schöne junge Frau aus Panama.
Das riecht natürlich nach Ärger, zunächst für die Versicherung, dann für die
Frau und schliesslich noch für andere. Morchio spinnt seine Fäden mit Bedacht, lässt
Pagano überall Witterung aufnehmen, trifft präzise die Ambivalenz zwischen
abgebrühtem Instinkt und ungeschützter persönlicher Verwicklung. Der Plot
entwickelt sich konstant und schlüssig, kein Schritt kommt zu schnell, kein
Faden bleibt unverknüpft, nichts ist an den Haaren herbeigezogen, und wenn ein Deus ex machina gebraucht wird, erscheint
er in unaufgeregter menschlicher Gestalt.
Ärgerlich ist einzig, dass das grosse Lesevergnügen durch
ein paar Dummheiten getrübt wird. Paganos überdrehtes Mackergehabe habe ich
schon erwähnt; es kulminiert in einem Abend, an dem er sich zunächst mit seiner
Ex-Frau hemmungslos betrinkt und gleich danach seiner neusten, nie überwundenen
Verflossenen in die Arme und ins Bett fällt. Das ist nur noch kitschig; und
reichlich sozialkitschig ist auch die Freundschaft des Detektivs zum Sohn seiner
nubischen Putzfrau (und Affäre, klar), der ihm dafür in Genuas Immigrantenbars
die Kastanien aus dem Feuer holen muss. Wenn das alles originell sein soll, so
ist es für mich verschwendete Originalität – aber ohne Schaden überles- und
-stehbar, und somit nur ein kleiner Abstrich an der Stilnote für einen
ansonsten magistralen Krimi.
Technisches: Bruno
Morchio, Wölfe in Genua. Roman. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler.
Zürich, Union 2007. ISBN 978 3 293 00389 7. Original erschienen bei Fratelli
Frilli, Genua, 2004, unter dem Titel Maccaia. Una settimana con Bacci Pagano.
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