Samstag, 3. November 2007

Erwartungen revidiert

Nach einem feinen, etwas zu langen Nachtessen eilten wir am Dienstag knapp vor acht ins Bieler Stadttheater, stürmten auf den Balkon, drängten uns auf unsere Plätze (natürlich zuvorderst in der Mitte, wie peinlich) – und sassen mitten im Stück. Da waren sie schon alle versammelt bei schmissiger russischer Musik und Sekt, auf rotem Teppich und inmitten edel glänzender Möbel: die Provinzpotentaten, die von der bevorstehenden Ankunft jenes Revisors, durch den Gogol sie in Verzweiflung und Unterwürfigkeit stürzen würde, noch gar nichts wussten. Präzis gezeichnete, herrlich bünzlige Gestalten: die graue Maus von Schulinspektor im zu grossen, durchgeknöpften Veston, der Richter mit gezwungen überbordend guter Laune, die über die Glatze gekämmten Haare bereits in alle Richtungen abstehend, der biedere Spitaldirektor, der beflissene Polizist. Ein optischer Genuss, zumal man auf dem ersten Balkon gerade mal gefühlte drei Meter von der Bühne entfernt ist, also sozusagen mittendrin. Dann schliessen sich die Saaltüren, der Stadthauptmann tritt ein, das Spiel beginnt – und plötzlich ist alle Unmittelbarkeit wie weggeblasen. Das Stück harzt und wirkt gespielt, die zuvor natürliche Gestik erscheint überzeichnet. Keine Spur von der locker-frischen, niemals einstudiert wirkenden Spielweise, von der der Kritiker des „Bund“ so hymnisch berichtet hat. Die Exposition im Büro des Stadthauptmanns, aber auch im Hotelzimmer des abgebrannten Lebemanns Chlestakov schleppt sich dahin, und erst als sich die zu Revidierenden und der vermeintliche Revisor gegenüberstehen, kommt Schwung in das Spiel.

Ich bin etwas verunsichert. Liegt es vielleicht an mir? Schliesslich waren sowohl die Presse wie offenbar auch das Premierenpublikum durchs Band hell begeistert. In der Pause sage ich vorsichtig, dass ich vom Anfang enttäuscht war, und bin erleichtert, dass T. meine Wahrnehmungen bestätigt. Wir identifizieren ein Rhythmusproblem. Gewissen Partien fehlt der Drive, sie sind zu lang, die Dialoge lahmen: für eine Komödie fatal. Wo das Stück allerdings seinen Rhythmus findet, ist es fabulös: Wie Chlestakov, sich betrinkend, sein Lügengebäude ausschückt, vom Richter zum Lehrer und zurück taumelnd, oder wie sich Frau Stadthauptmann und ihre Tochter virtuell stylen (nicht mehr als eine Reihe von Markennamen, aber mit welcher Verve gesetzt) – das ist hochpräzises, grosses Theater.

Der zweite Teil bestätigt unsere Analyse: Schauspieler und Stück sind nicht immer im gleichen Takt. Wo sie es sind, fesseln die Szenen durch ihre Präzision: Das Bestechungs-Schaulaufen im Büro des Stadthauptmanns ist grandios, die Verlobungsszene desgleichen. Die Feier der scheinbar glänzenden Zukunft nach der Abreise des vermeintlichen Revisors beginnt ebenso, zieht sich aber in die Länge, bis man froh wäre, sie wäre bald mal zu Ende. So gehen wir nach einem durchaus vergnüglichen Theaterabend mit gemischten Gefühlen nach Hause: Wir haben ein grosses Highlight erwartet und eine spritzige, aber durchzogene Komödie gesehen. Nächstes Mal lesen wir die Kritiken wieder erst nach dem Theaterbesuch.


Technisches: Der Revisor von Gogol wird im Theater Biel Solothurn noch bis Ende November gespielt; Daten und Reservation auf http://www.theater-biel.ch/auffuehrungsdaten-revisor0.html

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