Wer plant, etliche Stunden an Bord von Fähren sowie an einsamen Stränden zu verbringen, rüstet sich besser mit ausreichend Ferienlektüre aus. Meine Wahl fiel diesen Sommer auf Matutin von Arturo Pérez-Reverte, das dickste Buch auf dem Stapel der Leihgaben meiner Freundin L., und ich habe die Lektüre sehr genossen. Eine Warnung sei einleitend jedoch angebracht: Wie es der Titel andeutet, ist dies gewissermassen ein katholischer Krimi, und wer die religiösen, aber vor allem politischen Ränkespiele innerhalb der römischen Kurie irrelevant oder uninteressant findet, den wird Matutin passagenweise arg langweilen. Denn das Buch bezieht seine Spannung zu einem grossen Teil aus dem Zusammenprall ebendieser Intrigen mit der Realität der Gläubigen draussen in der Welt. Sein Held Lorenzo Quart ist Priester und Agent des päpstlichen Geheimdienstes, einer Institution, für die „christlich“ ein äusserst unpassendes Adjektiv ist. Er wird nach Sevilla geschickt, um eine beunruhigend-kuriose Geschichte aufzuklären: Mitten in der Stadt soll eine zerfallende Kirche abgerissen werden, die von einem alten Pfarrer und einer kleinen Schar treuer Gläubigen verteidigt wird – und sich offenbar durchaus auch selber zu wehren weiss; jedenfalls sind in letzter Zeit gleich zwei Menschen auf etwas verdächtige Weise in der Kirche zu Tode gekommen. Die Geschichte ist dem Heiligen Vater höchstpersönlich zu Ohren gebracht worden, via Nachricht eines Hackers (Deckname Matutin) in seinem Privatcomputer, und deshalb soll nun der beste Mann des Vatikans sich vor Ort umsehen.
Das tönt alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, ich weiss, und ist es auch: Die Suche nach dem Hacker, die dem Buch Titel und Plot gibt, erweist sich letztlich als nebensächlich. Dies ist kein Whodunit. Es ist vielmehr (auf der grossen, duftigen Bühne von Sevilla) ein fein orchestriertes Ballett einer ziemlich bunten Truppe. Die alte Kirche von Nuestra Señora de las Lagrimas verbindet sie alle: diejenigen, die sie abreissen wollen – den hinterfotzigen Erzbischof und einen unappetitlichen Emporkömmling von Banker samt Faktotum –, und diejenigen, die sie bewahren und umsorgen: den rebellischen Padre Ferro und seine Mitstreiter, zu denen neben Vikar und Restauratorin auch Macarena Bruner, die Nicht-mehr-wirklich-Ehefrau des Bankers gehört. Und da man sich in einem historischen Ambiente bewegt, treten zu diesen Protagonisten in einer Parallelhandlung auch zwei unglücklich Liebende aus ferner Vergangenheit. Pérez-Reverte folgt Lorenzo Quart durch die Strassen und Paläste von Sevilla, konfrontiert ihn mit diesen Akteuren, sieht ihn da und dort einen Faden des Verständnisses erhaschen und vergeblich zu verknüpfen suchen, lässt ihn langsam das Vertrauen gewisser Personen und die Feindschaft von anderen finden. Letztlich wird nichts aus der wissenschaftlich korrekten und bürokratisch distanzierten Aufklärung: Der bei Bedarf skrupellose Priester, der seine Masshemden mit Priesterkragen trägt wie ein Ritter seine Rüstung, verwickelt sich selber mit Kopf und Herz in den Fall, den er untersuchen sollte; und das Schicksal der alten Kirche wird zu seinem eigenen.
Das alles entfaltet Pérez-Reverte fein und dennoch farbig, mit grosser Lust am Erzählen. Zu bunt ist ihm einzig das Möchtegern-Ganoventrio geraten, das im Auftrag des Sekretärs des Bankers in die Geschichte eingreifen soll und wie eine wandelnde Anhäufung von Klischees daherpromeniert. Wie er aber die Diskussion über die Rolle der Kirche in der Welt und die Auseinandersetzung mit den quälenden Schatten der Vergangenheit von Padre Ferro, Lorenz Quart und Macarena Bruner zusammenbringt, ist von einer weisen Intensität.
Technisches: Arturo Pérez-Reverte, Jagd auf Matutin. Roman. Aus dem Spanischen von Claudia Schmitt. München, btb 2007. ISBN 978-3-442-73721-5. Das Original ist 1995 unter dem (viel passenderen) Titel „La piel del tambor“ in Madrid bei Alfaguara erschienen (ISBN 978-84-204-7206-5).
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