Sonntag, 19. September 2010

Der Herr Karl

Wien, im Keller eines Feinkostgeschäftes, Ende der Fünfziger Jahre. Der Protagonist kommt mit einem Harass Sprudel die Treppe heruntergeächzt: Der Herr Karl, etwa so alt wie das Jahrhundert, Ausbund speckgewordener Selbstgerechtigkeit. Mit der Adaptation des klassischen Monologs von Helmut Qualtinger eröffnet das Theater an der Effingerstrasse die Saison 2010/11. Regie führt Stefan Suske, und auf der Bühne führt Uwe Schönbeck während eineinhalb Stunden das grosse Wort. Er erzählt dem jungen Kollegen im Nebenraum gönnerhaft-jovial sein Leben, und wie er seine immense Erfahrung, sein sicheres Gespür und seine stetigen beruflichen und privaten Erfolge vor ihm ausbreitet, wird schnell klar: Gross ist an diesem Schleimer nur das Maul.

Einzigartig ist, wie messerscharf Qualtinger seinen Anti-Helden sich selber entlarven lässt. Er lässt ihn einfach reden, lässt ihn sich hineinsteigern, von sich selbst schwärmen, in einer Mischung zwischen Stolz und Zufriedenheit auf sein Leben zurücksehen, nur gelegentlich mit fliegenden Hamsterbäckchen Schmerz und Erschütterung markierend – und sich so bis auf die Knochen entblössen. Zum Vorschein kommt ein Möchtegern-Frauenheld, ein Vorstadt-Don-Juan, der keiner Frau auch nur ein Bruchteil von dem durchgehen liess, was er für sich selber in Anspruch nahm. Zum Vorschein kommt ein bedenkenloser Opportunist, der sich in fliegender Folge mit den Sozialisten, den Nazis, den Russen und dann den Amerikanern nicht nur arrangiert, sondern sich allen geradewegs angedient hat – genau wie er auch jetzt gegenüber der Chefin im oberen Stock freundlichst und geübt buckelt, nur um im Schutz seines Kellers umgehend nach Herzenlust über sie zu schnöden. Zum Vorschein kommt schliesslich eine kleinbürgerliche Seele, ein Drückeberger, der ob all seinem Beteuern, wie Grossartiges er geleistet habe, in der Dauer des Stückes gerade mal sechs Flaschen in die Regale räumt (und sich im Gegenzug die halbe Cognacreserve hinter die Binde schüttet). Die Pointen fallen in dichter Folge Schlag auf Schlag, sind dabei immer fein und oft nur angedeutet, manchmal aber wieder so erschreckend, dass einem die Spucke wegbleibt.

Als Der Herr Karl 1961 erstmals im ORF ausgestrahlt wurde, war der Aufschrei gross. Offenbar hatten einige etwas von sich selbst in dem Typen wieder erkannt, der mit einer Mischung von Gönnerhaftigkeit und Bestürztheit verdecken wollte, dass er sich Zeit seines Lebens durchgemogelt und sein Mäntelchen in jeden Wind gehängt hatte, egal ob dieser von links oder von rechts blies. Doch dieser Typus ist natürlich nicht an eine bestimmte Epoche gebunden, sondern so zeitlos wie alle menschlichen Schwächen und Macken. Der Dekor der späten Fünfziger Jahre legt zwar eine leichte Patina auf die Geschichte, aber Uwe Schönbeck wischt diese sogleich wieder weg. Er spielt seinen Herrn Karl souverän, lässt ihn charmieren, um Verständnis werben, munter seine eigenen Regeln aufstellen und beinahe platzen vor Selbstzufriedenheit und Ichbezogenheit.


Technisches: Der Herr Karl steht an der Effingerstrasse noch bis am 27. September 2010 auf dem Programm. Zum Weiterlesen verweise ich auf die Berichte von Bund, Berner Zeitung und von Fritz Vollenweider beim Seniorweb. Das Original, gespielt von Helmut Qualtinger, findet sich auf Youtube.

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