Eine gute Komödie braucht vor allem etwas: genügend
Reibungsflächen, an denen sich das Komische entflammen kann. Der französische
Regisseur und Schauspieler Dany Boon lässt Rien à déclarer, den Nachfolger seiner Erfolgskomödie Bienvenue chez les Ch’tis, an einer Reibungsfläche par excellence
spielen, an einer Landesgrenze. Zwar handelt es sich „nur“ um diejenige
zwischen Frankreich und Belgien, ist man versucht zu sagen – aber die zur
Bekräftigung der eigenen Identität notwendige Abgrenzung gegenüber dem anderen speist
sich ja bekanntlich auch aus geringfügigen Unterschieden. An dieser Grenze
tummelt sich das gesamte zugehörige Personal: die Grenzbeamten zu beiden Seiten,
darunter die eigentlichen Protagonisten, der Franzose Mathias (Boon selber) und
der heissblütige belgische Nationalist Ruben (Benoît Poelevoorde, den wir
bereits in Les émotifs anonymes
gesehen hatten, und dessen zwischen Verzweiflung, innerer Bestimmung und latentem
Wahnsinn schwankender Blick ausgezeichnet zum extremistischen Zöllner passt);
das ungleiche Wirtepaar aus dem sinnvoll benannten Bistro No Man’s Land, der eigentlichen neutralen Zone in diesem emotional
aufgeladenen Fleck Land; die Schmugglerbande mit ihrem schmierigen Boss und
seinem tölpelhaften Personal. Da eine Komödie ohne amouröse Verwicklungen nur
eine halbe Komödie ist, lässt Boon seinen Mathias seit einem Jahr eine heimliche
Beziehung mit Rubens Schwester Louise unterhalten (Romeo und Julia an der
Grenze, sozusagen). Dann schlägt er gewissermassen die Hauptstütze dieses Geschichtenkonstrukts
weg, die Grenze (die im Zuge von Schengen de facto aufgehoben wird) – und schaut
vergnügt zu, was sich in dieser in sich zusammenfallenden kleinen Welt an
absurdem Chaos abspielt.
Das ergibt einen etwas vorhersehbaren Film, der vor allem in
der ersten Hälfte hauptsächlich aus reichlich plakativen Einzelszenen besteht. Routiniert
werden sämtliche potenziellen Gags durchgespielt: Rubens nationalistischer
Fervor darf sich in aller Breite entfalten, was zur unvermeidlichen
Konfrontation mit den Grenzern von vis-à-vis führt; der grenzdebile Schmuggler
fliegt nach allen Regeln der Kunst auf; die skrupellose Wirtin ihrerseits wird
zur Informantin des lokalen Bandenbosses, dabei effizient behindert von ihrem
trotteligen Mann. Und natürlich wird der Infight zwischen Ruben und Mathias gekonnt
zugespitzt, indem die beiden in der ersten gemischten Grenzbrigade in einem
alten, dann aufgemotzten Renault 4L über die Landstrassen geschickt werden. Das
bewirkt viele herzliche Lacher, aber ergibt noch keine Geschichte. Nur allmählich
beginnt diese, Form anzunehmen, bekommen die karikaturalen Figuren Fleisch, Blut
und eine Seele. Gleichzeitig fangen die schwelenden Konflikte an zu eskalieren,
und in einem schön komponierten Finale gipfeln die Handlungsstränge im
klassischen Happy End.
Rien à déclarer
ist gewiss kein besonders ernsthafter Beitrag zur europäischen Frage. Von anderen
gegenwärtig zirkulierenden, nicht besonders ernsthaften Beiträgen zur
europäischen Frage unterscheidet er sich immerhin darin, dass er eineinhalb
Stunden unbeschwertes Amüsement verschafft.
Technisches: Rien à
déclarer war 2010 in den Kino; ich verweise deshalb pauschal auf die Händler,
Ausleiher und Downloadanbieter Ihres Vertrauens. Wenn immer möglich empfehle
ich, zur Originalversion zu greifen: Für Nicht-Frankophone sind zwar die unterschiedlichen
Akzente nicht immer deutlich auseinanderzuhalten, aber spätestens wenn Dany
Boons Mathias den accent belge veräppelt, merken es sogar wir…
Montag, 28. Mai 2012
Kleiner Grenzverkehr
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Freitag, 18. Mai 2012
Bauanleitung für Tanz
In der Regel bringe ich es nicht fertig, bei den
mehrteiligen Tanzabenden im Stadttheater Bern den roten Faden zu sehen. Zu disparat,
zu unverbunden scheinen mir die einzelnen Stücke meistens. Das ist ja auch gar kein
Problem, wenn das Programmheft nicht ein gemeinsames Thema behaupten oder
nahelegen würde. Dieses Mal war es anders: V:dance everywhere lautete der reichlich neutrale Titel des zweiten Ballettabends
der Saison, seine drei Teile wurden fein säuberlich jeder für sich selbst
vorgestellt – und ich fand einen spannenden roten Faden: Was wir zu sehen
bekamen, war so etwas wie eine mehrstufige Bauanleitung für Tanz.
Die quadratische weisse Spielfläche vor den nackten,
schwarzen Mauern von Vidmar:1 im Stück Speakers
der israelischen Choreografin Noa Zuk evozierte entfernt eine Meisterschaft im
Bodenturnen. Mit dem Gebotenen hatte diese Anspielung gemein, dass in beiden Settings
nacktes, schnörkelloses Können gezeigt wird. Zu einer Klangkulisse von
elektronischen Tönen und Rhythmen sahen wir so etwas wie einen Katalog aller
möglichen Bewegungen. Mit niemals zögernder, höchster Präzision schnellten die
Glieder in eine nicht enden wollende Serie Positionen. Das hatte etwas
mechanisch-wissenschaftliches und war so etwas wie eine Auslegeordnung: Diese
Bewegungen, diese Körperhaltungen sind möglich; dazu diese Geräusche und Töne.
Bedient euch, gebraucht dieses Material, macht daraus etwas Neues.
Nach der ersten Pause war der weisse Boden durch einen roten
Teppich ersetzt, von dürren Ästen umstanden und daraus heraus beleuchtet; als
Musik erklang ein eigenwilliges, aber faszinierendes Gemisch von Flamenco und
Vokalschönheit. Zwei Tänzer loteten die Möglichkeiten aus, Bewegungen zu
koordinieren. Sie taten dies zunächst synchron, exerzierten parallele
Perfektion durch; dann entstanden Abweichungen, Komplementarität. Hier ist das
zweite, wesentliche Element in der Bauanleitung: Tanz ist Bewegung in
Beziehung, wo eins plus eins mehr als zwei gibt. Das Stück hiess Digital Duende, ein „Klassiker der
Moderne“ (so das Programmheft) von Jyrki Karttunen.
In der zweiten Pause konnten sich die Eindrücke etwas
setzen, zu einem Interpretationsraum vereinen. Und dann: Ultima Thule von Erick Guillard, ehemaliger Tänzer des Bern:Ballett.
Es war, wie wenn der ganze Abend auf das hier hingearbeitet hätte. Ein
grandioses, dichtes Stück mit der gesamten Compagnie, von beeindruckender
Geschlossenheit und Intensität. Vorhänge in hellem Beige-grau, der unfarbigsten
aller Farben, umgaben die Spielfläche, evozierten eine Atmosphäre von Nervenheilanstalt;
und einigen der Figuren war ihr Leiden anzusehen. Ganz nahe beieinander standen
sie zu Beginn, gemeinsam, aber dennoch verloren; dann nahmen sie den Raum in
Anspruch, oft ziellos und doch in stiller Harmonie. Einzelne wurden von
Panikattacken befallen, rannten los, brachen in unkontrolliertes Zucken aus; in
starken Szenen von grösster Behutsamkeit nahm sie ein anderer in den Arm,
versuchte sie zu trösten. Trotz dieser Zärtlichkeit herrschten vorwiegend
Melancholie und Ausweglosigkeit; und als am Schluss wieder das Bild des Anfangs
entstand, schwang Verzweiflung mit. Ein grosses Stück – und ein reicher (und
reichhaltiger) Abend.
Technisches: Wie üblich bei meinen Ballettrezensionen hat auch diese
hier unglaublich lange reifen müssen. V:dance everywhere ist schon seit einiger
Zeit vom Spielplan verschwunden… Eine andere Perspektive auf den Abend bieten
die Besprechungen von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung und von Poltron
auf tanznetz.de.
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Phemios
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Samstag, 12. Mai 2012
Markus lesen
Beim silvesterlichen Spintisieren über das bevorstehende
Jahr hatte ich unter anderem meine Idee festgehalten, mich zur Reaktivierung
meiner Altgriechisch-Lesekompetenz mit dem Neuen Testament zu beschäftigen. Für
einen einigermassen sanften Einstieg lag der Griff zum Markus-Evangelium nahe,
dem kürzesten der vier (das übrigens zufällig gleichzeitig von meinem Bistum
für dieses Jahr zur individuellen oder gemeinschaftlichen Lektüre vorgeschlagen
wird). Es ist tatsächlich so: Bibelgriechisch ist für mich grosso modo noch immer zu bewältigen. Das liegt natürlich daran,
dass die hellenistische Koiné auf der Komplexitätsskala näher beim
Neugriechischen als bei Homer liegt, und zweifelsohne auch daran, dass die
Inhalte zum grössten Teil vertraut sind. Ich kann aber nicht umhin, der
iPhone-App youversion ein Kränzchen
zu winden. Bibel-Apps für mobile Endgeräte gibt es zahlreiche, aber nur wenige
ermöglichen es, in den unterschiedlichsten Sprachen gemeinfreie Versionen
herunterzuladen und mit zwei Klicks zwischen diesen hin- und herzuschalten. So
war bei kniffligen Stellen Hilfe nie fern, und da es mir weniger um die
philologische Kleinarbeit als vielmehr um das flüssige Lesen ging, nahm ich
diese auch rege in Anspruch.
Wer katholisch erzogen worden ist und lange Jahre allsonntags
zur Kirche ging, für den hält die Evangelienlektüre kaum mehr Überraschungen
bereit. In der kontinuierlichen Lektüre fällt aber doch das eine oder andere
auf – zunächst die fast vollständige Absenz eines erkennbaren roten Fadens. Die
Leistung des ersten Evangelisten Markus war es, wenn ich mich richtig erinnere,
die zahllosen Episoden, Geschichten und Anekdoten aus dem Leben von Jesus zu
sammeln und in eine Ordnung zu bringen, die sich in erster Linie an der
Geografie orientiert. Markus geht mit knappen Sätzen und schnörkellosem Stil in medias res. Wörtlich tönt das so:
Beginn der Frohbotschaft Jesu Christi. Wie es geschrieben ist beim Propheten Jesaia: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Antlitz her, der dir den Weg bereiten wird. Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Strassen.“
– und ähnlich Schlag auf Schlag geht es weiter: Jesus lässt sich taufen, beruft Jünger, beginnt sein Wirken. Aus diesem Stakkato ragen wie überraschende Oasen einige Passagen durch ihren deutlich grösseren Umfang heraus. So bietet das vierte Kapitel die Etablierung des Lehrgleichnisses als Gattung der religiösen Verkündigung. Offensichtlich hatten die Zuhörer von Jesus, seine Jünger inbegriffen, zuerst mal keinen Schimmer, was die seltsame Geschichte bedeuten sollte, die er ihnen erzählte. Also beginnt er nochmals von vorne, geht geduldig jeden Satz mit ihnen durch und erläutert ihnen, was er ihnen mit den Bildern sagen wollte. Beim nächsten Mal geht’s dann schneller, und er kann die Ausdeutschung weglassen... Überdurchschnittlich viel Raum nimmt auch die wunderschöne Geschichte von der Heilung des Besessenen von Gerasa im fünften Kapitel ein, eine fast burleske Begegnung zwischen Jesus und jenem Dämonen, der sich mit dem unsterblichen Satz vorstellt: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und sein Gegenüber in einen eigentlichen Dialog verwickelt. Und bei der Schilderung der Ereignisse vor der Passion entwickelt Markus plötzlich kriminologisches Talent: Die Beschaffung des Esels für den Einzug nach Jerusalem und die Bereitstellung des Raumes für das Passamahl werden als regelrechte kleine Thriller geschildert, in denen ein Voraustrupp mit bedeutungsschwangeren, präzisen Instruktionen auf die Expedition ins Unbekannte geschickt wird.
Was ich als Haupterkenntnis aus der Lektüre mitnehme, ist dies: Das Wirken von Jesus äussert sich am Anfang praktisch ausschliesslich in der diskreten Heilung von Kranken und Besessenen. Die konkrete Hilfe für Bedürftige im Verborgenen scheint der entscheidende Leistungsausweis eines Wanderpredigers zu sein, und weniger das Predigen. Erst mit der Zeit gewinnt dieses breiteren Raum, tritt gleichberechtigt neben das Handeln, führt vermehrt zu inhaltlichen Kontroversen mit den Repräsentanten der etablierten Religion und hin zum bekannten Ende.
Technisches: Bibliografische Angaben sollten sich dieses Mal wohl erübrigen...
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Labels: Kultur, Literatur, Philologie
Sonntag, 6. Mai 2012
Der Tod wäscht alles rein
Wie ein Profi einen Mordfall löst, davon habe ich ehrlich
gesagt keine Ahnung. Ich weiss nur, dass in Krimis der Kommissar sich jeweils
mühsamst vom einen Zeugen zum nächsten vorkämpft, unterstützt von
Gerichtsmedizin, Spurensicherung und mürrischen Assistenten hunderte von
Elementen und Indizien sammelt und schliesslich – oft mit Hilfe eines etwas
zufälligen Zufalls – das entscheidende davon identifiziert und so den Fall
aufdröselt. Was der Held immer braucht, ist sein in langer Erfahrung
geschärfter sechster Sinn für sein Terrain und seine Pappenheimer. Was aber,
wenn der Kommissar Gegend und Bewohner gar nicht kennt, weil er kein
Einheimischer ist? Und wenn sich das ganze ausgerechnet im ländlichen, sich ungezügelt
urbanisierenden Sardinien abspielt, wo jeder Stein eine Geschichte hat, wo man
in Fabeln und Legenden denkt und lebt?
Auf dieser Spannung baut Marcello Fois seinen Krimi Der Tod wäscht alles rein auf.
Commissario Sanuti lässt sich aus Rimini für ein Jahr nach Sardinien versetzen.
Der Luftwechsel erweist sich als relativ anstrengend, denn im Mordfall Michele
Marongiu, der ihm an seinem zweiten Arbeitstag am neuen Ort unterkommt, steht
er wie der Esel am Berg da. Es wird schnell klar, dass sich hinter dem
Offensichtlichen viel anderes verbergen muss; wie flüchtige Juckreize kitzeln
zuhauf seltsame Indizien des Inspektors Gehirn; und die Einsicht, dass die
Lösung wohl offen daliegen würde, wenn er nur die Lebensgeschichten dieser
Unbekannten kennen würde, frustriert ihn endlos. Wer profitiert von der
Baustelle, auf der der Tote gefunden wurde? Wem gehört das Terrain, wer ist der
Bauunternehmer? Wie sind sie politisch vernetzt? Weshalb hat sich der Bruder
des Opfers vor einigen Jahren das Leben genommen? Wer sind oder waren seine
Eltern, und welche Geschichte hatten sie? Wer das alles wüsste, hätte den Fall
wohl schon so gut wie gelöst.
Schritt um Schritt werden uns diese Geschichten erzählt. Der
erfahrene Staatsanwalt Corona und der pensionierte Carabinieri-Maresciallo Pili
bringen dem armen Sanuti zunächst zögernd, danach freigebiger behutsam den
lokalen Background bei. Marcello Fois zelebriert die Not des Erkennens, indem
er verschwörerische Anspielungen einstreut, öfter die Perspektive und die Zeit
wechselt und diverse ungenannte Erzähler berichten lässt. Für meinen Geschmack
ist das alles ein bisschen zu prätentiös. (Ich erinnere mich an Unter den Mauern Bolognas von Fois‘
Kollegen Loriano Macchiavelli, wo mir der altkluge und geschwätzige Erzähler
auch etwas mühsam vorgekommen war.) Freilich gelingt es ihm so, eine düstere
Atmosphäre zu schaffen und eine komplexe Geschichte auf komplexe Weise zu
erzählen. Der Leser tut gut daran, den Kopf bei der Sache zu haben.
Technisches: Marcello
Fois, Der Tod wäscht alles rein. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. München,
List 2002. ISBN 3 548 68041 0. Auf Italienisch ist das Buch unter dem Titel
Dura Madre 2001 bei Einaudi in Turin erschienen (derzeit nur noch als eBook
erhältlich). Die deutsche Übersetzung verdient eine spezielle ehrenvolle
Erwähnung, weil sie dem sprachlich und sprachspielerisch nicht einfachen Text
gut gerecht wird.
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