Mittwoch, 31. März 2010

Auf ein Wort

Ballettabende, an denen mehrere Choreografien unter einem gemeinsamen Motto gezeigt werden, gehören für mich als Chronisten zu den grössten Herausforderungen. Solchen Abenden wohnen nämlich regelmässig zwei Probleme inne, wie kürzlich wieder die Dernière des Programms Auf ein Wort in den Vidmarhallen des Stadttheaters Bern gezeigt hat. Zum einen wirkte da die thematische Klammer etwas künstlich. Ich will damit nicht sagen, es sei nicht ersichtlich gewesen, dass und wie die Choreografinnen und Choreografen die Vorgabe von Cathy Marston umgesetzt haben, ein Stück unter dem Thema „Bewegung und Text“ zu entwickeln. Nur war diese Vorgabe zu beliebig, zu wenig verbindend. Ich behaupte gar: Hätte Marston wahllos vier unabhängige Tanzstücke zusammengestellt, einen gemeinsamen Aspekt ausgesucht und diesen zum Titel gemacht, das Resultat hätte sehr ähnlich aussehen können. Was ich sagen will: Diese thematische Klammer ist zu schwach, als dass sie für die Interpretation mehr als anekdotischen Wert hat. Dadurch fällt es mir schwerer, den Abend als Einheit zu besprechen, und ich werde eine Berichterstattung über vier Einzelstücke schreiben. Und damit sehe ich mich dem zweiten Problem gegenüber: Wenn ich in rascher Folge vier relativ unterschiedliche Choreografien von rund zwanzig Minuten Dauer gesehen habe, vier kunstvolle Kombinationen also von Bewegung, Kostümen, Musik, Licht und Text, dann bin ich schon zwei Tage darauf ausser Stande, mich an mehr als an einzelne Details zu erinnern. Wir haben uns auf dem Heimweg den Abend nochmals durch den Kopf gehen lassen und diskutiert, was wir gesehen haben – vergebens: Die Grundstimmungen, Details zur Musik und zur Inszenierung, mögliche Interpretationen sind bis auf Fragmente alle weg. (Einzig das Mitschreiben hätte Abhilfe schaffen können, aber so stark will ich dieses Hobby hier nicht zu Arbeit verkommen lassen...)

Das spricht nun wiederum für die gleichmässige Qualität der vier Stücke; oder, boshafter gesagt, für das Fehlen eines Überfliegers, der Geist und Seele bleibend gepackt hätte. Ich will freilich nicht in Zynismus versinken. Denn bei aller hier geäusserter Kritik: Wir sahen viel Spannendes, Witziges und Durchdachtes. Eindrücklich etwa, wie die vier Tänzerinnen und Tänzer in Corinne Rochets Des fois, je… Comment dire…, das Ungelenke einer unsicheren Kontaktaufnahme zeigten, wie ihr ganzer Körper zu Hemmung und Verlegenheit wurde, bis sie dann in der reinen Bewegung zum vollkommenen Ausdruck ihrer selbst gelangten. Wunderschön auch, wie in Medhi Walerskis Words failed me nach einem hektischen, neonbeleuchteten, von nervtötenden Satzfragmentwiederholungen begleiteten Beginn innige Pas-de-deux und eine intensive Schwarmszene folgten. Cathy Marstons And our faces vanish like water wiederum war geprägt durch die Sopranistin Mélanie Adami und die Beatboxerin Steff la Cheffe, deren Zusammen- bzw. Gegeneinanderspiel mich dermassen faszinierte, dass ich vom Tanz leider so gut wie gar nichts mitbekam. Den Schlusspunkt setzte ein burleskes Spektakel von Mark Bruce, eine wilde Show in einem skurrilen Revuetheater des beginnenden 20. Jahrhunderts, wo Frack und Zylinder, die Pom-poms von Cheerleaders und die Pfauenfedern aus dem Moulin Rouge eine schräge Mariage eingingen und den Abend mit viel Drive zum Abschluss brachten.

Immer auf der Höhe zeigten sich (trotz einer verletzungsbedingten Umstellung) die Tänzerinnen und Tänzer des Berner Balletts. Und nachdem wir die letzten Male des öfteren im halbleeren Theater gesessen hatten, freuten wir uns besonders, die vollbesetzten Ränge der Vidmarhalle zu sehen.


Technisches: Da wir an der Dernière waren, kann ich hier keine weiteren Daten angeben. Als Ergänzung zu meinem Post verweise ich aber gerne auf den schönen Beitrag bei art-tv.ch und auf die Rezension von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung.

Donnerstag, 25. März 2010

Antike am Königsplatz

Neulich benutzte ich einen Nachmittag in München, um mir die beiden Tempel der klassischen Archäologie am Königsplatz, die Antikensammlung und die Glyptothek, anzusehen. Da sich mein kurzes Mittagessen mit zwei Kollegen im Franziskaner wegen der dortigen krankheitsverdünnten Personaldecke etwas über Gebühr erstreckte, blieben mir für die beiden Museen zusammen allerdings nur gerade zwei Stunden. Eine radikale Beschränkung auf das Wesentliche war angesagt – alles andere als einfach in diesen Häusern. Bayerns König Ludwig I., der die Vasen- und Skulpturensammlung seinerzeit begründet hatte, wollte sich eine kleine, aber wertvolle Kollektion zusammenstellen lassen: „An Zahl werden die grossen Museen das meinige übertreffen; in der Quantität kann sich nicht, an Qualität soll sich meine Sammlung auszeichnen.“ Dies merkt man den Nachfolgeinstitutionen immer noch an: Ihre Grösse ist überschaubar, die Dichte an Meisterwerken jedoch überdurchschnittlich hoch.

Mein besonderes Interesse galt den Kronjuwelen der Glyptothek, den Giebelskulpturen vom Aphaiatempel in Aegina. Vor ein paar Monaten war ich wieder einmal dort oben; durchaus passend also, jenen sonnig-windigen Besuch bei der Ruine mit der Reverenz an den Skulpturenschmuck im Münchner Regen zu ergänzen. Ich gestehe, dass ich in sprachloser Ergriffenheit vor diesen Kunstwerken stand. Die beiden Ensembles, die zu den besterhaltenen griechischen Giebelskulpturen zählen, dokumentieren eine Scharnierzeit der griechischen Kunst: das eine die letzte Stufe der archaischen Epoche, hinter deren Strenge wahrnehmbarer als zuvor das Leben pocht; das andere, um ein Weniges jüngere, das In-sich-Ruhende der frühesten Klassik mit ihrer gebändigten Bewegung und meisterhaften Komposition. Die Figuren sind überraschend klein und von überwältigender Schönheit; der Marmor glitzert, die Oberflächen sind makellos. Die Wiederbegegnung mit den Aegineten war einer der grossen Momente meiner Museumserfahrungen.

Es wäre noch von vielen anderen Höhepunkten zu berichten: von den Porträts, Grabreliefs und Jünglingsstatuen in der Glyptothek; vom atemberaubenden Netzglasbecher; von den frühen rotfigurigen Vasen der sogenannten Pioniere mit ihrem erfolgreichen Ringen um die Darstellung des Menschen und ihrer unbeschwerten Kollegialität und Rivalität. Erwähnt sei hier aber vor allem die Geschichte der Glyptothek. Ein Blick auf alte Fotos und in die entsprechenden Akten zeigt, wie im 19. Jahrhundert ein idealtypisches Antikenmuseum eingerichtet wurde. Die Säle, in ihrer Form teilweise antiken Innenräumen nachempfunden, waren farbig ausgemalt und reich dekoriert. Die Antiken wurden weniger nach historischen, als vielmehr nach dekorativen Gesichtspunkten auf die Räume verteilt und angeordnet. Klassische Bedeutung in der Rezeptionsgeschichte hat die Ergänzung der Aegineten durch Bertel Thorvaldsen, der letzte solche Versuch an einem wichtigen antiken Ensemble; aus heutiger Sicht natürlich kritisiert, aber gleichzeitig ein herausragendes Dokument des Klassizismus, jener Epoche, die antike und zeitgenössische Skulptur nicht als Gegensätze, sondern als Teile einer Gesamtkunst verstand. Die „Verschlimmbesserungen“ wurden längst wieder entfernt und der dokumentierte Ursprungszustand so gut wie möglich wiederhergestellt. Die reichen Säle der Glyptothek ihrerseits wurden durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs zerstört. Der Wiederaufbau stellte die Bauvolumina wieder her, verzichtete aber auf jeglichen Dekor; nur leicht geschlämmte, nackte Ziegelmauern umgeben jetzt in gebührender Zurückhaltung die Statuen.


Technisches: Glyptothek und Antikensammlung am Münchner Königsplatz (ein paar Minuten zu Fuss oder eine Station weit mit der U2 vom Hauptbahnhof) sind dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet, donnerstags sogar bis 20 Uhr. Das Kombiticket für beide Häuser kostet sagenhafte 5,50 €! Bei schönem Wetter lockt ein Café im Hof der Glyptothek. Aus Zeit- und Wettergründen musste ich für Kaffee, Kuchen und Apéro eine Alternative ausserhalb der Museen suchen und habe sie in der sympathischen Brasserie Treznjewski wenige hundert Meter weiter nördlich gefunden.

Als Andenken an meinen Besuch habe ich in der Glyptothek den sehr schön gestalteten Katalog von Raimund Wünsche erstanden: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. München, C. H. Beck 2005. ISBN 3-406-42288-8.

Freitag, 19. März 2010

Mit dem Bauforscher durch Griechenland

Mein Neujahrsvorsatz Nummer drei, mich von neuem und möglichst systematisch mit den Themen und Inhalten meines Studiums auseinanderzusetzen, erweist sich als exzellente Idee. Zwar ist es inzwischen über acht Jahre her, dass die Antike aus dem Hauptfokus meiner Aufmerksamkeit verschwunden ist, aber die Ruinen meines Wissens sind erfreulicherweise noch so gut erhalten, dass ich sie ohne grossen Aufwand festigen, auf und an ihnen auf- und anbauen kann. Grundlagenwerke sind dazu eine besonders geeignete Lektüre, denn sie leisten auf unaufdringliche Weise beides, die Festigung des Bestehenden und seine kluge Ergänzung.

(In einer Klammerbemerkung sei dazu der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ein Kränzchen gewunden. Seitdem ich mich aus Platzgründen entschieden habe, nur noch die Bücher zu kaufen, die ich gleichentags noch zu lesen beginne, bin ich dort zwar nicht mehr Mitglied. Was die WBG jedoch an Grundlagenliteratur für alle möglichen Disziplinen, und insbesondere für die Altertumswissenschaften bereitstellt, ist grossartig. Sie bleibt unbeirrt jenem aussterbenden Phänomen verpflichtet, das man „Bildungsbürgertum“ nennt, und das ist so beeindruckend wie beruhigend.)

Und damit zu den Grundzügen der griechischen Architektur von Heiner Knell, einem der führenden antiken Bauforscher. Das Buch ist gleichsam eine Periegese durch das gesamte griechische Kulturgebiet, denn Knell geht durchwegs von der genauen Beobachtung der Denkmäler aus. Er führt uns zu den Hauptmonumenten der griechischen Antike, die er prägnant analysiert und aus deren Analyse er die wichtigen Entwicklungslinien und gemeinsamen Charakteristika ableitet. So fügt sich die Beschreibung der wichtigsten dorischen Ringhallentempel von den Anfängen bis in die klassische Zeit durch kluges Hervorheben kennzeichnender Eigenschaften quasi en passant zur Entwicklungsgeschichte dieses Bautypus zusammen. Solcherart an die Hand genommen kann der interessierte Laie selbständig nachvollziehen, wie sich die einzelnen Bauelemente nach und nach zu einem skulpturalen Ganzen zusammenfügten und zu einer immer perfekteren Einheit gelangten, aber auch wie in klassischer Zeit das Interesse an der Innenraumgestaltung aufkam und bald überhand nahm. Ähnliches lässt sich zur Entwicklung der schmückenden Elemente am ionischen Tempel, zu dessen verschiedenen Entwicklungslinien und ihren Glanzzeiten sagen. Und Heiner Knell bleibt bei den Einzelmonumenten nicht stehen, sondern stellt auch wichtige Heiligtümer und Stadtanlagen in einer Gesamtsicht vor, was es ihm ermöglicht, einzelne Bauwerke in ihren örtlichen und historischen Zusammenhang zu setzen. Dass man bei der Lektüre das Gefühl erhält, hier nicht ex cathedra belehrt, sondern zum eigenen Verständnis angeleitet zu werden, ist nicht das geringste Verdienst des Autors.

Etwas erstaunt hat mich der Platz, den er der religiösen Architektur einräumt: Fast drei Viertel des Buches sind den dorischen und ionischen Tempeln sowie den bedeutenden Heiligtümern gewidmet, währenddem der Städtebau sehr kurz abgehandelt wird. Ich bin mir der überragenden Bedeutung der Kultbauten für die griechische Baukunst sehr wohl bewusst, ebenfalls ihres relativ guten Erhaltungszustandes sowie des Interesses, welches die Archäologie ihnen klassischerweise entgegenbringt. Zudem bemerkt Knell in der Einleitung zur Behandlung von Wohnhaus und Stadtanlage, dass sich die Forschung für diese Themen erst seit relativ kurzer Zeit vertiefter interessiert – wäre sein Buch 2010 erschienen, hätten diese Kapitel an Länge wohl gewonnen. Dennoch bedaure ich etwas, das beispielsweise Typologie und Beispiele öffentlicher Bauten kaum zur Sprache kommen; und auch Kultbauten wie die Theater werden im Vergleich zu ihrer Bedeutung etwas stiefmütterlich behandelt.

Im Lichte der Einleitung des Buches lese ich diese Gewichtung als eine Grundaussage des Autors zur griechischen Architektur. Ohnehin gilt: Es ist immer möglich, sich ein solches Werk noch ausführlicher vorzustellen. Das gilt für die Auswahl und Gewichtung des Inhalts ebenso wie für die zurückhaltende Bebilderung, die hauptsächlich mit Bauplänen arbeitet. Entscheidend ist, dass Knell auf dreihundert leicht zu lesenden Seiten einen klaren Gesamtüberblick über mehrere Jahrhunderte einer Kunstform gibt, die technisch und ästhetisch weiterhin gültige Massstäbe gesetzt hat.


Technisches: Heiner Knell, Grundzüge der griechischen Architektur. (Grundzüge Band 38.) Darmstadt, WBG 1980. ISBN 3-534-08018-1. Das Buch ist zurzeit nur antiquarisch erhältlich.

Freitag, 12. März 2010

Giulias Verschwinden

Martin Suter habe ich – wie wohl viele andere auch – als Kolumnenschreiber kennengelernt: als Schöpfer von lifestyle victim Geri Weibel und als scharfzüngigen Beobachter der Welt in der Business Class. Kaum jemand versteht es so magistral, in lakonischer Kürze, fast beiläufig, einen Charakter so trefflich zu präsentieren. Suter kann aber noch viel mehr. Es gibt kaum eine Textsorte, in der sich der Mann nicht bewiesen hätte: Mit Werbetexten hat er begonnen; Reportagen, Bühnenwerke, preisgekrönte Romane und Songtexte (für Stephan Eicher) kamen dazu – und gelegentlich auch Drehbücher. Um ein solches geht es hier, um dasjenige zu Giulias Verschwinden; und die Einleitung lässt mich jetzt wunderbar den Bogen schlagen zur Bemerkung, dass dieser Film eine visuell umgesetzte Kolumnensammlung ist. Er hat keine Geschichte, er hat ein Thema: das Alter, das Altern und den Umgang damit. Drei Geburtstage, schön gerecht verteilt über ein Menschenalter, sind gewissermassen die Kristallisationskerne, um die herum sich im Lauf eines Abends die einzelnen Episoden mit ihren präzise skizzierten ProtagonistInnen anlegen. Die Dialoge sind geschliffen, jedes Wort sitzt, wie scharfe Klingen zischen die Sätze durchs Restaurant, durchs Altersheim, durch die Bar, und nur weil alle Figuren diese Klingen gleichermassen virtuos führen, hält sich die Opferzahl in Grenzen. Die angestrengt-ironischen oder geradeheraus sarkastischen Kommentare zum Alter (zum eigenen und zu dem der anderen) liessen mich mehr als einmal leer schlucken oder ertappt schmunzeln. Freilich droht auf allen Seiten die Klischeefalle und kann auch nicht vollständig vermieden werden, beispielsweise im überaus bösartigen Nahkampf in der Altersresidenz. Anderthalb Stunden lang ausschliesslich mit Bonmots die Spannung hochzuhalten, ist eben auch für einen Martin Suter eine Herausforderung.

Giulias Verschwinden ist ein Mosaik aus Pointen, von einem hervorragenden Ensemble virtuos gesetzt. Trotz gewisser Längen funktioniert der Film. Ich glaube, das liegt daran, weil er das Älterwerden, eines der grössten Themen der Menschen, so präsentiert, wie auch wir es häufig genug angehen: Mit einer verzweifelten Ironie, die zuallererst uns selber vor der fortschreitenden Panik bewahren soll.


Technisches: Giulias Verschwinden läuft noch in einigen Kinos, vor allem in der lateinischen Schweiz.