Der Sommer fordert seinen Tribut, der Blog hat tüchtig Staub angesetzt. Ich gelobe Besserung und beginne mit einer Rückblende um sechs Wochen, weit vor die Ferien zurück, ans Belluard Bollwerk International. Welche Wundertüte dieses Festival ist, wurde mir schon bei meinem allerersten Besuch vor Jahren bewusst, als ich zwei nackten Männern eine Stunde lang beim unkoordinierten Staksen über die Bühne zusah. Neben solchen und ähnlichen Meilensteinen der aktuellen Avantgardekunst sind am Belluard aber auch zugänglichere Performances zu erleben und häufig unerwartete, berührende Höhepunkte – ich erinnere mich besonders gerne an La grande guerre vor drei Jahren. Eine solche Kostbarkeit hat mich auch dieses Jahr in ihren Bann gezogen: die Lesung/Performance Aïda sauve-moi des libanesischen Künstlerduos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Kristallisationskeim dieses dichten Abends war ein fast surrealer Vorgang wenige Tage vor der Premiere ihres Films A perfect day in Beirut. Der Film befasst sich mit einem Thema, das im Kern des künstlerischen Schaffens von Hadjithomas und Joreige liegt: mit den Folgen und der Bewältigung des libanesischen Bürgerkriegs. 17'000 Menschen sind seit Jahren verschwunden, ohne Nachricht, ohne Spuren, ohne dass auch nur ihre Gebeine gefunden worden wären. Die Witwe und der Sohn eines solchen Verschwundenen stehen im Zentrum des Films, der ihren Versuch zeigt, nach fünfzehn Jahren den Verlust des Ehemannes und Vaters zu akzeptieren. Für die Vermisstenmeldung in der für den Film nachgedruckten Zeitung von 1990 trieb die Requisiteurin das Porträtfoto des verstorbenen Ehemannes einer Tante auf, welche mit dieser Verwendung einverstanden war. Was die Filmemacher nicht wussten: Die beiden waren geschieden, der Mann hatte wieder geheiratet – und seine zweite Ehefrau Aïda glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ihr in der Vorpremiere von A perfect day ihr Mann als Verschwundener aus der Zeitung entgegenblickte, als wollte er ihr sagen: „Hol mich da raus!“ Sie kontaktierte die Produzentin, konfrontierte sie mit ihrem Schock und verlangte ultimativ, dass das Bild aus dem Film entfernt werde.
Der Umgang mit dieser Forderung war vordergründig der Inhalt der Lesung/Performance. Am Holzpültchen sitzend, vor sich sein MacBook, hinter sich die Leinwand, erzählte Khalil Joreige aber viel mehr als das. Mit dem Auge des Künstlers, der in der Wirklichkeit die Fiktion erkennt und in der Fiktion die Wirklichkeit, sah er in dieser eigenartigen Episode gleichsam im Konzentrat das Dilemma, die Nöte, die Ängste und Hoffnungen des kriegsgeschüttelten Libanon abgebildet oder zumindest angetönt. Und weil all dies eben das Lebensthema von Hadjithomas/Joreige ist, legte sich unter das Netz von Assoziationen und Verweisen, das sich in der Zeitgeschichte spinnen lässt, ein zweites Netz, nämlich eine Zusammenfassung ihres Schaffens. Da ist ihr Film Ashes, für den sie unter den Statisten jemanden suchten, der einen Toten in einem Sarg spielen würde. Die teils verlegenen, teils gewundenen Entschuldigungen der sichtlich unangenehm berührten Leichen-Kandidatinnen und -Kandidaten haben die Künstler in einem Kurzfilm dokumentiert, der von der diffusen Angst vor dem Heraufbeschwören von Unglück handelt. Da sind die Fotoserien der Märtyrerbilder, jener Poster von Toten des Krieges, die alle Strassen dekorieren, und deren allmähliches Verblassen als Kommentar zu Gedenken und Vergessen gelesen wird. Da ist schliesslich der Moment, in welchem Khalil Joreiges persönliche Geschichte sich am deutlichsten mit der tragischen Geschichte seines Landes verstrickt. Sein Onkel gehört nämlich zu jenen ungezählten Verschwundenen. Jahre später, beim Räumen seines Hauses, wird ein belichteter, aber nicht entwickelter Super-8-Film gefunden: eine leise, unwahrscheinliche Hoffnung auf einen letzten Blick in das Leben des Verschwundenen. Joreige lässt die paar Minuten Film sorgsam entwickeln und zeigt sie integral: eine weisse Leinwand, nur flackernde Schemen, die sich gegen Schluss kaum wahrnehmbar zu Figuren, zu Menschen verdichten. In die Gewissheit, alles versucht zu haben, mischt sich die Enttäuschung über die verlorenen Bilder aus des Onkels letzten Lebenstagen.
Der Schock und die penetrante Forderung von Aïda bildeten den roten Faden des Abends, und die zunächst nur kuriose Geschichte wurde sogar noch kriminalistisch aufgeladen. Obwohl Hadjithomas, Joreige und ihr Team von der unerwartet aufgetauchten Witwe gehörig gestresst wurden (und obwohl dem Publikum ob der Absurdität der Episode gelegentlich nur ungläubiges Lachen blieb), verzichteten sie darauf, sich über die Ärmste lustig zu machen. Vielmehr wurde deutlich, dass in einem gebeutelten Land wie dem Libanon solche Reaktionen allen verständlich sind. Dass Aïda, Joana Hadjithomas und Khalil Joreige schliesslich rechtzeitig eine Lösung fanden, die allen gerecht wurde, lässt sich auch als verhaltener Ausdruck der Hoffnung lesen, dass eine Heilung der vielen offenen Wunden möglich ist.
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