Altjahreswoche, etwas Zeit zum Zurückblicken und -denken. Ein reiches Jahr spannt seine letzten Fäden. Ungezählte Erinnerungen werden bleiben als Schatz der kommenden Jahre, einige unübersehbar, andere so gering, dass sie mir erst nach langer Zeit wieder zufällig durch den Kopf schiessen werden. Etwas handfester ist die Zahl, die hier gleich rechts steht: Um 35 Artikel ist Phemios Aoidos dieses Jahr gewachsen, hat dabei seinen fünften Geburtstag gefeiert und (inkognito) die Zweihundertfünfzigermarke überschritten. In reinen Zahlen setzt sich der lange Negativtrend fort. Das wird sich ganz sicher nicht nächstes Jahr ändern, in dem sich der Fokalpunkt meines Lebens und meiner Energie massiv verschieben wird, und in dem radikal neu definiert wird, was wichtig und was dringend ist. Ich entlasse diesen Blog also in eine ungewisse Zukunft. Das Schreiben war mir nie in dem Masse Sauerstoffersatz, als dass ich für künftige hektische Phasen mir daraus Besinnung und Erholung versprechen würde. Zugleich weiss ich: Prognosen sind nicht mein Ding, und das Leben hat an sich, dass es am laufenden Band für Überraschungen sorgt. Darum wünsche ich ganz simpel hier und heute uns allen einen guten Jahreswechsel und ein frohes neues Jahr, offene Augen und Ohren – und reichlich Material, um sie zu füllen.
Montag, 31. Dezember 2012
Donnerstag, 27. Dezember 2012
Blaubart
Wer den abendländischen Kanon intus hat, kann getrost
jederzeit ohne spezifische Vorbereitung ins Theater gehen. Alle anderen haben
jeweils zwei Optionen: sich zuvor etwas einlesen, oder es drauf ankommen
lassen. Ich habe zwar auch schon ein ganzes Buch durchgearbeitet, um für einen
Ballettbesuch einigermassen auf dem Laufenden zu sein. In der Woche vor
Weihnachten haben mich jedoch Fest- und andere Vorbereitungen sowie ein Schuss
Abenteuerlust dazu gebracht, mir im Stadttheater Bern Blaubart anzusehen, ohne auch nur einen Blick in die Wikipedia
geworfen zu haben.
Da B. auch nicht ausführlicher belesen war, konnten wir
unbelastet von jeglicher Voreingenommenheit in das Stück eintauchen – und dabei
ein Konzeptkunstwerk entdecken. Die Inszenierung von Max Frischs letztem grossem Prosastück ist gewissermassen das Aushängeschild der ersten gemeinsamen Saison
des Berner Hochkultur-Trägers Konzert
Theater Bern: ein Abend, an dem Schauspiel, Sinfonieorchester, Oper und
Ballett auch auf der Bühne fusionieren wollten. Und so sah das aus: Auf einem
dünnen Vorhang erzählten ineinander gemorphte Schwarzweissbilder rückwärts die
Geschichte eines Autounfalls, und eine surreale Videosequenz zeigte die
Protagonisten in einem an Sisyphos gemahnenden Duell. Dazwischen schälten die
Scheinwerfer einzelne Zimmer eines überdimensionierten, dreistöckigen
Puppenhauses aus dem Dunkel hinter der Leinwand, in denen sich zwischen
Alltagsszenen finstere Auftritte eines Racheengels mischten. Aus dem
Orchestergraben erklang dazu Franz Schrekers Kammersinfonie, ein akut expressionistisches
Werk, das einer Filmmusik nicht unähnlich düstere Ahnungen anklingen liess. Und
das war erst der Anfang.
Das mag chaotisch tönen und war es auch – aber diese alle
Gattungs- und Genregrenzen umstossende Inszenierung erwies sich als dem Werk
auf intensive Weise angemessen. Max Frischs Blaubart
spielt im Wesentlichen im Kopf und in den Träumen des Dr. Felix Schaad, der vom
Vorwurf, seine sechste Ehefrau erwürgt zu haben, zwar trotz beunruhigender
Indizien freigesprochen wurde, in der Schuldfrage jedoch verstrickt bleibt, den
Prozess mit seinen ausführlichen Zeuginnenbefragungen obsessiv in seinen
Gedanken nachspielt, von queren und schweren Träumen verfolgt wird, ein
unerwünschtes Geständnis ablegt und schliesslich verunfallt. Da ist wenig
Klarheit und Logik, viel Verwirrung und Unverständnis; und dass diese
Gemengelage nicht nur durch schrille Szenen und unvermittelte Übergänge auf die
Bühne gebracht wird, sondern dass da aufs Mal eine Arie einen Traum
kommentiert, dass geistliche Musik das Pathos einzelner Gedanken schroff
überhöht, dass Figuren unerwartet in Bewegung übergehen, ist letztlich nur eine
Illustration jener Grenzüberschreitungen, die in der Vorlage bereits vorhanden
und vollzogen sind. Die Akteure sind allesamt zu loben: Stéphane Maeder als
düsterer Dr. Schaad, Henriette Cejpek als Staatsanwältin und Racheengel und
beides im Gleichen, Milva Stark, die den absurden Reigen der Zeuginnen
inkarnierte, Claude Eichenberger, die der toten Ehefrau eine sehr lebendige
Sopranstimme verlieh. Missglückt ist einzig der Einbezug des Balletts. Das
liegt nicht an Irene Andreetto, die ihre Rosalinde präzis erfasst und mit
dosierter Überzeichnung charakterisiert hat, vielmehr an einer Regie, die in
ihrem Gesamtkonzept für den Tanz keinen Platz gefunden hat, der über ein paar agitierte
Bewegungen hinausgegangen wäre. Ehrlicher wäre vielleicht gewesen, auf den
hohen politischen Anspruch und die Beteiligung des Ballettensembles zu verzichten.
Und ich weiss nicht recht, was ich angesichts der jüngsten Diskussionen über
die Zukunft des Tanzes am Stadttheater dabei fühlen soll: Unbehagen, dass ausgerechnet
diese Sparte in die Gemeinschaftsproduktion nur alibimässig integriert wurde, oder
Erleichterung, dass sie trotz mangelnder Verwendung mit einbezogen wurde?
Technisches: Blaubart
steht in Bern noch am 5. Januar auf dem Programm. Habe ich schon erwähnt, dass ich
die neue Website von Konzert Theater Bern nur für mässig geglückt halte?
Designer und Programmierer haben alles gegeben, das Navigieren ist ein
spektakuläres Erlebnis; aber auf dem Smartphone sehe ich nur die Hälfte, und
wie ich einen Link nicht auf eine spezifische Vorstellung, sondern auf ein
Stück setzen kann, erschliesst sich mir nicht. Wen ich oben gelegentlich ins Leere
schicke, bitte ich mit dieser Beschwerde präventiv um Entschuldigung.
Samstag, 15. Dezember 2012
Kapitale Erfindungen
Das Landesmuseum Zürich beweist wissenschaftliche Kühnheit, ein
so gewichtiges und spannendes, aber komplexes und wenig anschauliches Thema wie
die Herausbildung des Kapitalismus in einer Sonderausstellung umzusetzen: Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam.
Zu ihren Blütezeiten im Mittelalter beziehungsweise in der frühen Neuzeit
wurden in diesen beiden Städten wesentliche Elemente unserer heutigen
Wirtschaftsordnung entwickelt. In Analogie zur kulturell-literarischen Klassik liesse
sich von einer „ökonomischen Klassik“ sprechen, um das fruchtbare, komplexe
Zusammenspiel einer jeweils idealen geografischen Lage, einer atypischen
politischen Situation, einer kreativen Denkweise und weiterer Einflüsse zu
charakterisieren. Das führte zur Entstehung von neuen und bis heute
unabdingbaren Konzepten und Finanzierungsmodellen, zur scharfen Konzentration
aller staatlichen und privaten Anstrengungen auf den Handel sowie zu
unermesslichem Reichtum – in erster Linie für die führenden Familien, aber in
beschränktem Mass auch für eine entstehende, schmale Mittelschicht. Und mit dem
Verlust der günstigen Rahmenbedingungen ging in Venedig wie in Amsterdam ein
gleiches Symptom für den Niedergang einher: der Abschied der Kaufleute vom
risikoreichen Handel und der Rückzug auf den Genuss ihres Vermögens. Parallelen
zur Gegenwart werden am Schluss mit einem unerwarteten Schwenk auf China explizit
angedeutet, sind aber in der ganzen Ausstellung präsent.
Soviel zum Thema. Nun soll ein Museum aber Geschichte anhand
von Gegenständen erzählen; wer es besucht, will keine Texte lesen, sondern
Objekte sehen und dann den notwendigen Kontext dazu erfahren. Es zeigt sich,
dass das bei diesem Thema kaum möglich ist. Die Ausstellungsmacher haben zwar grosse
Kreativität bewiesen und kaum einen Aufwand gescheut: Beispielsweise haben sie
das halbe Museo Correr aus Venedig als
Leihgabe nach Zürich geholt. (Aus den eigenen Beständen des Nationalmuseums
konnte zu diesem Thema kaum etwas beigesteuert werden.) Viele der gezeigten Gegenstände
haben jedoch nur eine entfernt illustrative Funktion und stehen deshalb etwas
verloren da. Und viele spektakuläre Stücke sind nur als Kopien zu sehen –
punktuell zwar akzeptabel, aber für ein Museum eigentlich ein Unding. Nur
einige wenige Objekte haben ein echtes Wow-Erlebnis erzeugt: Eindrücklich sind
etwa die kürzlich wiederentdeckte älteste Aktie der Welt, oder die
detaillierten Modelle der Brenta-Villen, starke Symbole für den Rückzug der
reichen Venezianer ins Private in der Zeit des Niedergangs. Doch lässt sich im
Ganzen nicht überdecken, dass die Texte und Filme der zentrale Inhalt der
Ausstellung sind. Die sind freilich magistral, auf den Punkt formuliert, in der
richtigen Länge und Ausführlichkeit, im besten Sinne didaktisch. Aber soll man
deswegen nach Zürich reisen?
Die Frage ist umso berechtigter, weil das Landesmuseum zu
seiner Ausstellung den vielleicht genialsten Katalog veröffentlicht hat, der mir bislang
unter die Augen gekommen ist: Für zwanzig Franken erhält man ein kleines
(Reclam-Format), hochwertiges Bändchen, gebunden, mit goldfarbenem Umschlag und
Lesezeichen, das neben Einleitung und ausführlichem Glossar auf 270 Seiten
genau vier Essays enthält, zwei zu Venedig, zwei zu Amsterdam. Die Texte sind meisterhaft
geschrieben, lesen sich flüssig und logisch, bieten mit sicherer Hand die
Einordnung und die Gesamtsicht, welche die Ausstellung nicht in dieser
Konsequenz leistet. Ich habe es noch auf der Rückfahrt begonnen und mühelos
praktisch in einem Zug gelesen. Und wenn ich wählen müsste zwischen dem
Ausstellungsbesuch und der Kataloglektüre, würde ich mich ohne Zögern für
letzteres entscheiden.
Technisches: Die
Ausstellung „Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam“ ist im Landesmuseum
Zürich noch bis am 17.02.2013 zu sehen. Im Eintrittspreis von 10 Franken ist
neben den Sonderausstellungen auch die spektakuläre Dauerausstellung
inbegriffen. (Bernisches Historisches Museum, hörst du mich? Dagegen siehst du
mit deinen Fantasiepreisen ziemlich alt aus.) Der Katalog: Walter Keller
(Hrsg.), Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zürich, Kein&Aber
2012. ISBN 978 3 0369 5653 4.
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Phemios
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Freitag, 7. Dezember 2012
Einsamer Wolf
Findige Verleger haben es längst gemerkt: An
Ferienerinnerungen lässt sich im Literaturmarketing trefflich anknüpfen. Was
Donna Leon recht war, soll mir billig sein, scheint sich manch einer zu sagen;
und so übertreffen sich die Klappentexte gegenseitig mit der Versicherung,
umstehend lasse sich in das authentische Florenz, Triest, Bologna oder
Sardinien eintauchen. (Die Rezensenten spielen das Spiel denn auch brav mit,
sprechen von der „lebendigen, bunten Schilderung der Stadt“
oder halten mit der nötigen Dosis Kritik fest, dass der Autor seine Stadt
„alles andere als idyllisch [schildert], aber so liebevoll, dass man gleich
hinfahren möchte.“) Einen Stapel
solcher Bücher, allesamt Krimis und meist in Italien spielend, hat mir L. vor
einiger Zeit ausgeliehen. Da ist ziemlich alles dabei, vom schalen Misserfolg Das Geheimnis der Signora, dessen Florentiner
Lokalkolorit sich auf eine Vorbeifahrt am Ponte Vecchio beschränkt, bis zu
Valerio Varesi, der seinen Commissario Soneri in komplexen Szenarien durch den
Nebel der Bassa Padana streifen lässt und von dem ich mir inzwischen sogar ein Buch auf Italienisch gekauft habe. Inzwischen bin ich fast durch, bin auf
meiner Reise durch Italien in Genua angelangt, und stelle gewisse Ermüdungserscheinungen
fest: All dieser Lokalkolorit, dieses beiläufig-eifrige Namedropping, die
beflissenen Erklärungen des Eingeborenen und die oft kunstvoll distanzierte
Schreibe wiederholen sich allmählich ein bisschen. Und Bruno Morchio macht es
einem bei der ersten Begegnung mit seinem Ermittler Bacci Pagano auch nicht gerade
leicht: Dieser altgediente Schnüffler, der seine tiefgründigen Reflektionen im
Korbsessel auf dem Balkon inszeniert und selbstgefällig mit allem ins Bett
steigt, das einen Rock trägt, erstickt beinahe unter den dicken Schichten von Klischees.
Wer dem Reiz widersteht, Wölfe in Genua umgehend wieder wegzulegen, wird jedoch mit einer starken
Geschichte und einer souveränen Dramaturgie belohnt. Ein fait divers wie aus einem Fantasyroman steht am Anfang: In den
Wäldern über Genua ist ein alter Mann offensichtlich von einem Wolf totgebissen
worden. Wilde Wölfe gibt’s dort gar nicht, aber der Mann hatte seit kurzem eine
gut dotierte Lebensversicherung, und überdies eine schöne junge Frau aus Panama.
Das riecht natürlich nach Ärger, zunächst für die Versicherung, dann für die
Frau und schliesslich noch für andere. Morchio spinnt seine Fäden mit Bedacht, lässt
Pagano überall Witterung aufnehmen, trifft präzise die Ambivalenz zwischen
abgebrühtem Instinkt und ungeschützter persönlicher Verwicklung. Der Plot
entwickelt sich konstant und schlüssig, kein Schritt kommt zu schnell, kein
Faden bleibt unverknüpft, nichts ist an den Haaren herbeigezogen, und wenn ein Deus ex machina gebraucht wird, erscheint
er in unaufgeregter menschlicher Gestalt.
Ärgerlich ist einzig, dass das grosse Lesevergnügen durch
ein paar Dummheiten getrübt wird. Paganos überdrehtes Mackergehabe habe ich
schon erwähnt; es kulminiert in einem Abend, an dem er sich zunächst mit seiner
Ex-Frau hemmungslos betrinkt und gleich danach seiner neusten, nie überwundenen
Verflossenen in die Arme und ins Bett fällt. Das ist nur noch kitschig; und
reichlich sozialkitschig ist auch die Freundschaft des Detektivs zum Sohn seiner
nubischen Putzfrau (und Affäre, klar), der ihm dafür in Genuas Immigrantenbars
die Kastanien aus dem Feuer holen muss. Wenn das alles originell sein soll, so
ist es für mich verschwendete Originalität – aber ohne Schaden überles- und
-stehbar, und somit nur ein kleiner Abstrich an der Stilnote für einen
ansonsten magistralen Krimi.
Technisches: Bruno
Morchio, Wölfe in Genua. Roman. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler.
Zürich, Union 2007. ISBN 978 3 293 00389 7. Original erschienen bei Fratelli
Frilli, Genua, 2004, unter dem Titel Maccaia. Una settimana con Bacci Pagano.
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Donnerstag, 29. November 2012
The Angels' Share
Solange ein Whisky im Fass reift, schwindet er: Durch das
Holz verdunsten alljährlich etwa zwei Prozent des Volumens. „The Angels‘
Share“, den Anteil der Engel, nennt man diesen Verlust, der durch sein
Verschwinden Konzentration und Qualität des Rests erhöht. Whiskyliteratur und
Destillerieführer weisen gerne und mit Augenzwinkern auf dieses wesentliche
Element im Entstehungsprozess hin – und es ist ja auch eine wunderschöne
Geschichte: Sie verdeutlicht den Preis der Reifung, spielt auf die vielen nicht
kontrollierbaren Elemente bei der Entstehung eines guten Whiskys an und hat
einen Anklang von antikem Trankopfer an die Unsterblichen.
The Angels‘ Share
heisst auch der neueste Film von Ken Loach, dem britischen Regisseur, der immer
auf die sozialen Brennpunkte und die entscheidenden historischen Momente
fokussiert. Dass er sich mit etwas Raffiniertem, Luxuriösem wie Malt Whisky
beschäftigt, ist auf den ersten Blick überraschend – und es ist tatsächlich ein
langer Weg, der von den Glasgower Vorstädten in die Destillerien der Highlands führt.
Loach beginnt im Gerichtssaal, wo Kleinkriminelle, Marginalisierte, Sozialfälle
beurteilt werden, meist für Bagatellen, aber keiner das erste Mal. Einen sehen
wir von Nahem an, den arbeitslosen Robbie, tauchen in aller Schonungslosigkeit
ein in sein verpfuschtes Leben, erfahren, wie er im Kokainrausch einen
Unbeteiligten spitalreif geschlagen hat, erfahren von seinem sinnlosen, auf die
Vätergeneration zurückgehenden Krieg mit einem anderen Verlierer, sehen, wie er
von der Familie seiner Freundin Leonie in der Maternité des Spitals vermöbelt
wird. Die Bilder gehen an die Nieren, die Situation ist hoffnungslos.
Angesichts seines neugeborenen Sohnes Luke ist Robbie zwar ernsthaft entschlossen,
sein Leben zu ändern, die schiefe Bahn zu verlassen – aber wie das geschehen
soll, da er von links und rechts unter Feuer steht und in einer Bruchbude bei
einem Kumpel squattet, das ist nicht ersichtlich.
Dann treffen sich Robbie und all die anderen verkrachten
Existenzen unter der Obhut des Sozialarbeiters Harry zur gemeinnützigen
Arbeitsleistung. Harry hat einen gesunden Humor und ein riesiges Herz; ein
guter Mensch, wenn es je einen gab. Das eine fügt sich zum anderen, und ehe er
sichs versieht, hat Harry Robbie in seine Whisky-Leidenschaft initiiert. Es
zeigt sich, dass der junge Mann eine aussergewöhnlich feine Nase hat, und zudem
die Worte findet, um präzis zu beschreiben, was er riecht. Auf den
Whisky-Events, die er mit Harry besucht, fällt er auf – und kommt an eine
wertvolle Information: In der Destillerie Balblair soll in Bälde ein kürzlich
wieder aufgefundenes Fass von einem über dreissigjährigen Whisky versteigert
werden. Der Whisky-Meister Rory McAllister spricht verschwörerisch vom besten Trunk,
den er je verkostet hat, und schätzt, dass die Auktion einen hohen
sechsstelligen Betrag einbringen wird.
Mit so viel Geld wäre Robbie nicht nur seine dringendsten Sorgen
los, sondern könnte mit Leonie und Luke neu starten. Also entwickelt er einen ingeniösen
Plan, von diesem kostbaren Fass heimlich ein paar Flaschen abzuzapfen. Mit drei
Kumpels stürzt er sich in einen Kilt und trampt in den Norden, wo sich ein
Slapstick-Roadmovie erster Güte entwickelt. Wie die vier Helden von der
traurigen Gestalt ihren Plan ausführen, wo sie brillieren und worüber sie
stolpern, wird hier selbstverständlich nicht verraten. Nur soviel: Bis wenige
Minuten vor Schluss war mir absolut unvorstellbar, wie Regisseur Ken Loach
diese haarsträubende Geschichte abschliessend wieder ins Lot bringen würde. Er
hat es meisterhaft geschafft, billige Lösungen und Kitsch zu vermeiden und ein
Finale zu präsentieren, das Hand und Fuss hat und auch richtig ist. Dazu musste
er einiges an schrägem Personal aufbieten und über mehrere Ecken denken; auch
der Anteil der Engel spielt eine Rolle (mindestens das Konzept). Herausgekommen
ist eine Gangster-Tragikomödie, bald abgrundtief trist, bald herzlich lustig,
von Flüchen und Kraftausdrücken durchsetzt, erdig und luftig wie ein guter
Whisky.
Technisches: The Angels‘ Share startet am 29.11.2012 in den
Deutschschweizer Kinos.
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Sonntag, 25. November 2012
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?
Mancher Castingdirektor könnte die Altdorfer
Tellspielgesellschaft beneiden, die ohne weit zu suchen eine solche Anzahl von
Charakterköpfen zusammenbringt. Einer nach dem anderen kommen sie aus dem
Dunkel an den Bühnenrand des Tellspielhauses, langsamen Schrittes, mit offenem
Gesicht, den ernsten Blick ruhig und gerade ins Publikum gerichtet. Dann treten
sie zur Seite, an eine der beiden rostigen, leicht gekrümmten Stahlwände, die
das ganze Bühnenbild ausmachen; und zum Klang der brutalen, rhythmischen
Schläge auf den kalten Stahl krümmen sich die freien Urner, stolpern, schleppen
sich mühsam weiter, in Unterdrückung und Knechtschaft.
Dass es in Schillers Wilhelm
Tell darum geht, wie sich brutal unterdrückte Menschen mit entschlossenem Einsatz
von ihrem Diktator befreien, wissen wir. Wie
das geht, zeigt Volker Hesse in seinem zweiten Gastspiel als Regisseur der
Tellspiele in aller Deutlichkeit. Bereits vor vier Jahren sahen wir in Altdorf
einen schonungslosen, von romantischer Verklärung weitgehend befreiten Tell. Lag Hesses Augenmerk damals auf
den Strategien für den Weg zur Freiheit, so rückte er dieses Jahr die Willkür
der Schreckensherrschaft ins Zentrum. Jede Hoffnung wird brutal unterdrückt;
der grundlose Zorn der Junta verschont auch nicht die Alten und Schwachen.
Aussichtslos erscheint jeglicher Widerstand, und teuer wird er erkauft. Wer
beim Wort „Revolution“ an Freiheitsfahnen und freudentrunkene Siegesfeiern
denkt, vergisst darüber allzu leicht die Toten, die Verstümmelten, die
Gefolterten und ihre Angehörigen. Hesse rückt sie in den Mittelpunkt, gibt
ihrem Leid grossen Raum und vergisst sie auch nicht, als ihr Unterdrücker tot
und seine Schergen gefangen sind: Im wilden Taumel der Schlussszene teilt sich die
Bühne. Während links zum lüpfigen Trommelklang getanzt und gefeiert wird,
sammeln sich rechts all jene, deren Liebste die Freiheit mit Leben und Blut
bezahlt haben. Ihr Weinen und ihre Trauer mischen sich in die Freudenlieder,
und in dieser Dissonanz, dieser Ambivalenz von Triumph und Verzweiflung,
begrüssen die Freien ihre Freiheit.
Gesprochen wird dabei wenig, und das ist gut so. Denn die
grösste Gefahr bei Schiller besteht darin, sich von der Anmut der Sprache zu
sehr mitreissen zu lassen. Schöneres Deutsch ist nie geschrieben worden; jeder
Satz verdiente es, in Marmor gehauen zu werden. Allzu leicht gerät der
empfindsame Zuschauer dabei ins Schwärmen, lässt sich ablenken vom Inhalt oder
sieht diesen im perfekten sprachlichen Kleid zu einem ewiggültigen Schönen,
Wahren, Guten erstarren. Volker Hesse war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst.
Er hat Schillers Tell radikal zusammengestrichen, arbeitete stark mit Bewegungen, tänzerischen Elementen,
ausführlichen und mitreissenden Choreografien und mit einfachen Rhythmen und
Klängen. Und wenn auf der Bühne dann dennoch gesprochen wurde, brachte das
kernige Urner Hochdeutsch gerade so viel Verfremdungseffekt mit, dass hinter
der schönen Form der Inhalt immer durchschien.
Technisches: Die
Altdorfer Tellspiele 2012 sind längst Geschichte, dieser Artikel ist nicht mehr
als eine nachträgliche Hommage an ein grossartiges Stück Theater.
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Freitag, 16. November 2012
Skyfall
Während der Diskussion in der Pause von Skyfall fiel es uns auf: Die früheren James-Bond-Filme (und damit
meine ich mit wenigen Ausnahmen alles von Connery bis Brosnan) machten nie so
richtig Angst. Ich weiss schon, dass jede Epoche ihre spezifischen Bedrohungen
hat, und dass das Wedeln mit Atomraketen in den Eingeweiden eines Zuschauers in
den Sechzigern wohl anderes ausgelöst hat, als es bei uns heutigen auslöst – aber
trotzdem: Die Bösewichte, ihre Pläne und ihre Hauptquartiere waren in der Regel
überdreht-irreal, James Bond dachte beim Begriff „Bodycount“ in erster Linie an
weibliche Körper und konzentrierte
sich darüber hinaus hauptsächlich darauf, seinen Sarkasmus möglichst träf an
den Mann zu bringen. Mit zwei knallharten Fäusten und einer Tasche voll Gadgets
die Welt zu retten, war immer eine (lösbare) Nebenaufgabe, zu deren Bewältigung
gelegentlich auch ziemlich clowneske Stunts eingesetzt werden konnten. Kaum
überraschend, dass die Plots eines Grossteils dieser Filme schon fast
schematisch aufgebaut sind, von der actiongeladenen Eröffnungssequenz über
Briefing und Ausstattung durch M und Q, rituelle Kontaktaufnahme mit dem
Bösewicht (oder seiner Freundin) bis zur Gefangennahme und zum Showdown in
einem möglichst spektakulären Ambiente: alles ein überlanger, hochamüsanter Running Gag. Wiedersehen macht Freude,
und darin liegt ein Grund für den Erfolg der Bond-Reihe.
Mit Daniel Craig wurde vieles anders. Nachdem die alte
Formel in Pierce Brosnans letztem Film, Die Another Day, der an seiner eigenen Absurdität fast erstickte, wieder mal
krachend an die Wand gefahren wurde, scheinen sich die Bond-Macher besonnen zu
haben. Der neue Bond sollte mehr als ein Abziehbild sein; er sollte einen
Charakter bekommen, zweifeln und sich irren dürfen – und sich entwickeln, vom
jungen, ungestümen, kantigen Agenten zu einer Persönlichkeit. Das war ein
gewisses Risiko, denn die bedingungslosen Adepten der alten Formel erkennen
ihren Helden in der neuen Version nicht wieder, und zudem ein gewisser Aufwand,
da ein solcher Charakter nicht nach einem Film schon fertig ist. Im dritten
Craig-Bond, Skyfall, scheint das Ziel
erreicht, und zwar auf magistrale Weise. Ich schliesse mich ohne zu zögern jenen
an, die Skyfall zu den besten
Bond-Filmen zählen. Die Geschichte entwickelt sich dunkel und bedrohlich, aber
ohne die gehetzten Übergänge von Quantum of Solace. Javier Bardem ist als Bösewicht Silva intelligent, gnadenlos,
eine Spur lächerlich und auf fast klassische Weise tragisch. Bond agiert nach
einer Auszeit von ein paar Monaten (wegen Todes) in der ganzen ersten Hälfte
des Films verzweifelt an seinen körperlichen Limiten; sowohl er als auch seine
Vorgesetzte M (Dame Judi Dench) sind in diesen Film als Persönlichkeiten mit
einem guten Teil ihrer Lebensgeschichte involviert. Das epische, düstere Finale
im Nebel der schottischen Highlands ist trotz augenzwinkernder Anleihen beim
A-Team eine ernsthafte, apokalyptische Angelegenheit. Missglückt ist einzig die
Erklärung für Silvas um sieben Ecken herumdenkende Attacke: Sich als Polizist zu
verkleiden und in den Raum einzudringen, in dem er seine Rache vollbringen
will, wäre doch auch möglich gewesen, ohne dass er davor Bond um die ganze Welt
herum auf seine Spur gebracht hätte. Und warum man in sämtlichen mir bekannten
Filmen einen Hacker nie vor einer Kommandozeile, sondern immer nur vor
elaborierten grafischen Animationen sieht, soll mir auch mal einer erklären…
Wer in all dem den klassischen Bond zu vermissen befürchtet,
sei beruhigt: Die Actionsequenzen (besonders im Vorspann) sind auf der Höhe der
Kunst, die Bond-Girls, wiewohl reine Nebenfiguren, bleiben atemberaubend, das
Casino von Macao ist absolut splendid, und Bonds sarkastische Kommentare fehlen
nicht, sind einzig eine Spur grimmiger. Höchste Kunst stellen – wie immer seit Casino Royale – die Dialoge dar, schneidende
Wortgefechte im Kammerspiel-Setting. Der rekordverdächtige kommerzielle Erfolg
des Films ist hoffentlich Garant dafür, dass die nächste Ausgabe in ähnlichem
Stil daherkommen wird
Technisches: Skyfall
läuft in gefühlt der Hälfte aller Kinos der Schweiz. Es versteht sich von
selbst, dass nur Banausen die synchronisierte Version anschauen; wo immer ein
anachronistischer Kinobetreiber auf die Originalversion setzt, sollte er mit grossem Zuspruch
entschädigt werden.
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Sonntag, 11. November 2012
In Marmor gehauen
Von Tinos-Stadt fuhren wir auf die neue Umfahrungsstrasse
hinauf, liessen die Wallfahrtskirche der Panagia links liegen, schlängelten uns
in waghalsigen Serpentinen die steilen Hügel hinan, fuhren auf einer
wunderbaren Strasse mit Panoramablick auf Syros gegen Nordwesten, überquerten
einen letzten hohen Pass und parkierten am Dorfeingang von Pyrgos. Über
marmorgepflästerte Wege, vorbei an schmucken Fassaden, erreichten wir die von
einer enormen Platane beschattete Platia, stiegen am Brunnenhaus vorbei hoch, gelangten
am Dorfrand zum Friedhof, einer regelrechten Freilichtausstellung des lokalen
Marmorhandwerks, und kamen gleich dahinter bei einem modernen Gebäudekomplex
aus Bruchsteinen und Sichtbeton an, dem Museum für Marmortechnik. Die
Kulturstiftung der Piräusbank hat in den letzten Jahren über ganz Griechenland
verteilt ein preisgekröntes Netzwerk von Museen geschaffen, die landwirtschaftliche
Kultur, traditionelles Handwerk und industrielle Entwicklung dokumentieren. So steht
in Volos das Ziegeleimuseum Tsalapatas, und auf Chios wird eines über den
Mastix eingerichtet. Das Museum, das sich mit Abbau und Kunsthandwerk des Marmors
befasst, ist nicht ganz zufällig auf der Kykladeninsel Tinos gelandet: Sie ist
eines der Zentren der Marmorverarbeitung, und das Dorf Pyrgos mit seiner
Kunstgewerbeschule, seinen Marmorwerkstätten und seinen Künstlern ist unbestrittener
Leuchtturm des Handwerks.
Wer die durchschnittlichen archäologischen Provinzmuseen in
Griechenland kennt, jene gefängnisgleichen Betonbauten, wo vor abblätterndem
hellblauem Putz ein paar Vasen und Statuen aufgereiht stehen, im Idealfall
knapp beschrieben auf winzigen, maschinengetippten Kärtchen, wenn dieselben
nicht schon den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt sind und irgendwo unten in der
Vitrine liegen; wer also mit dem Stand der Museologie in Griechenland vertraut
ist, wird im Marmormuseum ausgesprochen positiv überrascht. Dieses Haus erfüllt
mit Bravour die diffizile Hauptaufgabe eines Museums, dem Besucher in überblickbarer
Zeit (wir waren kaum eine Stunde dort) wesentliches Wissen begreiflich zu
machen. Im Zentrum stehen zwei grosse Dioramen: ein Steinbruch und eine
Bildhauerwerkstatt. Der Blick gleitet über anstehenden Fels und Marmorblöcke,
über Werkzeuge und Hilfsmittel; das Verständnis beginnt, sich Bahn zu schaffen,
wird dann unterstützt und ergänzt durch Fotos, Videos und knappe, aber präzise
Erklärungen. Die Objekte sind mit Bedacht ausgewählt und nicht selten
spektakulär wie der Schwenkkran auf dem Vorplatz oder die Detailpläne für reich
dekorierte marmorne Ikonostasen. Industrielle und kleinhandwerkliche
Marmorförderung werden gegenübergestellt; Archivmaterial macht Familientraditionen und die
Organisation des Kunsthandwerks verstehbar, und auch die typischen tiniotischen
Oblichter fehlen nicht.
In dieses Haus sind sichtbar viel Geld, Wissen und
Aufmerksamkeit geflossen, und der Aufwand hat sich gelohnt. Gereicht hat es
zudem für einen ausführlichen, aber dennoch handlichen Museumsführer, der einem
die Lektion zuhause nochmals in Ruhe durchlesen lässt. Für zukünftige Ausflüge
in Griechenland empfiehlt sich auf jeden Fall der Blick auf die Museumskarte
der Piräusbank.
Technisches: Tinos
erreicht man täglich mit Fähren von Piräus und Rafina aus, wobei man Wochenenden
und Marienfeste wegen der Pilgermassen besser meidet. Von Tinos-Stadt aus
gelangt man mit dem Bus (wenige Verbindungen täglich) oder mit dem Mietauto wie
im Artikel beschrieben in den Inselnorden. Pyrgos lohnt auch wegen seiner
schönen Gässlein und seiner anderen Museen den Besuch. Zum Mittagessen empfiehlt sich ein Abstecher ans Meer hinunter in den Fischerhafen Ormos Panormou.
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Montag, 1. Oktober 2012
Selbstgespräche mit Woody
Ich sehe eben, dass Paris-Manhattan
von Sophie Lellouche diese Woche in die Deutschschweizer Kinos kommt. Deshalb
ist hier vielleicht ein klärendes Wort angebracht: Man muss diese romantische
Komödie nicht wirklich gesehen haben. Das Genre dürfte viele schon von
vornherein aus dem Zielpublikum ausschliessen. Ich bin in dieser Hinsicht zwar
Skeptiker, aber kein Fundamentalist: Eine gut getimte, kreative und
gelegentlich selbstironische Liebeskomödie wie etwa Les émotifs anonymes ist durchaus eine vergnügliche Art, eineinhalb
Stunden zu verbringen. Paris-Manhattan
gehört leider nicht in diese Kategorie. Das liegt nicht an der Story, die
genretypisch vorhersehbar ist, auch nicht unbedingt an den Schauspielern: Der
Sänger Patrick Bruel als desinteressiertes Raubein Victor ist ziemlich
originell, und auch Alice Taglioni als gutmütige Apothekerin Alice gefällt.
Weniger gefallen kann, wie betulich alle kreativen Einfälle verwirklicht werden,
zum Beispiel die Hauptingredienz des Films, der imaginäre Dialog, den Alice
anstelle reeller Beziehungen zu Woody Allen unterhält: Wie sie abends mit dem
überdimensionierten Allen-Poster über ihrem Bett diskutiert, ist die ersten
zehn Sekunden lang witzig, dann nur noch ermüdend. Wie sie in ihrer Apotheke
als Nachbarschaftspsychologin ihre Kundschaft statt mit Medikamenten mit DVDs
kuriert, tendiert auch schnell in den Kitsch – spätestens, als sie auf diese
Weise einen Räuber auf den rechten Weg zurückbringt. Die Rahmenhandlung in
Alices Familie ist langfädig und klischeehaft, und auch der echte Woody Allen,
der am Schluss einen Gastauftritt hat, versprüht zwar entspannten Esprit, kann
den Film nicht wirklich retten. Für das Wochenende empfehle ich einen
Herbstspaziergang
Technisches: Paris-Manhattan
ist ab dem 4. Oktober in ausgewählten Kinos der Deutschschweiz zu sehen.
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Sonntag, 23. September 2012
Bis bald
Wer Augen hat zum Sehen, der könnte dauerschmunzelnd oder
-kopfschüttelnd durch die Welt gehen: An jedem Wegrand und in jeder Situation
lauern groteske Momente, die unser Unterbewusstes wohl aus Effizienzgründen
meist ausblendet. Erst wenn wir einen jener raren Menschen treffen, denen
dauernd Absurdes widerfahren zu scheint, amüsieren wir uns darüber und bedauern
vielleicht, selber nicht so viel zu erleben – oder zu bemerken. Einen solchen
Menschen porträtiert Markus Werner in seinem Roman Bis bald: Lorenz Hatt, Leiter der kantonalen Denkmalpflege. Sein
Bericht über seine Herzerkrankung, einem stummen Gesprächspartner vom
Krankenbett aus erzählt, liest sich wie eine Bestandsaufnahme aus Absurdistan. Da
tauchen Figuren auf wie der Elektroniker Grünberg aus Ohio, Hatts
Zufallsbegleiter in den Ruinen von Karthago (wo ihn sein Infarkt ereilt), der
zunächst dumme Fragen zur Geschichte stellt und sich nachher im Spital rührend
(und eben: grotesk rührend) um den Kranken kümmert. Da ist die
Tischgesellschaft im Sanatorium, eine Männerrunde, die sich im Tanz um die
einzige Frau zu immer übleren Selbstinszenierungen antreibt. Da ist die
Wiederbegegnung mit seiner Ex-Frau, wo sich Rührseligkeit mit dem Ekel davor behände
abwechselt. Und da sind all die kleinen Objekte, an denen sich das Groteske
festmacht – klassisch etwa Grünbergs Souvenir aus dem Souk, ein Vogelkäfig aus
Keramik, der im Spital verloren geht, irgendwann wieder auftaucht und Hatt am
Flughafen fast in den Knast bringt. Alles Banalitäten, Alltägliches, nichts
Besonderes; aber der Blick von aussen, den dem Denkmalpfleger zur zweiten Natur
geworden ist, heftet sich daran fest, und die simple, distanzierte und immer
etwas verständnislose Beschreibung legt die den Dingen innewohnende Absurdität
bloss.
Die Lektüre war ein seltener Genuss. Markus Werners Lorenz Hatt
erzählt assoziativ und mäandernd, ein Wort gibt das andere, Exkurse schachteln
sich wie natürlich ineinander, da und dort zischen ansatzlos schneidende
Randbemerkungen heraus. Nur vordergründig ist Bis bald ein Bericht über eine Krankheit; in Wahrheit handelt es
sich um einen Essay über alles, und Werner beherrscht die Kunst des Aphorismus,
fasst Komplexes in die kürzest mögliche Wendung. Zur Fortpflanzung: Ich sehe nicht ein, warum die Leute
unablässig Kinder in die Welt setzen, nur damit Söhne heranwachsen, die auch
wieder Bier trinken und blöd herumschwadronieren, nur damit Töchter
heranwachsen, die auch wieder Teigwaren kochen. Zur Schweizer Classe
politique: Wie sollen Leute, die ach- und
ich-Laut nicht auseinanderhalten können, in der Lage sein, die wirklich
schwierigen Probleme zu bewältigen? Zum Überraschungstod: Ich weiss, er gilt den meisten als der
schönste, obwohl man ihn nur den bequemsten nennen dürfte. Dieser Hatt ist
ein Zyniker, der seinen Zynismus kultiviert, um seine Desillusion zu
kaschieren; aber da er ein trocken-witziger Beobachter ist, verzeiht man ihm manches.
Und man erkennt in Hatts Versuch des kontinuierlichen Sich-Distanzierens die
eigenen Erfahrungen, mit der Unbewältigbarkeit der Welt umzugehen.
So vor zehn, fünfzehn Jahren war Markus Werner plötzlich eine
Art Shooting Star der Schweizer Literatur. Plötzlich schien alle Welt von seiner
lakonischen Prosa zu schwärmen, von seinen präzisen Analysen von Menschen in
einer Extremsituation; und wer eine Lesung miterlebt hatte, berichtete so
fasziniert wie irritiert von diesem fast krankhaft scheuen Autor, der
zurückgezogen und spartanisch ganz für seine Literatur und von ihr lebte. Dann schwoll
der Hype ähnlich schnell wieder ab, jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Hätte
nicht L. vor kurzem Platz geschaffen auf ihren Regalen und mir zwei seiner
Bücher geschenkt, hätte ich wohl kaum mehr etwas von Werner gelesen. Das wäre,
wie sich gezeigt hat und hoffentlich noch weiter zeigen wird, nicht nur ein
bisschen, sondern richtig schade gewesen.
Technisches: Markus
Werner, Bis bald. Roman. München, dtv 31997. ISBN 3 423 12112 2. Die
Erstausgabe ist 1992 im Residenz-Verlag erschienen und inzwischen als Fischer Taschenbuch erhältlich.
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Sonntag, 16. September 2012
Reichlich Stoff
Seinen Stoffen stellt
Friedrich Dürrenmatt Schopenhauers sarkastische Empfehlungen an den Leser zum
alternativen Gebrauch eines Buches voran, die im Rat gipfeln: Oder endlich er kann ja, was gewiss das
Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren. Wer dies hier zu tun
sich anschickt, stockt aber schon beim ersten Satz; wenn er sich nämlich überlegt,
wie das Werk zu charakterisieren wäre. Nicht dass Dürrenmatt dies nicht
einleitend knapp und präzis unternommen hätte, indem er nämlich ankündigt, im
Folgenden angesichts der Unmöglichkeit einer Autobiografie nicht über die
Geschichte seines Lebens, sondern über die Geschichte seiner Stoffe zu
schreiben. Doch mit dieser Definition einer neuen literarischen Gattung ist wenig
gewonnen. Was ist denn ein Stoff? Wieso spricht Dürrenmatt von seinen Stoffen
wie von Möbeln oder alten Freunden? Wie kommt er dazu, seine ungeschriebenen
Stoffe nun auch noch aufschreiben zu wollen
Es wird dann allmählich klarer. Wenn der Begriff nicht so
New Age wäre, könnten wir von den „Lebensthemen“ des Autors sprechen; „Stoffe“
ist ein handfesteres, Dürrenmattsches Wort dafür. Dass die Stoffe sehr wohl
eine Autobiografie sind, lässt sich auch nicht lange verleugnen – eine
lückenhafte, gewiss, aber das sind sie alle –; eine Autobiografie, die
untersucht, wie das Leben des Autors die paar grossen, wiederkehrenden Themen
erschaffen und geformt hat, die den Steinbruch für seine Literatur ausmachen. So
ergibt sich die Analyse einer gewissen Unausweichlichkeit, mit der sich Erlebnisse
und Ideen zu Themenkomplexen verdichten, an denen sich schon der kindliche und
adoleszente Geist abgearbeitet hat, und die dem Schriftsteller ganz
notwendigerweise zum Gegenstand des Schreibens werden. Viel ist die Rede von
gescheiterten Versuchen, von stecken gebliebenen Ansätzen, und man kann sich
die Mühsal vorstellen, diese Stoffe nicht nur historisch und theoretisch zu
analysieren, sondern sie nun endlich in einem finalen Kraftakt doch noch
literarisch zu gestalten. Das bleibt manchmal skizzenhaft und fragmentarisch;
zwei-drei der Stoffe entwickelt Dürrenmatt in dieser Vergangenheitsbewältigung
jedoch zu kraftvollen, vollendeten Miniaturen – etwa im ersten und längsten dieser
Stücke, dem Winterkrieg in Tibet,
einer apokalyptischen Horrorvision eines sinnentleerten Mordens in einem end-
und aussichtslosen Stollenlabyrinth hoch unter den Gipfeln des Himalaya, die
mich (wiewohl auf einer Fähre in der sonnendurchfluteten Ägäis) mit gehetztem
Blick und beklemmtem Herzen zurückliess und die ich zum Besten zähle, was Dürrenmatt
geschrieben hat.
All diese meine Beschreibungsversuche sind unvermeidlich
Vereinfachungen. Der Dürrenmatt-Spezialist (dessen Namen mir entfallen ist),
der die Stoffe als Antwort auf die abgelutschte Frage nach dem Buch für die
einsame Insel nannte, hat schon recht: Ich kenne schlicht kein anderes Buch,
das dermassen komplex und vielschichtig ist, auf einer oberflächlichen Ebene
immer zugänglich und spannend, darunter aber Schichten der Reflexion auftürmt,
die Literatur- und Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in gleicher
Weise analysierend und verknüpfend, philosophische Schulen scheidend und
kritisierend, ein Abriss auch der Schweizer Mentalitätsgeschichte, ein
Rundumschlag im uferlosen Universum des Friedrich Dürrenmatt. Ich bilde mir auf
meine humanistische Allgemeinbildung ein bisschen etwas ein, musste aber
laufend vor dem Anspielungsreichtum kapitulieren. Wer eine gut sortierte
Handbibliothek in Griffweite hätte, könnte das Gewirr dieses Gesamtkunstwerkes
nach Belieben und in aller Tiefe entflechten und analysieren; und wer seinen
Dürrenmatt kennt, entdeckt in den Stoffen gleichsam eine Vielzahl alter
Bekannter, teils in Rohformen, teils in Details, gelegentlich auch im Negativ
(wie beim „Original“ der Alten Dame, die hier ein Alter Herr ist).
Auf paradoxe Weise scheint mir, dass sich der Dramatiker
Dürrenmatt in der Prosa am schöpferischsten austobt, wo er seine endlosen,
verschachtelten und frei assoziierenden Sätze mit grossem Gestus über die
Seiten ausbreiten kann, ohne Rücksicht auf Verluste, en passant philosophische
und politische Grundsatzfragen wenn nicht lösend, so zumindest träf
diskutierend, dabei mit Spott nicht sparend – und immer mit dieser Liebe zum
Absurden, die mich laufend schmunzeln, öfters kichern und gelegentlich ungehemmt
auflachen liess. Die Stoffe sind ein Werk, das man nicht in einem Mal gelesen
hat. Ich zweifle nicht, dass ich sie noch unzählige Male mit gleichem Gewinn
und Genuss lesen, auf Einzelnes fokussieren oder einfach nur irgendwo
aufschlagen kann. Ein Steinbruch von Dürrenmatts Schaffen, ein Steinbruch für
den Dürrenmatt-Leser.
Technisches: Ich habe
mir seinerzeit kurz nach Dürrenmatts Tod die günstige siebenbändige
Gesamtausgabe erstanden, die der Diogenes-Verlag damals anbot und in der die
Stoffe als Band 6 enthalten sind. Ursprünglich sind die Stoffe in zwei Schüben
erschienen: Labyrinth. Stoffe I-III. Zürich, Diogenes 1990 (Erstausgabe unter
dem Titel Stoffe I-III 1981). Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich, Diogenes 1990.
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Sonntag, 9. September 2012
Unternehmen Paradies
Hier ist König Albrechts Blut in den Boden gesickert. Von
hier aus hat sein Sohn Leopold die Rache an des Vaters Mördern begonnen. Und
hier hat Albrechts Witwe, Königin Elisabeth, ein Feld abgemessen, das nicht dem
Kampf noch der Rache, sondern der Ruhe und dem Gebet geweiht sein sollte: das
Doppelkloster Königsfelden. Hoch und elegant ragt das Mittelschiff im
Bettelordenstil empor; im Inneren beeindrucken glasklare Formen, sparsame
Ornamente unterstreichen das blendende Weiss der renovierten Wände, ein
schlichter Lettner versperrt den Blick nach vorne, der Blick darüber hinweg
erahnt aber im abendlich dunklen Chor die gotischen Glasfenster, die zu den
schönsten der Welt gehören.
Nach Mit Chrüüz und Fahne
in Villmergen also schon wieder Theater am historischen Schauplatz im Aargau.
Der Anlass ist aber kein Jubiläum, sondern eine Tradition: Alle paar Jahre
bezieht das Königsfelder Festspiel
die Klosterkirche und bringt ein Tanzstück biblischen oder historischen Inhalts
zur Uraufführung. Diesjähriges Thema ist die Geschichte des Ortes selber. Es
liegt ein grosses dramatisches Potenzial in diesem Unternehmen Paradies, diesen beiden Strategien, mit denen König
Albrechts Angehörige auf den Mord reagieren, der männlichen des Sohnes und Erben,
der Rache sucht (suchen muss), und der weiblichen der Witwe, die sich um das
Seelenheil des Verstorbenen sorgt und damit gleichzeitig Raum für Frieden und
Versöhnung schafft. Und wie es in Königsfelden Brauch ist, wird dieses Geschichte
im dichten Zusammenspiel von Musik, Bewegung und Licht erzählt. Der Begriff „Gesamtkunstwerk“
ist hier so angebracht wie selten. Der Tanz ist eher erzählerische Bewegung als
Ballett; die Musik ist nicht lediglich Begleiterin, sondern gleichberechtigte
Partnerin; und beide, Tanz und Musik, forschen den einzigartigen Raum aus, machen
ihn sich zu eigen: Durch das schmale Tor im Lettner sieht man Schemen und
Lichter im Chor; von rechts, hinter den Säulen zum Seitenschiff hervor, ertönt
die Musik; die Sängerinnen und Sänger stehen bald oben auf dem Lettner, bald
mitten in der Handlung, bald sind sie irgendwo verborgen.
Ausgeführt wurde das alles unter der Gesamtleitung von Peter Siegwart mit grosser Perfektion. Das Vokalensemble Zürich sang mit atemberaubender Schönheit Bach, Monteverdi und Siegwart
selber; die individuellen, Alltagskleidern ähnlichen Kostüme (Sabine Schnetz),
welche die zehn Sängerinnen und Sänger anstelle der sonst üblichen schwarzweissen
Choruniform trugen, machten augenfällig, dass es sich nicht um namenlose
Choristen, sondern um Solisten von höchstem Niveau handelte. Die Musiker des Ensemble la fontaine und die ad hoc
rekrutierten Mitglieder des Tanzensemble
Königsfelden (Choreografie Félix Duméril) standen ihnen in nichts nach. Das
Lichtdesign von Bert de Raeymaecker machte den Raum erlebbar. Als schönste
Passagen sind mir zwei im Gedächtnis geblieben: Der Tumult der Rachefeldzüge, in
deren Mitte Königin Elisabeth und ihre Tochter Agnes ruhig, edel und bestimmt den
Raum für Stille und Gedenken sich aneigneten. Und das Zur-Ruhe-Kommen der Schlussszene
in der halbdunkeln, von Kerzen beschienenen Kirche, über der, jetzt von aussen
angestrahlt, die kostbaren Glasfenster leuchteten wie das himmlische Jerusalem.
Technisches:
Unternehmen Paradies ist noch die nächste Woche (Mittwoch bis Samstag) zu sehen,
Karten gibt es online. Letzten Mittwochabend waren leider einige Reihen nicht
besetzt – es sollte also wohl noch Plätze geben, und es wäre schade, wenn sie
leer blieben. Einziger Wermutstropfen: Wer bis zur Abfahrt seines Zuges noch
ein Glas trinken möchte, sucht sowohl im Festspielbistro als auch in der näheren
Umgebung des Bahnhofs Brugg vergeblich. Einzig direkt die Altstadt anzusteuern,
wäre wohl eine gewinnbringende Strategie gewesen.
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Freitag, 31. August 2012
Freiburger Klassik
Freiburg ist nicht Weimar und schon gar nicht Athen. Aber es
gibt wohl in der Geschichte jeder Stadt Perioden, die etwas Klassisches an sich
haben; Zeiten, in denen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Umstände sich gegenseitig so in die Hände spielen, dass künstlerische oder denkerische
Genialität in hoher Dichte aufleuchten kann. Eine solche Zeit war für Freiburg
die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo in der Stadt ein intensives,
hochstehendes und unerwartet gut erhaltenes Skulpturschaffen stattfand. Fünf
Bildhauerwerkstätten waren teils neben-, teils nacheinander in der Stadt aktiv:
diejenige des nicht namentlich bekannten „Meisters der grossen Nasen“,
diejenigen von Martin Gramp, Hans Roditzer, Hans Geiler und (als letztem, alle
überstrahlend) Hans Gieng. Alle Meister waren wohl aus dem süddeutschen Raum,
damals das Zentrum der Bildhauerkunst, ins Uechtland gezogen und fanden dort
Arbeit, Brot und bescheidenen Ruhm.
Wohlgemerkt: Erwähnenswert ist nicht die Tatsache, dass es in
Freiburg Bildhauer gab. Solche gehörten für eine Stadt ab einer gewissen Grösse
jahrhundertelang zum unverzichtbaren Personal, galt es doch, profane und
geistliche Gebäude gleichermassen plastisch auszuschmücken: Stadttore,
Repräsentationsbauten und beispielsweise Brunnen bedurften einer Ikonografie
der Macht, und in den vielen Kirchen verlangten dutzende von Altären nach
Ausstattung mit Statuen und Reliefs. Machtbewusste Bürger und Magistraten,
fromme Bruderschaften, ehrgeizige Pröpste, Äbte und Kapitularen waren die
grosszügigen und wohl kalkulierenden Auftraggeber. Erwähnens- und
dokumentierenswert ist vielmehr, dass das kleine Freiburg über fünfzig Jahre
keine Dutzendware, sondern eine so hochstehende Skulpturenproduktion
hervorbrachte. Die Gründe für diese kleine Freiburger Klassik sind natürlich
vielfältig. Reichtum und Einfluss der Stadt wuchsen durch ihre territoriale
Expansion (sprich Eroberungen) zu Beginn des 16. Jahrhunderts beträchtlich an.
Die städtischen Eliten waren international gut vernetzt. Auch der Statusgewinn
der Stadtpfarrei spielte eine Rolle, der durch die päpstliche Errichtung des
Stiftskapitels zu Sankt Nikolaus vor genau 500 Jahren gekrönt wurde. Nicht zu
vergessen sind ferner die Konsequenzen der Reformation im näheren Umkreis: Das
bilderstürmerische Bern hatte zwar die entsprechenden Fachkräfte vertrieben, war
aber für profanen Schmuck weiterhin auf Bildhauer angewiesen. So schuf denn
Hans Gieng die berühmten Berner Brunnenstöcke – womit zuletzt auch die
wichtigste Ingredienz solcher Glanzzeiten erwähnt ist, das künstlerische Genie.
Die Freiburger Skulptur der Jahrzehnte nach 1500 war in den
letzten Jahren Gegenstand eines umfangreichen Nationalfondsprojekts. Erarbeitet
wurde nichts weniger als ein Catalogue
raisonné, ein imposantes Werk in zwei Bänden, dazu gewissermassen als
populärwissenschaftliche Ergänzung ein etwas zugänglicherer Bildband: Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas.
Und da man Statuen am besten in echt betrachtet, analysiert und vergleicht,
trug das Musée d’art et d’histoire
Fribourg einen Grossteil der erhaltenen Werke der fünf erwähnten Meister
aus Kirchen, Kapellen, Klöstern und eigenen Beständen zu einer
Überblicksausstellung zusammen. Beides zusammen bot eine Einführung in diese
Freiburger Klassik und ermöglichte eine vergleichende Würdigung dieser
verstreuten und oft übersehenen Werke.
Ausstellung wie Bildband schienen freilich auf den ersten
Blick etwas unklar gegliedert. Im Museum starteten wir in einem grossen,
reichen Raum, von der Fülle der Retabel fast erschlagen, während andere Statuen
und Details einzelne Aspekte vertieften. Erst im zweiten Teil wurden die
Techniken erläutert und die fünf Werkstätten vorgestellt und charakterisiert. Dem
optischen Genuss tat dies keinen Abstrich, aber umgekehrt wäre mir logischer
erschienen. Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: „Mit Bildern leben“, „Wie
die Statuen entstanden“ und „Reichtum, Ansehen, Macht“. Der Erzählfaden beginnt
bei den in der Stadt sichtbaren Skulpturen, vor allem den Brunnen, geht dann zu
den Heiligenfiguren und Retabeln über, um dann mittendrin die Akteure vorzustellen,
nämlich sowohl die wichtigen Auftraggeber als auch die Künstler und ihre
Technik, und zum Schluss auf die Selbstdarstellung von Zünften, Klerus und
Obrigkeit mittels Skulpturen zu sprechen zu kommen. Ich fand das etwas
zufällig, hätte das ganze vermutlich anders arrangiert, muss aber nach der
Lektüre unumwunden zugeben, dass diese Gestaltung Sinn und ein Ganzes ergibt,
vor allem, wenn sie in einem Schwung gelesen wird – was wiederum eigentlich
nicht schwierig ist, da das Buch in erster Linie ein Bilderbuch ist und an
einem ruhigen Abend ohne weiteres bewältigt werden kann. Zum Gesamtkatalog kann
ich mich nicht äussern, da ich diesen aus Mangel an Regalplatz und spezifischem
Interesse nicht beschafft habe. Bildband und Ausstellung hingegen ermöglichten
dem breiten Publikum einen kompakten Einblick und schufen ein umfassendes
Verständnis.
Technisches: Die
Ausstellung „Sculpture 1500“ war im MAHF vom 14.10.2011 bis zum 19.02.2012 zu
sehen gewesen. Die Begleitpublikation ist sowohl auf Deutsch (hier zitiert) als
auch auf Französisch erschienen: Jean Steinauer et al., Skulptur 1500. Freiburg
im Herzen Europas. Fotografien von Primula Bosshard, Übersetzung von Hubertus
von Gemmingen. Baden, hier+jetzt 2011. ISBN 978 3 03919 227 4. Der
Gesamtkatalog ist im Imhof-Verlag erschienen: Stephan Gasser, Katharina
Simon-Muscheid, Alain Fretz und Primula Bosshard (Fotos): Die FreiburgerSkulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung Funktion und Auftraggeberschaft.
Band 1: Text, Band 2: Katalog. Petersberg, Michael Imhof Verlag 2011. ISBN 978
3 86568 626 8.
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Donnerstag, 23. August 2012
Mit Chrüüz und Fahne
Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was
beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel
wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits
begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg
vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der
Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese
Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der
Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater
inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden
Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und
Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso
treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten
konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert
Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die
wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere
Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die
Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen
Gesellschaft.
Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor
Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei
Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei
Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies
ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil,
dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen
Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis
zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus.
Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer
Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann
aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische
Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder.
So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn
versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz
jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in
die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne
hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter
prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt
Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier
tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im
Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant,
wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer
verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen
die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem
Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein
Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.
Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die
Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die
dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen
auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied
wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben
sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die
moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz
persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla
geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In
bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges
Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella
Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im
Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem
Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim
Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt,
wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn
das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen
erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.
Technisches: Mit
Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt;
sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist
für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige
Theaterteam.
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Freitag, 27. Juli 2012
Kein Applaus für Scheisse
In meiner ganzen Studienzeit in Freiburg war ich genau ein
einziges Mal am Bollwerk-Festival. (Es muss im Jahr 2000 gewesen sein, aber der
Archiv-Server des Belluard ist leider heillos zerschossen.) Da traten zwei
Männer auf die Bühne, zogen sich nackt aus und gingen dann im Wesentlichen eine
Stunde lang in exakten geometrischen Formen kreuz und quer über die Bühne – so
jedenfalls meine Erinnerung. Das ist jetzt also diese zeitgenössische Performance-Kunst, dachte ich mir, und hielt mich in den kommenden Jahren vom Belluard fern. In
der Zwischenzeit habe ich, wieder mutiger geworden, entdeckt, dass sich dieses
Festival durch eine enorme thematische Breite auszeichnet, und war oft
begeistert von zugänglicheren, intelligenten und vielschichtigen Stücken:
Filmen, Vorträgen, Installationen. Dieses Jahr nun, als ich zusammen mit S. das
Programm durchforstete, fühlten wir beide einen gewissen Übermut, uns wieder
einmal konzeptkünstlerisch die Kante zu geben, und stiessen auf eine
Performance, die folgendermassen angekündigt wurde: „Florentina Holzinger und
Vincent Riebeek loten in Kein Applaus fürScheisse unerbittlich die Grenzen dessen aus, was auf der Bühne möglich
ist.“
Das tönt doch vielversprechend, sagten wir uns, und buchten
gleich einen ganzen Abend am Festival. Nach der Lügendetektor-Performance As It Is, von der noch zu reden sein
wird, stiegen wir zum Bollwerk hoch, während sich der Himmel über der Stadt,
passend zum apokalyptischen Spektakel, das uns erwartete, dunkelschwarz färbte.
Die ersten Tropfen fielen, als das Tor sich öffnete, und als wir in den
Laubengängen des Bollwerks Zuflucht gefunden hatten, prasselte die Sintflut
nieder. Und was sind nun die Grenzen dessen, was auf der Bühne möglich ist? Für
möglich erachtete das Künstlerpaar an diesem Abend unter anderem folgendes:
Vincent Riebeek kotzte eine blaue Flüssigkeit auf seine Partnerin, pinkelte auf
sie und zog ihr mit dem Mund einen Bindfaden aus der Vagina. Dazwischen zeigte
Flo Holzinger hochstehende Akrobatik am Vertikaltuch, feuerte eine
Paintball-Gun ab, und die beiden sangen reichlich falsch einige Lieder.
Dazu zwei Bemerkungen. Zum einen ist es faszinierend, wie
die simpelste Provokation auch im Jahr 2012 noch narrensicher funktioniert. Ich
konnte mir jedenfalls bisher nichts vorstellen, was den Blick am Abend dazu hätte bringen können, über das
Belluard-Festival zu berichten. Jetzt weiss ich: Einmal Kotzen reicht, um in
der Zeitung zu kommen – die genau dann den Ernst und den Anstand raushängt, um
die sie sich das übrige Jahr weitgehend foutiert. Und zum zweiten: Wenn uns
passagenweise nur der Dauerregen davon abgehalten hat, das Bollwerk zu
verlassen, dann lag das weniger am Schock als vielmehr an der Langeweile. Über
weite Strecken war das Spektakel einfach nur langfädig und öde. Und vielleicht
liegt hier der Schlüssel zum Verständnis: Vielleicht war der eigentliche Inhalt
von Kein Applaus für Scheisse die
Reaktion, die das Gesehene bei den Zuschauern auslöste. Holzinger und Riebeek
haben ohne Rücksicht auf eigene Verluste beim Publikum Verwunderung, Staunen,
Ekel, Entsetzen und eben Langeweile produziert. Und wir waren die ganze Zeit
auf einer Meta-Ebene mit der Analyse unserer Emotionen beschäftigt – und haben
dabei unbewusst gespürt, worauf es beim Theater wirklich ankommt: nicht auf
das, was auf der Bühne, sondern auf das, was in unseren Köpfen passiert.
Technisches: Das Belluard Bollwerk International 2012 ist natürlich längst Geschichte; nächstes Jahr geht es um die gleiche Zeit weiter. Florentina Holzinger und Vincent Riebeek sind mit dieser und anderen Performances regelmässige Gäste an Festivals in ganz Europa.
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Montag, 9. Juli 2012
Der Spion, der sich liebte
Ein Geständnis: Im Hause Phemios greift man zur Entspannung
nach einem intensiven Tag oder zum gemütlichen Ausklingenlassen eines
Ferienabends gerne mal zu einem amüsanten, meist nicht sehr tiefgängigen Film.
Eine kleine, repräsentative Kollektion komischer DVDs steht dazu im Regal und
wird gelegentlich aus den Wühltischen des Elektronikfachhandels weiter
alimentiert. Die Leserschaft wird mir nachsehen, dass solcherlei Kulturgenuss
eher selten seinen Niederschlag in den Blogspalten findet: In der Regel gibt es
kaum etwas darüber zu sagen, Hauptziel sind schlicht eineinhalb Stunden
Vergnügen.
Auch dieser Artikel dürfte nicht übermässig lang werden. Sein
Interesse liegt vor allem am Hauptdarsteller: Jean Dujardin. Einem breiten
Publikum ist er vor wenigen Monaten bekannt geworden als Oscar-Gewinner für
seine Rolle im Stummfilm The Artist,
für die er bereits praktisch alle anderen relevanten Schauspieler-Preisen
eingeheimst hatte. Vor dem plötzlichen internationalen Durchbruch war Dujardin
allerdings in Frankreich bereits eine feste Grösse im komischen Fach, berühmt
unter anderem für seinen Part in der Paar-Episoden-Serie Un gars, une fille und seine Verkörperung des blondmähnigen Surfers
Brice de Nice. Da und anderswo war
seine Paraderolle diejenige des grenzdebilen Dauergrinsers, den er leicht, frisch
und absolut ungeniert auf die Leinwand brachte.
Die genau gleiche Rolle spielt Jean Dujardin auch in der
Spionageparodie OSS 117. Aus Wikipedia erfahre ich soeben, dass die
literarische Vorlage dazu eine Romanserie von Jean Bruce war, einem Zeitgenossen
von Ian Fleming und diesem offenbar nicht unähnlich, wenn auch sein Ausstoss
(und später derjenige seiner Frau und Kinder) denjenigen des berühmteren
Konkurrenten um ein Vielfaches überstieg. Nach einer Serie von Filmadaptationen
in den sechziger Jahren wurde der Faden von Michel Hazanavicius 2006 mit OSS 117: Le Caire nid d’espions wieder
aufgenommen und ins Parodistische gewendet. Für den aufgeblasenen, schleimigen,
chauvinistischen und reichlich doofen Agenten Hubert Bonisseur de la Bath,
Codename OSS 117, hätte Hazanavicius keinen besseren Darsteller finden können
als Dujardin. Makellos gekleidet und durch keinen Zweifel zu erschüttern
beweist dieser stupende Treffsicherheit auf seiner Mission durch die
Fettnäpfchen des Nahen Ostens.
Freilich kommt die Komödie nicht wirklich zum Fliegen.
Meistens entlockte sie uns nur gerade ein Schmunzeln – zu mühsam entwickelt
sich die Geschichte, zu aneinandergereiht wirken die Gags, zu repetitiv wird
OSS117s überdrehtes Frohlocken. Immerhin sind wir bei einer Szene schier vom
Sofa gerollt vor Lachen: Auf einem Empfang in der britischen Botschaft treffen
sich verschiedene einheimische und fremde Agenten, alle in ihrer Tarnung als
Manager diverser Kleintierzuchtbetriebe, und schlagen sich, nach den
einleitenden Höflichkeiten, mit bedeutungsschwangerem Blick zunehmend
abstrusere Sprichwörter und Redewendungen um die Ohren. Mittendrin: Francois
Damiens (der trottlige Wirt aus Rien à déclarer) als Raymond Pelletier, Direktor der Société Belgo-Egyptienne d'Elevage de Poulet, der von diesem feinen
Netz von Anspielungen überhaupt nichts rafft, aber unverdrossen und mit
Hundeblick seine eigenen Weisheiten ins Gespräch einwirft. Das ist ganz hohe
komödiantische Kunst, meisterhaft geschrieben und ausgeführt. Leider gibts
davon sonst nur ein gelegentliches Aufblitzen zu sehen – zu wenig, um zu
begeistern, gerade genug, um den Film einigermassen über die Distanz zu retten.
Technisches: Auf die
üblichen Distributionskanäle für Filme muss ich wohl nicht mehr hinweisen; dafür
vielleicht auf den überaus gelungenen Titel der deutschen Version: OSS117 – Der
Spion, der sich liebte. Das in Rio spielende Sequel aus dem Jahr 2009 habe ich
noch nicht gesehen.
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Freitag, 29. Juni 2012
Je suis à Cardinal
Heimat – das sind nicht nur alte Mauern und grüne Hügel.
Heimat – das sind auch Lebensmittel, die hier wuchsen und nicht in Spanien,
Produkte, die hier geschaffen wurden und nicht in China. Das ist auch für den
Nicht-Biertrinker das Bier aus der lokalen Brauerei, gebraut mit Wasser, das in
Gehdistanz entspringt, aus Gersten und Hopfen, die auf den Feldern rund um die
Stadt geerntet wurden. Die Deindustrialisierung unserer Städte betrifft nicht
nur den Fabrikarbeiter, sondern auch den Schreibtischtäter hinter seinem
Bildschirm. Wie ein jeder seine Wurzeln hat, die er nicht folgenlos
abschneidet, so hat auch eine Gesellschaft ihre Wurzeln, ihre kollektive Geschichte,
die sich festmacht an und festsetzt in Orten, auf Strassen und Plätzen, in
Parks und – Fabriken.
Dies ungefähr ist die Gemengelage in meinem Kopf nach meinem
gestrigen Besuch von Je suis à Cardinal.
Die wirtschaftlichen Fakten sind bekannt: Konnte 1996 die geplante Schliessung der
Freiburger Brauerei Cardinal durch Feldschlösschen noch aufgeschoben werden
durch einen regelrechten Volksaufstand, begleitet von Boykottdrohungen und muskulösen
politischen Interventionen, so wurde fünfzehn Jahre später das Abwürgen der
ausgezehrten und geschwächten Brauerei, die Entlassung der noch siebzig
Arbeiter fast schicksalsergeben hingenommen. Der Gegner sass nicht mehr in
einem Schloss am Rhein, sondern unerreichbar hoch oben im Norden, in Dänemark:
Carlsberg hatte nicht nur Feldschlösschen übernommen, sondern quer durch Europa
Brauereien zusammengekauft – nein, nicht Brauereien, vielmehr Markennamen und Produktionskapazitäten,
die es nun emotionslos und profitgeil miteinander abzustimmen galt. Bier kann
man überall brauen, wo ein Kessel steht, so lautete die Devise… als wäre nicht
gerade die Qualität des lokalen Quellwassers das Herz des Gerstensaftes, als
wären Handwerk und Tradition frei beweglich auf der Europakarte, nur durch die
nackten Kosten gelenkt. Also verschob Carlsberg seine Biere von dort, wo sie
herkamen, dorthin, wo gerade Platz war. Es war ein bisschen wie beim
Hütchenspieler auf dem Markt: Wo ist die Münze? Na? Hier? Pech gehabt, da ist
sie schon längst nicht mehr. Und der stumme Komplize grinst zufrieden.
Aber man schliesst ja auf diese Weise nicht einfach eine Brauerei,
man schliesst, beschliesst, Geschichte und Geschichten. Lärm und Geruch
(beziehungsweise Gestank, de gustibus non
est disputandum) sind verflogen, doch die Seele des Ortes wabert noch durch
die leeren Hallen von Cardinal. Man kann die Gebäude, in denen so viele Menschen
über Jahrzehnte ihr Herzblut in die Produktion eines Lebensmittels gesteckt
hatten, doch nicht einfach so sang- und klanglos abreissen; man muss sich doch
von genius loci in gebührender Weise
verabschieden. So überlegte die Theaterschaffende Isabelle-Loyse Gremaud und
machte sich auf, mit Veteranen von Cardinal zu sprechen, ihre Erinnerungen zu
dokumentieren, ihre Anekdoten zu sammeln, ihre Nostalgie und ihre Wut
aufzufangen. Und sie brachte all dies zurück an den Ort des Geschehens, öffnete
die schweren Rolltore und lud die Bevölkerung ein, in Form eines Theaters Abschied
zu nehmen von einem wichtigen Stück Freiburger Industriekultur: Je suis à Cardinal.
Die gewaltigen Hallen sind reingefegt. Stahlträger,
Leitungen – Industriearchitektur, nicht schön, nur zweckmässig, und dadurch
eben wieder schön. Al Comet von den Young
Gods legt einen Soundteppich in die beeindruckenden Raumvolumina, originalen
Fabrikationslärm und Elektroklänge. Gelbe Harasse sind Bühnenbild und Bestuhlung
in einem. Vier Arbeiter und eine Arbeiterin erzählen von ihrem Leben bei
Cardinal, auf Französisch, Hoch-, Berner- und Senslerdeutsch: Die
Alltagssprache in der Brauerei war ein funktionales Röstigraben-Sprachgemisch. Durch
die teils fragmentarisch, teils ausführlich erzählten Biografien blickt man zurück
in die Vergangenheit der Fabrik und der Stadt. Es sind Geschichten aus einer
Zeit der Patrons alter Schule, der Lebensstellen – Bier trinkt man immer,
Cardinal ist der sicherste Arbeitgeber am Platz, so berichtete mehr als einer.
Von Berufsstolz war die Rede: Bei Cardinal zu arbeiten, das war gesucht und
renommiert; die betriebliche Pensionskasse datiert aus den dreissiger Jahren; sicher
ein Dutzend Handwerksberufe wurden hier ausgeführt und zum Teil auch gelehrt: Brauer
natürlich, aber auch Mechaniker jeder Art, Chauffeure, Autolackierer,
Wäscherinnen, Stapelfahrer, Schreiner und sogar einen Maurer beschäftigte die
Brauerei. Es gab eine Blechmusik und einen Kegelclub, und nach Schichtende traf
sich die Cardinal-Familie im Stern,
der Beiz beim Eingang, auf ein letztes Bier. Wobei: Was das denn für eine
Familie sei, lauter Männer, kritisierte eine Wäscherin die fröhliche Nostalgie –
die Frauen seien jedenfalls nach der Arbeit, auch über Mittag, sofort nach
Hause geeilt, um dort die hungrigen Mäuler zu stopfen. Der Rückblick verklärt
vieles, ohne Frage. Aber die Berichte vom Stolz über die selbständige Arbeit,
von der Freude über erfolgreiche Weiterbildungen begeisterten dennoch – und kontrastierten
scharf mit den ernüchterten Erzählungen aus den letzten Jahren, die nur noch
ein langsames Sterben waren, ohne Neueinstellungen, ohne Lehrlinge, ohne
Perspektive. Was die Sibra Holding in den siebziger Jahren vielen
Kleinbrauereien angetan hatte, Aufkauf und Schliessung, das widerfuhr nun
Cardinal selber.
Die Bearbeitung und Inszenierung dieser Lebensgeschichten überzeugte
in nie erwarteter Weise. Das waren kraftvolle, kernige Texte ohne Längen oder Peinlichkeiten,
da stimmten Rhythmus und Dramaturgie, da nahmen in Gestalt von Jean-Luc Borgeat, Olivier Havran (der Oedipus in Jocaste Reine), Luc Spori und Niklaus Talman namenlose Arbeiter ein letztes Mal
Fleisch und Blut an, und es hätte niemanden erstaunt, wenn die vier am Schluss ein
Glas Selbstgebrautes aufgetischt hätten, so lebensnah verkörperten sie die
altgedienten Charakterköpfe von Brauern, Mechanikern und Chauffeuren. Wir sahen
einen seelenvollen Tribut an ein wichtiges Stück Freiburger Industriegeschichte
und ein Abschiedsritual im besten Sinn des Wortes. Das Fabrikgelände an bester
Innenstadtlage wurde von Stadt und Kanton übernommen; dort soll in den nächsten
Jahren ein Technologiepark entstehen, wie das halt so geht bei der Gentrifizierung.
Wer Bier trinkt, weicht am besten aus auf die überall florierenden
Mikrobrauereien.
Technisches: Wegen
grossen Erfolges gibt es eine kurze Verlängerung: Heute und morgen abend sowie
nächste Woche vom vierten bis zum sechsten wird Je suis à Cardinal nochmals
gespielt. Ich empfehle den Besuch mit Nachdruck jedem, der es sich einrichten
kann. Karten (bzw. Bierdeckel) zu 25 Franken gibt es bei Fribourg Tourisme (026
350 11 00) und mit etwas Glück gewiss auch an der Abendkasse im Empfangshäuschen
am Passage du Cardinal.
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Sonntag, 24. Juni 2012
Klischee essen Stück auf
Schon vor einigen Jahren hat Direktor Ernst Gosteli
ernüchtert festgehalten, das Theater an
der Effingerstrasse habe inzwischen wohl den gesamten weltweiten Vorrat an Einpersonenstücken
durchgespielt. Für die kleine, knapp kalkulierende Bühne kann jeder zusätzliche
Schauspieler potentiell das Budget ins Minus kippen lassen. Umso mehr
Kreativität fliesst alljährlich in die Gestaltung des Spielplans, der Klassiker
des Repertoires mit neu geschriebenen Stücken kombiniert und sich mit sicherer
Hand in der Literatur und beim Film bedient. Zum Saisonschluss gabs einen (grosszügig
besetzten) Rückblick ins deutsche Kino der Siebziger: Angst essen Seele auf, Rainer Werner Fassbinders Geschichte über
die unmögliche Liebe zwischen einer deutschen Witwe und einem zwanzig Jahre
jüngeren Marokkaner.
Das war nun nicht nur episches Theater, sondern geradezu
Anti-Theater. Auf der Bühne agierten wandelnde Klischees, mit gröbstmöglichem Meissel
geformte Figuren. Keinen Moment konnte man sich dem Fluss der Geschichte
überlassen, jede Geste, jeder Satz war über- und zugespitzt. Martin Helstone
als Ali musste jenes guttural akzentuierte Infinitiv-Deutsch sprechen, das in
Film und Theater den Ausländer markiert. Die bedauernswerte Karo Guthke
verkörperte die Kneipenwirtin Barbara als menschgewordenen Fettfleck. Emmis
Kinder, Nachbarinnen und Kolleginnen zeigten einen durch keine Konventionen
abgemilderten Rassismus: „Schweine sind das, Schweine“ war die typische
Reaktion auf die geringste Erwähnung eines Ausländers. So entwickelte sich bedeutungsschwanger, sehr didaktisch und
etwas langweilig die zunehmende, brutale Isolation des Liebespaares Emmi und
Ali von seiner gesamten Umwelt.
Nach der Pause wurde das Stück vielschichtiger. Als wäre
Emmis verzweifelt-utopischer Wunsch wunderbarerweise in Erfüllung gegangen,
fanden die beiden Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsreise, die eher eine
Flucht war, ein überraschend verändertes Umfeld vor. Noch reserviert, aber
durchaus freundlich knüpften die vormals schneidend Feindseligen wieder
Kontakte. Doch die Annäherung hatte ihren doppelten Preis: Die meisten suchten
Emmis Nähe aus schierem Eigennutz, und sie erkaufte die wieder entstehenden
Beziehungen damit, dass sie sich ihrerseits distanzierte – von ihrer neuen
jugoslawischen Kollegin beispielsweise, aber auch (andeutungsweise) von ihrem
Mann. Mit dem Ende des gegnerischen Sperrfeuers erstarb auch die
Schicksalsgemeinschaft zwischen Ali und Emmi. Das Stück schloss jedoch völlig
offen – illusionslos und dennoch hoffnungsvoll.
Dass die Geschichte so klischiert erzählt wurde, erschwert
ihre Würdigung. Kaum ein Akteur konnte den Holzschnitt seiner Figur nuancieren,
aber das schien auch nicht gewollt zu sein. Erwähnung verdienen immerhin
Giulietta S. Odermatt, die unter der betulich-naiven Oberfläche ihrer Emmi der
schleichenden Entsolidarisierung beklemmenden Ausdruck verlieh, und Robert
Runer, der den Kolonialwarenhändler Angermayer als erschreckend lebensnahen
Alltagsrassisten porträtierte. Ein Meisterwerk war die Bühne von Peter
Aeschbacher, auf der einige wenige Requisiten einzig durch die Lichtregie und
das Ziehen eines Vorhangs von der Kneipe zum Treppenhaus, vom Wohnzimmer zum
Laden wurden. Die Inszenierung von Regisseur Stefan Meier jedoch war ein
sperriges Stück politisch-engagiertes Theater, das wie aus einer fernen Zeit
gefallen schien.
Technisches: Angst
essen Seele auf wird am Theater an der Effingerstrasse noch die kommende Woche gespielt. Dann ist Saisonschluss, und wir können uns eine Sommerpause lang auf das
spannendste Programm freuen, das an der Effingerstrasse in den letzten Jahren
angekündigt war. Der Film von Rainer Werner Fassbinder lief vor ein paar Tagen
bei arte und ist deshalb noch bis am Mittwoch in der arte-Videothek abrufbar.
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Freitag, 15. Juni 2012
Lions, Tigers, and Women
Ich kann nicht über den letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater
Bern berichten, ohne zuvor eine kurze kulturpolitische Anmerkung zu machen. Auf
diesen Sommer fusionieren Stadttheater und Berner Sinfonieorchester zu Konzert Theater Bern. Bereits über diese Fusion wie über den wahnsinnig originellen
neuen Namen liesse sich trefflich debattieren; mir geht es aber um die Personalpolitik. Ein neuer Direktor wurde engagiert, Stephan Märki, Generalintendant des
renommierten Deutschen Nationaltheaters in Weimar, und wie üblich und wohl
unvermeidlich in solchen Fällen folgten weitere Rochaden auf den leitenden
Posten. Anfang Mai erfuhr man, dass der Vertrag mit Ballettchefin Cathy Marston,
die gerne in Bern geblieben wäre, nach Ablauf der nächsten Saison nicht
verlängert wird.
Nun stelle ich nicht in Frage, dass es bei unterschiedlichen
Ansichten in dieser Konstellation natürlich der (neu verpflichtete) Chef ist,
welcher bleibt, seine Untergebene, die gehen muss. Enttäuscht hat mich hingegen,
wie sang-, klang- und stillos die Ballettchefin abserviert wurde. Der neue
Intendant wird mit ein paar formelhaften Worten des Bedauerns zitiert, um dann spitz
anzumerken, die Sparte Tanz müsse mutiger werden. Mutiger, aha. Und das lässt ihm
der Stiftungsrat widerspruchslos durchgehen? Hat denn niemand der am Entscheid
Beteiligten Marstons Arbeit in den letzten Jahren verfolgt? Hat keiner darauf
hingewiesen, oder mindestens begriffen, was sie Bern alles gebracht hat? Dabei
ist die Liste doch lang: ihr zugänglicher, komplexlos
ästhetischer Stil (eine Wohltat nach dem bemüht intellektuellen Tanz unter
Stijn Celis); ihre Fähigkeit, Geschichten – wahre und erfundene – auf die
Tanzbühne zu bringen, die man dort nicht erwartet hätte; ihre präzise Analyse
der Figuren, ihr intensives, aber nie plakatives Sezieren von Gedanken und
Gefühlen; ihr freudiges Zugehen aufs Publikum mit öffentlichen Proben und Tryouts;
ihre schrankenlose Offenheit gegenüber der restlichen Berner und weiteren
Kulturszene, die sich insbesondere in der kreativen, respektvollen musikalischen
Zusammenarbeit gezeigt hat.
Geradezu exemplarisch war dies alles im letzten, eindrücklichen Ballettabend
der Saison zu besichtigen, Lions, Tigers,and Women. Nach For Play, einem
athletischen, rasanten, farbenfrohen Stück der New Yorker Choreografin Andrea
Miller zu Musik von Bach und Moderneren, stellt Cathy Marston im zweiten Teil, Hunting Me, die Grosswildjägerin Vivienne
von Wattenwyl ins Zentrum. Die Geschichte ist bekannt von Lukas Hartmann und
aus dem Naturhistorischen Museum: Die englisch-bernische Burgerstochter begleitete
ihren Vater, den Abenteurer Bernhard Perceval von Wattenwyl, auf Safari nach Afrika;
nachdem er durch einen Löwen zu Tode gekommen war, übernahm die Dreiundzwanzigjährige
die Leitung der Expedition und schoss die restlichen geplanten Grosswildeinheiten.
Auf der Bühne des Stadttheaters sind aber kaum Jagd- oder Heldengeschichten zu
sehen. Der Fokus liegt fast durchgehend auf dem Innenleben der seltsamen
Jägerin, die dem nervösen, safaribeigen Umfeld im langen blauen Kleid fast
entrückt scheint. Die Musik kommt live von der Pamela Méndez Band, ein jazziger
Pop in düsterer Clubatmosphäre; Band und Tänzer teilen sich die Bühne. Die
Bund-Kritikerin bemängelte dies als letztlich
unsinnigen Wettstreit zwischen Tanz und Musik; für mich ist es eher ein Beleg für
die Absenz jeglicher Eitelkeit bei der Ballettchefin, die sich auf eine
gleichwertige Partnerschaft mit der Sängerin eingelassen hat, weit entfernt
davon, einfach eine Begleitmusik für ihr Ballett einzukaufen. Allerdings war
die Musik der schwächere Part in diesem Duett; besonders im schlichten
Solostück am Schluss stiess Pamela Méndez‘ Stimme hörbar an ihre Limiten.
Eine Saison des Bern:Balletts mit Cathy Marston bekommen wir
noch, immerhin, und die werde ich als kostbares Erlebnis geniessen. Spannend
tönt alles, ganz besonders freue ich mich aber auf die erneute Zusammenarbeit
mit der Camerata Bern in einem Stück über Anna Göldi.
Technisches: Die
Dernière geht in diesen Minuten über die Bühne. Weiter nachgelesen werden kann das
Social-Media-Experiment zur Begleitung des Stücks, nämlich Vivienne von
Wattenwyls Blogeinträge und Twitter-Posts; Bewegtbilder gibts bei art-tv.ch. Zu
einer völlig gegenteiligen, vernichtenden Kritik – soweit ich seine überladen-selbstverliebte
Prosa richtig entschlüsselt habe – kommt poltron auf tanznetz.de.
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Montag, 4. Juni 2012
Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart
Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor
Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen
geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs,
zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge
Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in
der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und
präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner
Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das
Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen,
christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen
Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte
Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein
Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan
hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich
gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom
Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen;
bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.
Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter
beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln
dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum
eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen
hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben
gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete).
Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich
durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und
sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von
zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war
nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen
Menschen niederzureissen versuchten.
Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die
Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen
in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar
durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des
Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten
Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung
initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er
beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu
haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete,
durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und
Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es
entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden
Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende
Religion.
Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden
analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen
und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine
gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge
geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor
erschienene Monumentalwerk Der Glaube.
Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten
widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die
schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um
eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse
zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche
Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein
grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980
Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen
sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie
geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht
gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im
Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben
den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu
identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu
den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem
Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die
konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.
Technisches: Hubertus
Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss.
Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.
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Montag, 28. Mai 2012
Kleiner Grenzverkehr
Eine gute Komödie braucht vor allem etwas: genügend
Reibungsflächen, an denen sich das Komische entflammen kann. Der französische
Regisseur und Schauspieler Dany Boon lässt Rien à déclarer, den Nachfolger seiner Erfolgskomödie Bienvenue chez les Ch’tis, an einer Reibungsfläche par excellence
spielen, an einer Landesgrenze. Zwar handelt es sich „nur“ um diejenige
zwischen Frankreich und Belgien, ist man versucht zu sagen – aber die zur
Bekräftigung der eigenen Identität notwendige Abgrenzung gegenüber dem anderen speist
sich ja bekanntlich auch aus geringfügigen Unterschieden. An dieser Grenze
tummelt sich das gesamte zugehörige Personal: die Grenzbeamten zu beiden Seiten,
darunter die eigentlichen Protagonisten, der Franzose Mathias (Boon selber) und
der heissblütige belgische Nationalist Ruben (Benoît Poelevoorde, den wir
bereits in Les émotifs anonymes
gesehen hatten, und dessen zwischen Verzweiflung, innerer Bestimmung und latentem
Wahnsinn schwankender Blick ausgezeichnet zum extremistischen Zöllner passt);
das ungleiche Wirtepaar aus dem sinnvoll benannten Bistro No Man’s Land, der eigentlichen neutralen Zone in diesem emotional
aufgeladenen Fleck Land; die Schmugglerbande mit ihrem schmierigen Boss und
seinem tölpelhaften Personal. Da eine Komödie ohne amouröse Verwicklungen nur
eine halbe Komödie ist, lässt Boon seinen Mathias seit einem Jahr eine heimliche
Beziehung mit Rubens Schwester Louise unterhalten (Romeo und Julia an der
Grenze, sozusagen). Dann schlägt er gewissermassen die Hauptstütze dieses Geschichtenkonstrukts
weg, die Grenze (die im Zuge von Schengen de facto aufgehoben wird) – und schaut
vergnügt zu, was sich in dieser in sich zusammenfallenden kleinen Welt an
absurdem Chaos abspielt.
Das ergibt einen etwas vorhersehbaren Film, der vor allem in
der ersten Hälfte hauptsächlich aus reichlich plakativen Einzelszenen besteht. Routiniert
werden sämtliche potenziellen Gags durchgespielt: Rubens nationalistischer
Fervor darf sich in aller Breite entfalten, was zur unvermeidlichen
Konfrontation mit den Grenzern von vis-à-vis führt; der grenzdebile Schmuggler
fliegt nach allen Regeln der Kunst auf; die skrupellose Wirtin ihrerseits wird
zur Informantin des lokalen Bandenbosses, dabei effizient behindert von ihrem
trotteligen Mann. Und natürlich wird der Infight zwischen Ruben und Mathias gekonnt
zugespitzt, indem die beiden in der ersten gemischten Grenzbrigade in einem
alten, dann aufgemotzten Renault 4L über die Landstrassen geschickt werden. Das
bewirkt viele herzliche Lacher, aber ergibt noch keine Geschichte. Nur allmählich
beginnt diese, Form anzunehmen, bekommen die karikaturalen Figuren Fleisch, Blut
und eine Seele. Gleichzeitig fangen die schwelenden Konflikte an zu eskalieren,
und in einem schön komponierten Finale gipfeln die Handlungsstränge im
klassischen Happy End.
Rien à déclarer
ist gewiss kein besonders ernsthafter Beitrag zur europäischen Frage. Von anderen
gegenwärtig zirkulierenden, nicht besonders ernsthaften Beiträgen zur
europäischen Frage unterscheidet er sich immerhin darin, dass er eineinhalb
Stunden unbeschwertes Amüsement verschafft.
Technisches: Rien à
déclarer war 2010 in den Kino; ich verweise deshalb pauschal auf die Händler,
Ausleiher und Downloadanbieter Ihres Vertrauens. Wenn immer möglich empfehle
ich, zur Originalversion zu greifen: Für Nicht-Frankophone sind zwar die unterschiedlichen
Akzente nicht immer deutlich auseinanderzuhalten, aber spätestens wenn Dany
Boons Mathias den accent belge veräppelt, merken es sogar wir…
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Freitag, 18. Mai 2012
Bauanleitung für Tanz
In der Regel bringe ich es nicht fertig, bei den
mehrteiligen Tanzabenden im Stadttheater Bern den roten Faden zu sehen. Zu disparat,
zu unverbunden scheinen mir die einzelnen Stücke meistens. Das ist ja auch gar kein
Problem, wenn das Programmheft nicht ein gemeinsames Thema behaupten oder
nahelegen würde. Dieses Mal war es anders: V:dance everywhere lautete der reichlich neutrale Titel des zweiten Ballettabends
der Saison, seine drei Teile wurden fein säuberlich jeder für sich selbst
vorgestellt – und ich fand einen spannenden roten Faden: Was wir zu sehen
bekamen, war so etwas wie eine mehrstufige Bauanleitung für Tanz.
Die quadratische weisse Spielfläche vor den nackten,
schwarzen Mauern von Vidmar:1 im Stück Speakers
der israelischen Choreografin Noa Zuk evozierte entfernt eine Meisterschaft im
Bodenturnen. Mit dem Gebotenen hatte diese Anspielung gemein, dass in beiden Settings
nacktes, schnörkelloses Können gezeigt wird. Zu einer Klangkulisse von
elektronischen Tönen und Rhythmen sahen wir so etwas wie einen Katalog aller
möglichen Bewegungen. Mit niemals zögernder, höchster Präzision schnellten die
Glieder in eine nicht enden wollende Serie Positionen. Das hatte etwas
mechanisch-wissenschaftliches und war so etwas wie eine Auslegeordnung: Diese
Bewegungen, diese Körperhaltungen sind möglich; dazu diese Geräusche und Töne.
Bedient euch, gebraucht dieses Material, macht daraus etwas Neues.
Nach der ersten Pause war der weisse Boden durch einen roten
Teppich ersetzt, von dürren Ästen umstanden und daraus heraus beleuchtet; als
Musik erklang ein eigenwilliges, aber faszinierendes Gemisch von Flamenco und
Vokalschönheit. Zwei Tänzer loteten die Möglichkeiten aus, Bewegungen zu
koordinieren. Sie taten dies zunächst synchron, exerzierten parallele
Perfektion durch; dann entstanden Abweichungen, Komplementarität. Hier ist das
zweite, wesentliche Element in der Bauanleitung: Tanz ist Bewegung in
Beziehung, wo eins plus eins mehr als zwei gibt. Das Stück hiess Digital Duende, ein „Klassiker der
Moderne“ (so das Programmheft) von Jyrki Karttunen.
In der zweiten Pause konnten sich die Eindrücke etwas
setzen, zu einem Interpretationsraum vereinen. Und dann: Ultima Thule von Erick Guillard, ehemaliger Tänzer des Bern:Ballett.
Es war, wie wenn der ganze Abend auf das hier hingearbeitet hätte. Ein
grandioses, dichtes Stück mit der gesamten Compagnie, von beeindruckender
Geschlossenheit und Intensität. Vorhänge in hellem Beige-grau, der unfarbigsten
aller Farben, umgaben die Spielfläche, evozierten eine Atmosphäre von Nervenheilanstalt;
und einigen der Figuren war ihr Leiden anzusehen. Ganz nahe beieinander standen
sie zu Beginn, gemeinsam, aber dennoch verloren; dann nahmen sie den Raum in
Anspruch, oft ziellos und doch in stiller Harmonie. Einzelne wurden von
Panikattacken befallen, rannten los, brachen in unkontrolliertes Zucken aus; in
starken Szenen von grösster Behutsamkeit nahm sie ein anderer in den Arm,
versuchte sie zu trösten. Trotz dieser Zärtlichkeit herrschten vorwiegend
Melancholie und Ausweglosigkeit; und als am Schluss wieder das Bild des Anfangs
entstand, schwang Verzweiflung mit. Ein grosses Stück – und ein reicher (und
reichhaltiger) Abend.
Technisches: Wie üblich bei meinen Ballettrezensionen hat auch diese
hier unglaublich lange reifen müssen. V:dance everywhere ist schon seit einiger
Zeit vom Spielplan verschwunden… Eine andere Perspektive auf den Abend bieten
die Besprechungen von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung und von Poltron
auf tanznetz.de.
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