Dienstag, 13. November 2007

Nochmals Nabelschau

Der Nabel der Welt hat die Form eines gedrungenen Tannzapfens, ist aus Marmor und nicht ganz einen Meter hoch. Zeus hatte von den beiden Enden der Welt je einen Adler fliegen lassen, und hier, genau in der Mitte, trafen sie sich: in Delphi. Hier, am Nabel der Welt, blühte über die Jahrhunderte eines der wichtigsten Heiligtümer der antiken Welt. Kühn liegt der heilige Bezirk des Apollon am steilen Abhang des Parnass; der Blick schweift über das Tal und die Ebene mit dem grössten Olivenhain Griechenlands bis hinunter zum Meer bei Itea. Im Museum sind all die Schätze verwahrt, welche Staaten, Städte und Würdenträger aus der ganzen damals bekannten Welt dem Gott (und sich selber) darbrachten.

Das letzte Mal waren wir 2003 in Delphi. Schlechtes Timing: In den vorolympischen Monaten wurde in ganz Griechenland die öffentliche Infrastruktur erneuert, und dazu gehören in diesem glücklichen Land neben Autobahnen und Metro auch die Museen. Einzig den Wagenlenker zeigte man uns damals, wie zum Hohn. Entsprechend gespannt war ich diesen Herbst auf das neu gestaltete Museum. Ich gestehe: Es hatte schon gewonnen, bevor ich es sah. So ist dies hier alles andere als ein objektiver Bericht. Zudem war unser Besuch etwas kurz – der Bus von Athen hatte Verspätung gehabt am Morgen, es blieb uns nicht mal eine Stunde für das Museum. Einer guten alten Gewohnheit folgend konzentrierte ich mich vorwiegend auf die archaische Kunst: gewaltig die beiden Jünglingsstatuen, bekannt als Kleobis und Biton, wie sie majestätisch ihren Raum dominieren; ein quicklebendiger Bilderbogen die Friese des Schatzhauses der Siphnier, wo sich archaisch-tänzerisch und zugleich kraftvoll die Schlacht zwischen Göttern und Giganten, der Krieg vor Troja, das Urteil des Paris entfalten; die Karyatide, die einst den Giebel trug, blickt mit mysteriösem Lächeln auf die Reliefs, und hoch thront darüber thront die Sphinx der Naxier... Jedes Stück ein Meisterwerk, der Besuch ein Genuss. (Und welche Überraschung, nebenbei, für einmal in einem griechischen Museum eine gutgelaunte Aufseherin anzutreffen, die sich freundlich mit den Besuchern unterhielt und einem jener technisch Behinderten, die es nicht fertig bringen, auf ihrer Kamera den Blitz auszuschalten, kein schrilles „no flash“ entgegenschleuderte, sondern ihn verständnisvoll auf seinen Lapsus hinwies!)

Später, in Athen, erzählte mir E., ihre Mutter, eine Fremdenführerin, sei vom neuen Museum eher enttäuscht gewesen: Die Aufstellung und Beleuchtung sei suboptimal, die schönen Augen des Wagenlenkers beispielsweise lägen im Schatten. Das, zum Beispiel, hatte ich nicht gemerkt. Ich bin wohl wirklich kein objektiver Berichterstatter. Dass Delphi das am schönsten gelegene griechische Heiligtum und dass sein Museum eines der konzentriertesten, hochstehendsten Griechenlands ist, das hingegen konnte mir nicht entgehen.


Technisches: Museum und archäologische Stätte von Delphi sind im Sommer täglich von 8 bis 19:30 geöffnet (zu einem kombinierten Eintritt von 9 EUR – was sagst du dazu, Historisches Museum Bern?). Die Anreise nach Delphi ist etwas mühsam: Wer nicht mit einer organisierten Reise oder mit dem Privatauto kommt, nimmt in Athen morgens um halb acht den öffentlichen Bus vom Liossion-Busbahnhof und ist auch ohne Stau kaum vor elf in Delphi. Als Trost auf den endlosen Strassen mag das Wissen um die Bedeutung der drei Sterne im Reiseführer dienen: definitiv „eine Reise wert.“

Sonntag, 11. November 2007

Gier macht blöd

Meine Kreditkartenfirma schickt mir ein nettes Schreiben und klärt mich auf:

„Sind Sie sich bewusst, dass Sie zurzeit auf eine praktische und kostenlose Zusatz-Dienstleistung Ihrer Kreditkarte verzichten? Die Rede ist von der Teilzahlungs-Option.“

Aha. Nein, war ich mir nicht bewusst, danke der Nachfrage. Mit dieser Option, so erfahre ich, kann ich meine Kreditkartenrechnung fortan in Raten bezahlen – 100 Franken sofort, den Rest zu 14,93 Prozent verzinst. Kleinkredit halt. So weit, so gut. Der eigentliche Knaller kommt aber am Schluss:

„Bitte beachten Sie: Mit aktivierter Teilzahlungs-Option bezahlen Sie Ihre Kreditkarten-Rechnung in Zukunft stets mit Einzahlungsschein. So haben Sie auch gleich noch eine bessere Kontrolle über Ihre Ausgaben.“

Nicht lange ists her, da hat mich die gleiche Firma herzlich gedrängt, meine Rechnung per Lastschriftverfahren bezahlen zu lassen. Durchaus zu Recht: Ich habe weniger Aufwand, und sie haben die Gewissheit, dass mein Rechnungsbetrag pünktlich und sicher bei ihnen eintrifft. Eine Win-Win-Situation? Offenbar ist der Win für die Kartenfirma zu wenig gross – oder anders gesagt: Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand.

Samstag, 10. November 2007

Berner Nabelschau

Was man den Bernern gewiss nicht vorwerfen kann, ist mangelnder Lokalpatriotismus. Die aktuelle Sonderausstellung im Historischen Museum Bern heisst „Berns Weg in die Moderne“, und als roter Faden dient der „Berner Pioniergeist von 1899-2007“: Da verbinden sich über hundert Innovationen, Errungenschaften und Meilensteine aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu einem Panoptikum des Ruhms von Stadt und Kanton Bern. Eingeleitet wird diese Chronologie durch einen Rückblick auf den Beginn der Moderne um 1800; ergänzt wird sie durch analytischere Schlaglichter auf einzelne Grossereignisse und Epochen, auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen und die Befindlichkeitsgeschichte in der Schweiz und der Welt. Besonders eindrücklich fand ich den in Biel produzierten Chevrolet (aus der General-Motors-Fabrik, die von der Stadt in einem innovativen Akt staatlicher Wirtschaftsförderung in der Krisenzeit der Dreissiger Jahre schlüsselfertig zur Verfügung gestellt wurde) und den Überblick über Alltagsdesign im 20. Jahrhundert. (Was übrigens wieder mal zur Frage Anlass gibt, weshalb das Design von hundertjährigen Geräten dermassen himmelweit besser ist als das meiste, was heute in den Geschäften steht. Vielleicht, weil das Aussehen damals noch wirklich von der Funktion und vom Material bestimmt und deshalb auf eine verbindliche Weise ehrlich war? Oder einfach, weil uns das schiere Alter sämtliche Kritik ausblendet? In einer ebenfalls ausgestellten Publikation des Heimatschutzes von 1905 wurden jedenfalls ausgerechnet die grossartigen Hotelpaläste der Belle Epoque am Genfer- und anderen Seen als das Hinterletzte an Landschaftsverschandelung gegeisselt...)

Mit dieser Serie von Pioniertaten spielt das Museum gekonnt eine der grossen Stärken zeitgeschichtlicher Ausstellungen aus: Viele der gezeigten Objekte sind den BesucherInnen aus ihrer eigenen Lebensgeschichte vertraut. Damit wird die wissenschaftliche Aufarbeitung ganz von selbst durch die persönliche Perspektive in einen zusätzlichen Kontext gestellt; der Ausstellungsbesuch wird vielschichtiger, der Besucher zum Mit-Experten. Das Konzept hat allerdings eine deutliche Kehrseite: Wenn hundert Objekte versammelt werden, deren einzig Verbindendes ihre Entstehung in Bern ist, droht Belanglosigkeit. Die Ausstellung ist nicht frei von einer Tendenz zum wenig stringenten Abfeiern der lokalen Genialität, zu einem Panoptikum ohne inneren Zusammenhalt. (Nebenbei bemerkt scheint mir dieses Zelebrieren der eigenen Bedeutung charakteristisch für Städte wie Bern. Oder kann man sich eine Ausstellung „Londoner Pioniergeist“ vorstellen? Oder eine ähnliche Grossschau in einer Kleinstadt wie Fribourg?) Und so ist der stärkste Teil der Ausstellung letztlich der erste Raum, der den politisch-gesellschaftlichen Rahmen für Berns Weg in die Moderne absteckt und die Bedeutung des Epochenwandels um 1800 vor Augen führt. Als riesige Wand begrüssen dort die als „Trachtenbilder“ bekannten Porträts von Josef Reinhard den Besucher. Aber dieses Mal geht es nicht um Folklore. Mit eindrücklichem, souveränem Dreh erhalten die Bilder der Schweizer Landsleute zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue Interpretation als Porträts derjenigen, die jetzt die Geschicke des Landes in die Hände nehmen, der Bürgerinnen und Bürger. Die Aristokraten des Ancien Régimes sind im engen Raum hinter den ehemals Beherrschten und neu selber Bestimmenden ausgestellt – um nicht zu sagen entsorgt. Und den Wänden entlang zeigen Verfassungs- und Propagandatexte den Weg dieser Trachtenträger durch ein oft wenig beachtetes, aber hochspannendes Jahrhundert von Objekten zu Subjekten der Geschichte.


Technisches: Die Ausstellung „Berns Weg in die Moderne“ ist noch bis am 6. Januar 2008 im Historischen Museum Bern am Helvetiaplatz zu sehen. Als etwas halsabschneiderisch habe ich den Eintrittspreis von 18 Franken empfunden. Natürlich ist da der Eintritt in die ständige Ausstellung und ins Einsteinmuseum auch inbegriffen; aber ehrlich: Nach zwei Stunden intensiven Ausstellungsbesuchs bin sogar ich erst mal erschöpft. Als Ort für Rast und Stärkung empfiehlt sich das edle museumseigene Bistro Steinhalle.

Freitag, 9. November 2007

Frauenversteher

Roger "Frauenversteher" Köppel hat die Studie des World Values Survey gelesen, wonach Frauen in der Schweiz deutlich linker wählen als Männer. Und weiss natürlich weshalb (Link kostenpflichtig):

„Wie die Linke generell sind auch Frauen durchaus geübt darin, Geld auszugeben, das andere zuvor verdient haben. Viele Frauen arbeiten beim Staat oder werden von ihren Männern ausgehalten.“

Auf die Absurdität dieser Argumentation braucht nicht näher eingegangen zu werden. Angemerkt werden muss gleichwohl, dass Frauen, die sich von ihren Männern aushalten lassen, dies mit Köppels ausdrücklichem Segen tun: Keine mir bekannte Schweizer Publikation schreibt Frauen so konsequent an Herd und Wiege zurück, und damit in die finanzielle Abhängigkeit von ihren Männern, wie die Weltwoche.


Und übrigens: Falls jemand sich beim Weltwoche-Ombudsmann über das Geschreibsel des Verlegers und Chefredaktors beschweren möchte, kann er dies ab sofort nicht mehr tun. Die Weltwoche und ihr Ombudsmann Karl Lüönd sind nämlich übereingekommen, „dass die Institution des Ombudsmannes bei den neuen Besitzverhältnissen der Weltwoche nicht mehr nötig ist, da der Verleger und Chefredaktor die gegebene Ansprechperson sein soll.“ Anzufügen ist: Als aufrechter Kapitalist und Unternehmer versteht dieser wohl in erster Linie die Sprache der Abonnementskündigung.


[UPDATE: Auch infamy kratzt sich ob Köppels Kapriolen verständnislos am Kopf. ]

Samstag, 3. November 2007

Erwartungen revidiert

Nach einem feinen, etwas zu langen Nachtessen eilten wir am Dienstag knapp vor acht ins Bieler Stadttheater, stürmten auf den Balkon, drängten uns auf unsere Plätze (natürlich zuvorderst in der Mitte, wie peinlich) – und sassen mitten im Stück. Da waren sie schon alle versammelt bei schmissiger russischer Musik und Sekt, auf rotem Teppich und inmitten edel glänzender Möbel: die Provinzpotentaten, die von der bevorstehenden Ankunft jenes Revisors, durch den Gogol sie in Verzweiflung und Unterwürfigkeit stürzen würde, noch gar nichts wussten. Präzis gezeichnete, herrlich bünzlige Gestalten: die graue Maus von Schulinspektor im zu grossen, durchgeknöpften Veston, der Richter mit gezwungen überbordend guter Laune, die über die Glatze gekämmten Haare bereits in alle Richtungen abstehend, der biedere Spitaldirektor, der beflissene Polizist. Ein optischer Genuss, zumal man auf dem ersten Balkon gerade mal gefühlte drei Meter von der Bühne entfernt ist, also sozusagen mittendrin. Dann schliessen sich die Saaltüren, der Stadthauptmann tritt ein, das Spiel beginnt – und plötzlich ist alle Unmittelbarkeit wie weggeblasen. Das Stück harzt und wirkt gespielt, die zuvor natürliche Gestik erscheint überzeichnet. Keine Spur von der locker-frischen, niemals einstudiert wirkenden Spielweise, von der der Kritiker des „Bund“ so hymnisch berichtet hat. Die Exposition im Büro des Stadthauptmanns, aber auch im Hotelzimmer des abgebrannten Lebemanns Chlestakov schleppt sich dahin, und erst als sich die zu Revidierenden und der vermeintliche Revisor gegenüberstehen, kommt Schwung in das Spiel.

Ich bin etwas verunsichert. Liegt es vielleicht an mir? Schliesslich waren sowohl die Presse wie offenbar auch das Premierenpublikum durchs Band hell begeistert. In der Pause sage ich vorsichtig, dass ich vom Anfang enttäuscht war, und bin erleichtert, dass T. meine Wahrnehmungen bestätigt. Wir identifizieren ein Rhythmusproblem. Gewissen Partien fehlt der Drive, sie sind zu lang, die Dialoge lahmen: für eine Komödie fatal. Wo das Stück allerdings seinen Rhythmus findet, ist es fabulös: Wie Chlestakov, sich betrinkend, sein Lügengebäude ausschückt, vom Richter zum Lehrer und zurück taumelnd, oder wie sich Frau Stadthauptmann und ihre Tochter virtuell stylen (nicht mehr als eine Reihe von Markennamen, aber mit welcher Verve gesetzt) – das ist hochpräzises, grosses Theater.

Der zweite Teil bestätigt unsere Analyse: Schauspieler und Stück sind nicht immer im gleichen Takt. Wo sie es sind, fesseln die Szenen durch ihre Präzision: Das Bestechungs-Schaulaufen im Büro des Stadthauptmanns ist grandios, die Verlobungsszene desgleichen. Die Feier der scheinbar glänzenden Zukunft nach der Abreise des vermeintlichen Revisors beginnt ebenso, zieht sich aber in die Länge, bis man froh wäre, sie wäre bald mal zu Ende. So gehen wir nach einem durchaus vergnüglichen Theaterabend mit gemischten Gefühlen nach Hause: Wir haben ein grosses Highlight erwartet und eine spritzige, aber durchzogene Komödie gesehen. Nächstes Mal lesen wir die Kritiken wieder erst nach dem Theaterbesuch.


Technisches: Der Revisor von Gogol wird im Theater Biel Solothurn noch bis Ende November gespielt; Daten und Reservation auf http://www.theater-biel.ch/auffuehrungsdaten-revisor0.html

Freitag, 2. November 2007

Rück- und Ausblick

Mein sechsmonatiges Blogjubiläum ist ohne Aufhebens vorübergegangen – ich war offenbar zu beschäftigt damit, mein Gepäck auszupacken und dem verlorenen Koffer nachzutelefonieren. (Er ist inzwischen übrigens auch eingetroffen, danke der Nachfrage.) Zwei Wochen Griechenland, das waren auch zwei Wochen (ungefähr) Blogferien. Jetzt kanns wieder losgehen.

Zuvor aber der angekündigte Rückblick: Sechs Monate, vierunddreissig Posts, und das Blog hat wie von selbst sein Thema gefunden: die Reflexion über meinen Kulturgenuss. (Das hat sich ja schon abgezeichnet.) So kann es gerne weitergehen; mit Berichten über Theater und Ballett, Konzerte und Filme, Bücher und Museen. Hie und da wohl auch ein thematischer Querschläger, wir wollen ja nicht so sein. Die Theatersaison hat begonnen; an Themen wird es nicht mangeln!