Fünf Jahre sind auf dem Internet eine Epoche. Im April 2007
war das erste iPhone eben gerade angekündigt, Twitter steckte in einer engen
Nische, und kaum einer, der das liest, hatte schon einen Facebook-Account.
Dafür waren Blogs schwer in Mode. So setzte ich mich am Freitag, dem 27. April
2007 an meinen Computer, legte mir nach zweiminütigen Brainstorming den Namen
Phemios zu und ein Blogger-Konto an und startete das hier. Schon im Juli des
gleichen Jahres hatte Phemios Aoidos
ganz ungezwungen sein Thema gefunden: die Kulturberichterstattung, nur
vereinzelt durchsetzt von ein paar Miszellen. Seither reibe ich mich mit
wechselndem Erfolg an dieser selbstgestellten Aufgabe. Im Glanzjahr 2009
reichte es präzise zu einem Post pro Woche, dann wieder warens weniger; 229
sind es ingesamt bis zum 5. Geburtstag geworden.
Kaum verwunderlich: Nicht alle sind gelungen. Manche Artikel
habe ich zu wenig streng redigiert; krumme Sprachbilder und
selbstverliebt-komplexe Konstruktionen stechen da und dort empfindlich ins
Auge. Andere Posts wiederum plätschern mangels zündender Inspiration etwas
lustlos vor sich hin, und oft hat meine konziliante Natur eine schärfere
Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert. Da und dort entdecke ich beim
Wieder-Lesen jedoch Texte, auf die ich immer noch stolz bin, weil ich in ihnen
sowohl meinem Objekt als auch meinen eigenen Ansprüchen gerecht geworden bin. Deshalb
folgen hier zum Geburtstag meine persönlichen Top Ten: Zehn Artikel, die so
sind, wie sie sein sollten. Zehn Texte aus fünf Jahren, chronologisch geordnet
und kurz kommentiert, zu fast allen Themen, mit denen ich mich hier
auseinandersetze, zum Wieder- oder Neu-Lesen und sich freuen. Und wenn jemand
in den Kommentaren seine(n) eigene(n) Lieblingsartikel verlinken möchte, würde
ich mich besonders freuen. Gute Lektüre und ad
multos annos!
Endwind (2007)
Drei Monate nach der Bloggründung der erste Artikel, der
inhaltlich und kompositorisch wirklich überzeugt. Das lag vielleicht auch am
Thema: Das Einsiedler Welttheater von Thomas Hürlimann und Volker Hesse war ein
dichtes Stück in magistraler Inszenierung.
Tanz handelt vom Tanz (2007)
Schon ein paar Jahre länger, als es dieses Blog gibt, bin
ich Stammgast beim Bern:Ballett und sehe auch sonst gerne gelegentlich mal
Tanz. Ich merke aber, dass es mir nach all der Zeit immer noch schwer fällt,
vernünftig darüber zu schreiben. Mein bester Tanz-Artikel ist einer der
frühesten; er handelt vom ersten Tanzabend von Cathy Marston in Bern und von
einem wichtigen Aha-Erlebnis.
Hohl ist der Boden unter den Tyrannen (2008)
Volker Hesse scheint mir zu liegen: Ein Jahr nach dem
Welttheater nahm er sich einen anderen grossen Klassiker des Schweizer
Volkstheaters vor, die Tellspiele in Altdorf. Seine Schiller-Interpretation war
eine Wucht und hat mich zu meinem vielleicht besten Blogpost inspiriert – und
zu einer kurzen Ad-hoc-Theorie des Klassischen (Bildungsbürgertum lässt
grüssen).
In den Abgründen des kalten Krieges (2009)
Ein Buch, das ich lieber gar nicht gelesen hätte, so
ungemütlich ist es: Daniele Gansers Studie über die NATO-Geheimarmeen in Europa
liess mich ernüchtert, fast verzweifelt zurück. Die Rezension musste den
komplexen Stoff verständlich zusammenfassen und auch die Schwächen des Buches
nicht verschweigen.
Jocaste Reine (2009)
Wenn immer in vertretbarer Reisedistanz ein antiker Stoff
auf die Bühne kommt, sehe ich zu, dass ich ihn nicht verpasse. Weil ich da eher
aus dem Vollen schöpfen kann, macht das Blogschreiben dann jeweils besonders
Freude. Am besten gelungen ist mir das wohl beim Bericht zu Nancy Hustons
Neuinterpretation des Oedipus-Mythos aus der Sicht der Königin Iokaste: ein
berührendes Stück, gleich hier um die Ecke im Théâtre des Osses magistral uraufgeführt.
Antike Wirtschaft (2010)
Ich habe nicht nur Sachliteratur gelesen in diesen fünf
Jahren, aber offenbar liegt sie mir besser. Die zweite Buchrezension in dieser Liste
widmet sich einem Standardwerk der Altertumswissenschaft, Moses I. Finleys Antiker Wirtschaft; ein nahrhaftes Buch,
dem ich bei weitem nicht gerecht worden bin – aber das immerhin auf relativ
elegante Art.
Sennentuntschi (2011)
Vielleicht der beste Film, den ich seit 2007 im Kino gesehen
habe: Michael Steiner ist es gelungen, die uralte Sage vom Sennentuntschi neu
zu erzählen und dabei sowohl der Mythologie als auch der Realität gerecht zu
werden. Mein Blogpost dazu ist so, wie idealerweise alle wären: nicht reines
Referat, sondern Einordnung, Analyse und begründete Wertung.
Geschacher um Sarpedon (2011)
An diesem Artikel habe ich lange gekrampft und gelitten. Der
Besuch der Villa Giulia in Rom war mir Anlass, die Geschichte des
Sarpedon-Kraters von Euphronios zu erzählen – ein realer Krimi mit verstörenden
Einblicken in den internationalen Antiquitätenmarkt. Der Blogpost ist hier aber
auch noch aus einem anderen Grund aufgeführt: Nie habe ich ausführlicher über
etwas geschrieben, das ich gar nicht gesehen hatte…
Heilige Scheisse (2011)
Wer darüber nichts zu schreiben wüsste, müsste sich Sorgen
machen: Ein Film über Piero Manzonis respektloses Kunstwerk bzw. -projekt Merda d’artista erwies sich als augenzwinkernde
Analyse der zeitgenössischen Kunst und ihrer Sammler. Ein Vergnügen nicht nur
für den Festivalbesucher, sondern auch besonders für den Rezensenten!
Villa mit Meerblick, verzweifelt gesucht (2011)
Service public by
Phemios: Damit anderen nicht widerfahre, was uns in Castellamare di Stabia
zugestossen ist, habe ich unseren Irrweg zu den Villen der Ariadne und von San
Marco detailliert beschrieben und unsere Fehler schonungslos analysiert. Den
kleinen Werbespot können die beiden archäologischen Prunkstücke gut gebrauchen.
Freitag, 27. April 2012
Top Ten
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Dienstag, 3. April 2012
Sapperlot!
Die Schweiz ist ein raumfüllender schwarzer Spannteppich, nahtlos ins Ausland übergehend; nur die Negative der Seen akzentuieren diese uniforme Landschaft und machen sie kenntlich. Darüber hängen dreizehn Lautsprecher, und daraus tönt Dialekt. Sapperlot! Mundarten der Schweiz heisst die Ausstellung in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern, und drei Dutzend Tonzeugnisse spielen die Hauptrolle, nehmen den Raum ein, bevölkern die leere Schweiz aus Teppich: witzig-trockene berndeutsche Gedichte von Eggimann und Marti, Slampoesie avant la lettre von Niklaus Meienberg, der verhalten melodische Klang der romanischen Idiome, ein edles, ein wenig steifes Stadtbaseldeutsch, das Greyerzer Patois mit seinen an alles, nur nicht ans Französische erinnernden Lauten, und die ausgesprochen farbigen, etwas wilden Dialekte aus den Tessiner Tälern. Überraschend gut verständlich ist das Walserdeutsch aus Bosco/Gurin, hart an der Grenze der Haslitaler Dialekt, und eine richtige Fremdsprache ist das ausgestorbene Surbtaler Jiddisch, aus dem nur einzelne Begriffe wie Tachles oder Mischpòòche herausleuchten. Man kann problemlos lange verweilen unter diesen Hörfenstern in die gesprochene Sprache (oder an den Hörstationen mit identischem Inhalt), und dazu kann man im schönen Begleitheft mitlesen, so gut es geht, die überbordenden Akzentlandschaften des Patois durchmessen und die ü-punktierte Bibelstelle aus Cavergno, und immer wieder staunen über den seltsamen und leicht anarchischen Vorgang, der aus einer gesprochenen Sprache wie dem Entlebuchischen einen Text macht. Die faszinierende Diglossie der Deutschschweizer wird auch in einigen träfen Zitaten von Dichtern und Denkern im Gang vor der Ausstellung meditiert und auf den Punkt gebracht.
Den Wänden nach zeigen Vitrinen die Dokumentation des schweizerischen Sprachreichtums. Bücher, Briefe, Notizen und Zettelkasten zeugen von den verschiedenen Versuchen, den Dialektbestand der vier Sprachgebiete festzuhalten: das Schweizerische Idiotikon, das Glossaire des patois de la Suisse romande, das Vocabolario dei dialetti della Svizzera Italiana und der Dicziunari Rumantsch Grischun entpuppen sich als monumentale Forschungsunternehmungen, aus bescheidenen Anfängen geboren und geprägt von mühevoller Kleinarbeit. Eine Zusammenstellung der Aufnahmegeräte ergibt eine beeindruckende Technologiegeschichte, vom Phonographen bis zum Flash-Recorder – und das Problem der Archivierung der Aufnahmen wird implizit überdeutlich. Ein kleiner Querschnitt durch Schweizer Dialektliteratur aus den hauseigenen Beständen sorgt für Wiedersehensfreude und Aha-Effekte.
Wie in der Nationalbibliothek üblich ist die Ausstellung klein aber fein. Extra nach Bern reisen werden dafür wohl nur speziell Interessierte. Es empfiehlt sich aber, Sapperlott! quasi als Zugabe zu geniessen, zum Beispiel zu einem Besuch im neueröffneten Alpinen Museum gleich um die Ecke oder in einem der anderen Häuser des Berner Museumsquartiers.
Technisches: Sapperlot! Mundarten der Schweiz ist in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern (Hallwylstrasse 15, Erdgeschoss rechts) noch bis am 25. August zu sehen – beziehungsweise zu hören. Hören kann man die Tonbeispiele auch im Internet.
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Phemios
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Labels: Ausstellung, Bern, Kultur