Samstag, 14. Juli 2007

Endwind

Vor ein paar Jahren war ich zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder in Einsiedeln. Ich war kurz zuvor mehrmals in Rom gewesen, was vielleicht meinen Sinn für perfekt inszenierte Plätze geschärft hatte. Auf jeden Fall fielen mir beim Einbiegen aus der Hauptstrasse auf den Klosterplatz dessen Grandeur und Proportionen als sehr unschweizerisch auf – oder andersrum gesagt: Der Einsiedler Klosterplatz ist wohl der italienischste, zweifellos aber der schönste Platz der Schweiz.

Gibt es eine fantastischere Bühne für ein Theater? Und gibt es ein passenderes Stück als eines, das den Platz nicht nur als Bühne, sondern als Handlungsort verwendet? Nach fast hundertjähriger Tradition ist das „Grosse Welttheater“ von Pedro Calderón de la Barca in Thomas Hürlimanns zweiter, radikalerer und stimmigerer Bearbeitung definitiv zum „Einsiedler Welttheater“ geworden. Es ist bei uns und in unserer Zeit angekommen. Calderón schickte seine allegorischen Figuren in bester barocker Manier ins Spiel, ins Theater des Lebens. Dort sollten sie sich bewähren und am Schluss Rechenschaft ablegen über ihre Taten und Worte. Hürlimann erdet diese Allegorien im Einsiedeln des Jahres 2007. Die Bühne ist nicht mehr der in alle Richtungen offene symbolische Spielplatz des barocken Dichters, sondern der sehr konkrete Klosterplatz mit seinen Touristen, Marktständen, Pilgern. Der Platz ist baufällig (so erfahren wir aus den aufliegenden Flyern, die zu Spenden einladen), und baufällig ist auch die Welt, die als alte Frau mit langen wirren Haaren durchs Spiel führt. Der Untergang ist nahe, die Zeichen werden klar erkannt: Es weht der Endwind, der Sihlsee kocht, die Erscheinung der Madonna mit dem Kind wird erwartet, die apokalyptischen Reiter stehen schon am Eingang zum Tal. Das Einsiedler Welttheater 2007, das wird gleich zu Beginn unmissverständlich klar, zeigt die Menschen, die Menschen aus Einsiedeln, im Angesicht der Apokalypse.

Aber plötzlich sehen wir wieder die alten Allegorien vor uns, die ganz klischeehaft reagieren, maskenhaft wie ihr jeweiliges Alter Ego mit dem grossen Kopf: Der König ergreift geübt die Chance zur populistischen Beschwichtigung. Die Reiche sieht im Endwind den Antrieb für Windturbinen. Dem Bauern ist der Weltuntergang vielfältige Entschuldigung, schnell noch ein paar Halbe zu kippen. Und das bevorstehende Ereignis der Erscheinung der Jungfrau zieht Touristen, Kranke und Pilger zu Dutzenden an. Sehenden Auges bereiten sich die Menschen auf den Untergang vor und verdrängen ihn gleichzeitig – um ihm letztlich nicht zu entgehen. Der Endwind wird zum Sturm, aus dem Kloster raucht und brennt es, und die uralten Bilder der Apokalypse, die Reiter, werden überlagert von unseren eigenen Bildern der Apokalypse: Die Klostertürme werden zu den Twin Towers, aus denen sich Verzweifelte in den Tod stürzen. Unsere Figuren tauchen noch einmal auf, in Panik, gescheitert. Die müde alte Welt weint mit ihnen, wird von der Schönheit getröstet. Zuletzt liegen sie alle tot auf dem Platz.

Volker Hesse, der Regisseur, hat richtig erkannt: Der grosse Platz erfordert grosses Theater. Die Massenszenen, von Jo Siska magistral choreografiert, nützen die gewaltige Bühne zu vollem Effekt aus. Das ist kein symbolistisch-karges Theater, das ist barocke Üppigkeit, auf Augenhöhe mit Platz und Fassade. Organisch schmiegt sich die Musik (Jürg Kienberger) ins Geschehen, zum grössten Teil live auf und hinter der Bühne gespielt und gesungen. Blaskapelle, Chor und Orchester begleiten die Lebensszenen zu Beginn. Der Pilgerzug singt betörend Mozarts Ave verum corpus, begleitet von einem bettlägrigen Kranken auf dem Schwyzerörgeli. Der Endwind schliesslich, berückend und immer bedrückender, ertönt auf Glasharfen, die zuletzt in feierlicher Prozession über den Platz ziehen.

Was bleibt? Die stringent herbeigeführte, unausweichliche Apokalypse ist noch nicht das Schlussbild. Hürlimann offeriert uns einen überraschenden, poetischen letzten Blickwinkel, einen Interpretationsansatz, der (trans-zendent) über die Notwendigkeit des Scheiterns herausweist. Er legt der Welt, die als einzige im Leichenfeld noch aufrecht steht, die Schlussworte von Calderóns Meister in den Mund:

Und da das ganze Leben
nur Theater ist
sei euch und uns
das Spiel vergeben.

Das anschliessende bruchstückhaft-brüchige Te deum unterstreicht leise die Botschaft: Unser Irren und Wirren, unsere Blindheit und Schuld sind vergeb-bar, da sie nicht die ganze, vollständige Realität ausmachen. Wir sind letztlich mehr als die Personen, die wir spielen. Und von den Hunderten von Spielenden fallen unter dem nun vollen Scheinwerferlicht ihre Figuren ab; sie lächeln, strahlen, tuscheln und werden wieder sich selber. Aber auf dem Einsiedler Klosterplatz bleiben lebendig und präsent die Bilder der alles auslöschenden Apokalypse.

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