Sonntag, 27. März 2011

Karthaia

Die Insel Kea (für Altgriechen: Keos) liegt dem Festland von allen Kykladen am nächsten, gehört aber dennoch nicht zu den ausserhalb Griechenlands bekannten Reisezielen. Wer ein Auto zur Verfügung hat, erreicht den kleinen Hafen Lavrio an der Südostspitze Attikas von Athen aus relativ speditiv; mühsamer reist an, wer auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist. In Lavrio schifft man sich auf der Fähre ein, die einen in gut einstündiger Fahrt, vorbei an der langgestreckten ehemaligen Gefängnisinsel Makronissos, in Keas Hafenort Korissia bringt. Die eindrücklichste Attraktion der ruhigen, grünen Insel ist der Hauptort Ioulis, spektakulär auf einem Sattel zwischen zwei Hügeln gelegen, mit seiner archaischen Kolossalstatue eines liegenden Löwen. In der klassischen Antike bestanden auf Kea vier politische Zentren: neben Ioulis und Koressia auch Poieessa und Karthaia, dessen Akropolis sich an der Südostküste auf einem schmalen Felshügel zwischen zwei Bachbetten erhebt. Wer nicht per Boot an dem flachen Strand an Land gehen kann, erreicht Karthaia nur per mindestens einstündigen Fussmarsch auf einem der diversen Wanderwege, die sich die Flanken der Insel hinunterwinden.

Dieser unzugänglichen, aber spektakulär gelegenen und archäologisch wertvollen Stätte wurde zwischen 2002 und 2008 durch das „Programm zur Konservierung und Entwicklung des antiken Karthaia“ – unter anderem mit Geldern aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung – neues Leben eingehaucht: Die Steine wurden vom Wildwuchs befreit, Mauern gerade gerichtet und ausgebessert, Bauglieder der Tempel und anderen Gebäude identifiziert, und die Rekonstruktion einzelner Säulen und Maueransätze (zusammen mit den Informationstafeln) erleichtert dem unerfahrenen Besucher das Verständnis der Fundamente. Parallel dazu vervollständigten punktuelle Ausgrabungen das Bild, das sich die Fachwelt bisher von der archäologischen Stätte gemacht hatte. Ausdrückliches Ziel war es, in Karthaia einen sanften, möglichst naturnahen Tourismus anzuregen. Entsprechend wurden die althergebrachten Wander- und Ziegenwege nicht zu Autobahnen ausgebaut, sondern einzig instand gestellt und markiert. Karthaia soll weiterhin hauptsächlich zu Fuss erreicht werden.

Die Restaurierungs- und Rekonstruktionsarbeiten wurden vor bald zwei Jahren abgeschlossen. Dazu erschien die Publikation, um die es hier eigentlich gehen soll: Καρθαία / Karthaia. Ich muss gleich anfügen, dass ich das Buch nicht gekauft, sondern geschenkt bekommen habe, und zwar von einer der Autorinnen, meiner Studienkollegin Tania Panagou. Wenn ich mir trotzdem eine kurze Besprechung erlaube, dann aus zwei Gründen: Erstens glaube ich nicht, dass irgendjemand, der hier mitliest, zum potentiellen Käuferkreis des Werkes gehört. Zweitens aber finde ich es wichtig zu betonen, wie schön und zugleich nützlich die Publikation einer archäologischen Stätte sein kann, wenn alle Ingredienzen stimmen – wenn Geld und Zeit vorhanden sind, um Stress und Schludrigkeit zu verhindern, wenn eine kleine Equipe mit Herzblut bei der Sache ist, und wenn auf die Selbstbespiegelung in einer abgehobenen Fachdiskussion verzichtet wird zugunsten einer zugänglichen, aber immer präzisen Darstellung. Dass eine relativ entlegene Stätte mit einer so gelungenen Publikation geehrt wird, ist beglückend. Das Buch ist reich und hilfreich bebildert, und der in drei Sprachen parallel gehaltene Text (Griechisch-Englisch-Französisch) überlässt dem geneigten Leser jederzeit die Wahl, welche Fremdsprache er aktuell gerade revidieren möchte.


Technisches: E. Simantoni-Bournia, L.G. Mendoni, T.-M. Panagou, Καρθαία. ...ἐλαχύνωτον στέρνον χθονός... Athen 2009. ISBN 978 960 89366 2 1. Einen Link zum Buch konnte ich beim besten Willen nicht finden.

UPDATE: Wer des Neugriechischen mächtig ist, findet hier ziemlich ausführliche Informationen zur Restaurierung von Karthaia mitsamt der zugehörigen Bilddokumentation. Und anstatt auf Google Maps zeigt der Link zu Kea jetzt auf die offizielle Website der Insel.

Freitag, 18. März 2011

Les émotifs anonymes

Eine krankhaft scheue Confiseurin sucht Arbeit in einer etwas heruntergewirtschafteten Schokoladenfabrik, trifft dort auf einen Patron, der ebenso gehemmt ist wie sie selber – und die beiden verlieben sich auf den ersten Blick. Wie aber sollen die Ärmsten je zusammen kommen? Und überhaupt: Wie soll man aus dieser Idee einen Film machen, der sich nicht in Peinlichkeit und billigen Scherzen erschöpft? Jean-Pierre Améris hat das Kunststück mit Les émotifs anonymes geschafft. Den grössten Anteil daran haben seine Hauptdarsteller. Wie Benoît Poelvoorde als Jean-René Van Den Hugde zwischen gelegentlichem Mut, häufiger Traurigkeit und abgrundtiefer Verzweiflung fast simultan hin- und herwechselt, wie er all diese Gefühle mit sparsamster Mimik und Gestik auslebt – das ist ganz grosse Schauspielkunst. Und Isabelle Carré als Angélique Delange legt mit übermenschlicher Anstrengung immer wieder einen dünnen Firnis von Selbstbewusstsein über ihre dennoch kaum zu bändigende Menschenscheu. Und wie sie einen der besten Filmsätze der letzten Jahre, ein simples: „Ah, tiens, bonsoir!“, so setzt, dass im ganzen Kino fröhliches Gelächter ausbricht, muss man gesehen haben (ich empfehle dringend die Visionierung des Trailers).

So ist dieser kurze, leichtfüssige Film nie verletzend, sondern bittersüss-komisch. Mit ein paar klugen Weichenstellungen im Drehbuch gibt Améris seinen gehemmten Protagonisten regelmässig den nötigen Anstoss, die Geschichte voranzubringen: Jean-Renés Psychologe stellt ihm kleine Aufgaben, die das Potential sowohl zu desaströsen als auch zu wunderbar intimen Situationen in sich tragen. Angélique ist in Tat und Wahrheit keine simple Confiseurin, sondern eine der talentiertesten Chocolatières, die das Land je gesehen hat. Und die Selbsthilfegruppe der Emotifs anonymes steuert im richtigen Moment ganz regelwidrig den sanften Tritt in den Hintern bei, den sich Jean-René und Angélique trotz aller Willensanstrengung selber nicht geben können. So kann der Film leicht selbstironisch enden, in einer wunderschön poetischen Szene, entspannt untermalt vom eingängigen Big Jet Plane von Angus & Julia Stone.


Technisches: Les émotifs anonymes ist einer jener französischen Filme, denen man den Sprung über den Röstigraben von Herzen wünscht. (Es existiert auch bereits ein deutscher Titel, der leider ziemlich missglückt ist: Anonyme Romantiker.) Im Moment läuft er noch da und dort in der Westschweiz.

Montag, 7. März 2011

Geschacher um Sarpedon

Im Mittelpunkt dieses Beitrags hätte der Krater des Euphronios mit Eros und Thanatos stehen sollen, die den toten Sarpedon aus der Schlacht tragen: vielleicht die schönste bekannte griechische Vase, ein Meisterwerk der Kunstgeschichte – und zentrales Objekt eines Kunsthandelsthrillers, packender als jede Fiktion. Wer sich mal ein Stündchen gut unterhalten will, dem sei die mitreissende Aufzeichnung dieser Verwicklungen durch Thomas Hoving herzlichst empfohlen, dem damaligen Direktor des Metropolitan Museum of Art. Ihm wurde nämlich dieses Meisterstück im Herbst 1971 vom bereits damals skandalumwitterten Antikenhändler Robert Hecht angeboten. Hecht machte vage Andeutungen zur herausragenden Bedeutung und zum exorbitanten Preis einer bislang unbekannten Vase vorerst unklarer Provenienz und lud zur Besichtigung in Zürich ein (of all places). Kann man „Grabraubgut“ noch deutlicher schreiben? Hoving, der sich damals stark für einen Ehrenkodex der Antikenmuseen zum Umgang mit Antiquitäten zweifelhafter Herkunft engagierte, war natürlich auf der Hut. Er beschreibt aber auch offen, wie absolut rettungslos ihn der Krater faszinierte, als er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam – und wie erleichtert, als Hecht Nachweise für die Provenienz des Kunstwerks aus altem Privatbesitz lieferte, die sich zuerst zwar etwas unglaubwürdig anhörten, sich aber nach und nach unter dem prüfenden Blick der italienischen Justiz und der Presse erhärteten. Hoving handelte den Kaufpreis auf eine Million Dollars herunter, zahlte, und der Krater kam nach New York.

Dabei hätte es bleiben können, wenn Hecht wirklich ein anständiger Händler gewesen wäre. War er aber nicht: In jenem Herbst 1971 gingen nämlich nicht ein, sondern unglaublicherweise gleich zwei Kratere von Euphronios durch seine Hände, beide in Scherben: einer aus libanesischem Privatbesitz, der andere aus der illegalen Ausgrabung eines etruskischen Grabes bei Cerveteri. Sein Geniestreich war es, letzteren mit der Provenienzdokumentation des ersteren zu adeln und ihn so vermeintlich gefahrlos auch einem kritischen Kunden, nämlich einem renommierten Museum, zu verkaufen. Und da nun Italien seit einigen Jahren eine intensive Kulturaussenpolitik betreibt, um den Antiquitätenschmuggel zu beleuchten, zu denunzieren, und um Kunstwerke zu repatriieren, die ganz offensichtlich unrechtmässig das Land verlassen haben, wurde alsbald der zweite Akt des Thrillers geschrieben, der (für mich reichlich überraschend, siehe z.B. die Parthenonskulpturen) damit endete, dass der Euphronios-Krater an den italienischen Staat zurückgegeben wurde. Mit Pomp und Prominenz wurde das gute Stück willkommen geheissen und fand seinen ihm zustehenden Platz im Museo nazionale etrusco in der Villa Giulia in Rom.

Damit rückte dieses Meisterwerk für mich sozusagen in Griffweite und ein Besuch der Villa Giulia ins Pflichtprogramm für die nächste Romreise. Im Oktober des letzten Jahres war es endlich so weit. Doch dann: Als wir zur Kasse der Villa Giulia kamen, begrüsste uns ein Plakat mit der Information, dass der Krater des Euphronios zurzeit nach Venedig ausgeliehen sei, an die Ausstellung I Carabinieri per l’arte. Tessere di un patrimonio recuperato… Ich hätte das gesamte Personal samt Putzfrau würgen können, aber die gute Erziehung machte sich glücklicherweise noch rechtzeitig bemerkbar, und wir lösten artig zwei Eintritte. Tatsächlich lohnte sich der Besuch auch ohne Euphronios, mindestens im kürzlich neugestalteten ersten Teil. Das Ordnungsprinzip ist dort der Fundzusammenhang der Objekte, sind die einzelnen etruskischen Siedlungen und Nekropolen. Dennoch gelingt den Gestaltern eine klare, verständliche Darstellung der Epochen und Stile, und ich muss gestehen, dass wir etliche Meisterwerke entdecken konnten. Deutlich mühsamer und anstrengender war dann die zweite, noch nicht aktualisierte Partie der Villa Giulia, wo in nicht enden wollenden Räumen randvolle Vitrinen im Sechziger-Jahre-Design dumpf aufeinander folgten. Und in sträflicher Nonchalance haben es die Verantwortlichen fertig gebracht, das Highlight des Hauses (jedenfalls für mich) sehr effizient zu verstecken: In einem kleinen, düsteren Nebenraum standen drei Vitrinen wie zwischengelagert eng aufeinander, von wenigen Spots halbbatzig beleuchtet – und erst im letzten Moment, schon beim Herausgehen, entdeckte ich in der einen von ihnen die Olpe Chigi, Meisterwerk der korinthischen Vasenmalerei und seinerzeit Stammgast in meinen archäologischen Vorlesungen.

Bei solchen und ähnlichen Erlebnissen bin ich durchaus versucht, mich zu fragen, ob es wirklich Sinn macht, einem Staat Kunstwerke zurückzugeben, der mit seinen eigenen Schätzen so lieblos umgeht. Aber als Schweizer hält man bei dieser Thematik wohl besser den Mund. Nichts hätte dies treffender illustrieren können als der grosse Saal neben der erwähnten Abstellkammer. Dort wird anscheinend ein neuer Ausstellungsteil zum Thema Kunstraub und Kunsthandel aufgebaut, und bereits sind da einige in den letzten Jahren wiedergefundene Objekte höchster Qualität versammelt. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei das Zollfreilager Genf – was mich unweigerlich wieder einmal zu der Frage führt, weshalb die offizielle Schweiz während Jahrzehnten nicht nur nichts gegen den internationalen Kunstraub unternahm, sondern ihn durch spezielle Gesetze sogar noch aktiv beförderte. Da ist viel Unheil angerichtet worden, und Patentrezepte gibt es keine. Eines immerhin zeigen das Schicksal des Euphronios-Kraters, aber auch die aktuellen Prozesse gegen der erwähnten Robert Hecht oder die Getty-Kuratorin Marion True: Das Bewusstsein für das Unrecht steigt.


Technisches: Das Museo nazionale etrusco befindet sich in der Villa Giulia, der ehemaligen Sommerfrische von Papst Julius III. am Nordrand der Villa Borghese. Von der Piazza del Popolo (Metro A, Flaminio) ist das ein angenehmer Spaziergang; man kommt aber auch mit Bus 19 oder Tram (Bus) 3 bis fast vor die Tür. Nur erkundige ich mich nächstes Mal vielleicht vorher, ob das Objekt meiner Begierde im Haus ist…