Mittwoch, 23. September 2009

Wie kann man nur?

Im Weltwoche-Feuilleton schreibt Michael Maar anlässlich des Erscheinens seiner Proust-Biografie über die Recherche du temps perdu, und man merkt schnell: Hier spricht einer, der viel gelesen hat und eloquent darüber zu erzählen weiss, über das Buch seines Lebens; schreibt eine eigentliche ausführliche Liebeserklärung an ein singuläres Stück Literatur, und man schätzt sich glücklich, die Lektüre dieses Buches noch vor einem zu haben, denn

„Es gibt kein anderes, das den Leser mit einer so verworrenen Mischung aus Gefühlen entlässt: beglückt, erhoben, sanft zerschmettert, tief resigniert. Wird man so etwas je wieder lesen, selbst wenn man sofort zum zweiten Mal beginnt? Unmöglich, denn genau im langsamen Herunterziehen des Schleiers lag der Trick, der sich nie mehr wiederholen lässt.“

Aber was steht da kleingedruckt nach diesen zwei Seiten klugen Schwärmens? Genau:

Exklusiv für Weltwoche-Leser: Die Zusammenfassung von Marcel Prousts’ „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Kostenlos auf www.getabstract.com/weltwoche.

Wäre ich Michael Maar, würde ich schleunigst davon absehen, meine leidenschaftlichen Texte weiterhin an einem Ort zu publizieren, an dem sie nicht ernst genommen werden, sondern nur als Vehikel für völlig unpassende Promotionen zu dienen haben.

Freitag, 18. September 2009

Zehntausend schlafende Pferde

Der grösste Dieselmotor der Schweiz steht in Fribourg: Zwölf Meter lang und acht hoch dominiert er mit Wucht und Eleganz die leere Halle des thermoelektrischen Kraftwerks in der Maigrauge, das, verstaubt und zugestellt, als Werkstatt und Abstellhalle verwendet wird. In den acht Zylindern schlafen zehntausendachthundert Pferde. Bei Sulzer in Winterthur wurde das Monstrum ursprünglich für einen Ozeanriesen gebaut (wovon noch die steilen Treppen mit den eleganten Handläufen zeugen), dann aber von den Freiburgischen Kraftwerken angekauft, in Einzelteilen in die Unterstadt transportiert und im tempelähnlichen Hallenbau montiert. Während fast siebzig Jahren produzierte es aus 5000 Litern Heizöl pro Stunde Strom, unter ohrenbetäubendem Lärm und weithin spürbarer Vibration. Die stark gestiegenen Ölpreise, die Umweltgesetzgebung sowie ein Kolbenriss setzten den archaischen Giganten in den Neunziger Jahren (erst!) ausser Gebrauch. Seine drei kleineren Kollegen wurden abgebrochen und nach Indonesien verfrachtet; der grosse Schiffsmotor jedoch steht heute noch an seinem Wirkungsort, als eindrücklicher Zeuge einer Zeit, in der die besten und stärksten Motoren der Welt in der Schweiz produziert wurden.

Am Tag des offenen Denkmals, der sich dieses Jahr mit dem Wasser in all seinen Formen und Funktionen befasste, öffnete Groupe E ihre Wasserkraftwerke in der Maigrauge und am Ölberg für die Besucherinnen und Besucher. Das war wie erwartet spannend und informativ; besonders der innovative Fischlift am Maigrauge-Staudamm hat uns begeistert. Das in unseren Augen eigentliche Highlight, eben der grosse Dieselmotor, stand jedoch nur verschämt auf dem Programm. Etwas ausserplanmässig hat uns dann aber ein freundlicher und sehr kompetenter Mitarbeiter die Tür zum thermoelektrischen Kraftwerk aufgeschlossen, die Kolben mittels Elektromotor in Gang gesetzt, den Giganten mit uns erklettert und seine Funktionsweise erklärt. Ich kann nicht sagen, was mich mehr faszinierte: die gewaltige, einschüchternde Masse oder die Anmut der Konstruktion – denn hier gilt forms follows function in Reinkultur, und gerade deshalb ist das Design von unnachahmlicher, anschaulicher Eleganz.

Die Erinnerung an die Centrale Montemartini gibt Anlass zum Träumen: Da das gute Teil nun mal dort steht, wo es steht, da es schweizweit einzigartig ist, da auch das Gebäude ein historisches Monument ist, wäre der Gedanke verlockend, den Motor zu konservieren und als technikgeschichtliches Museum zugänglich zu machen. Dass das nicht einfach sein wird, ist mir natürlich klar. Umso mehr habe ich mich über die vorläufig einmalige Gelegenheit gefreut, dieses Juwel von nahem betrachten und studieren zu können.


Technisches: Das thermoelektrische Kraftwerk der Maigrauge ist in der Regel nicht zugänglich. Als notdürftiger, aber gut gemachter Ersatz dienen kann seine Publikation im Rahmen der „Fiches Ville de Fribourg 2005“ der kantonalen Denkmalpflege.

Freitag, 11. September 2009

Vor langer, langer Zeit

Konstantinopel (der Name „Istanbul“ wird nicht gebraucht) ist für die Griechen nicht irgendeine Stadt – es ist die Stadt schlechthin, i Poli; ein Jahrtausend lang politisches, religiöses und kulturelles Zentrum des byzantinischen Reiches bis zur Eroberung durch die Türken 1453, und auch nach dieser Katastrophe, die im kollektiven Bewusstsein noch bedrückend präsent ist, Fokus der griechischen Kultur, die einzig wahre Stadt und ideelle Hauptstadt der in den Dörfern über zwei Kontinente verteilten Griechen. In der jüngeren Vergangenheit haben Nationalismus und gegenseitiger Hass das mehr oder weniger friedliche Zusammenleben entscheidend sabotiert. Nach den schmählich gescheiterten griechischen Grossmachtplänen 1922 mussten Griechen und Türken im Rahmen der ersten ethnischen Säuberung in Europa jeweils zu Hunderttausenden ihre Heimat verlassen; zu den wenigen Ausnahmen, die bleiben durften, gehörten rund 100’000 Griechen in Konstantinopel. Die antigriechischen Gesetze von 1932, erst recht dann die antigriechischen (bzw. antichristlichen und -jüdischen) Pogrome vom 6./7. September 1955 vertrieben die meisten dieser letzten Vertreter einer alten Tradition aus der Stadt; zurück blieb ein kleines, langsam aussterbendes Häufchen von gerade mal viertausend Personen. Die traurige Geschichte der alten Kaiserstadt ist ein Kulminationspunkt der schwierigen, gegenseitig immer wieder extremistisch angeheizten und erst in den letzten Jahren vorsichtig etwas entspannten Beziehung zwischen Griechen und Türken.

Sich literarisch auf dieses verminte Terrain zu wagen, ist nicht jedermanns Sache; wohl aber diejenige von Petros Markaris. Selber in Konstantinopel geboren und aufgewachsen (Vater Armenier, Mutter Griechin), in Österreich ausgebildet, in Athen wohnhaft, ist der Ökonom, Drehbuchschreiber, Übersetzer und Krimiautor ein Wanderer und Mittler zwischen den Kulturen mit feinem Sensorium für Unausgesprochenes und Ungerechtigkeiten. In seinem neuesten Krimi, Παλιά, πολύ παλιά (Vor langer, langer Zeit; zu Deutsch Die Kinderfrau) schickt er Kommissar Charitos, seinen liebenswürdig-grimmigen Helden, auf Städtereise nach Konstantinopel und führt uns mit ihm zusammen durch die Stadt seiner Kindheit, in die geschlossenen Schulen, leeren Kirchen und zerfallenden Häuser der Griechen - und in deren volles Altersheim. Ohne seine Untergebenen, die er nach Belieben anbellen und herumhetzen kann, ohne sein Feeling für Stadt und Menschen, das ihn in Athen immer gut leitet, reduziert auf die Nebenrolle als Begleiter seines türkischen Kollegen, ist Charitos kaum wiederzuerkennen. Plötzlich entdecken wir neue, sympathische, ganz normale Züge am ruppigen Kommissar. Einzig die üblichen kleinen Wortgefechte mit seiner Frau erinnern an die früheren Fälle – und natürlich seine Obsession für Strassen und Routen innerhalb einer Stadt.

Der eigentliche Kriminalfall ist nur ein Vorwand für das Buch, denn Identität und Motiv der Mörderin sind nach wenigen Seiten klar und verständlich. Vielmehr geht es darum, dass die Blutspur, die sie in Konstantinopel hinterlässt, eine Spur in die schmerzhafte Vergangenheit einer alten, mehrfach vertriebenen Frau ist. Es geht um die Situation der griechischen Minderheit, die der in Deutschland geborene türkische Polizist Murat viel besser versteht als sein griechischer Kollege Charitos. Es geht um Verständnis und Misstrauen. Es geht um gut und böse und darum, dass es nicht reicht, einem bestimmten Volk anzugehören, um gut oder böse zu sein. Es geht auch darum, wie vieles Griechen und Türken einen würde, wenn sie nicht auf das Trennende starren würden. Und gewissermassen ist Vor langer, langer Zeit ein vorgezogenes Requiem auf dreitausend Jahre griechisches Leben und griechische Kultur in Byzanz/Konstantinopel/Istanbul. Das alles ist viel Material für gerade mal dreihundert Seiten. In seinem bisher persönlichsten Krimi gelingt es Petros Markaris, eine schwierige Geschichte mit überraschender Leichtigkeit und fast heiterer, gelassener Melancholie zu erzählen.


Technisches: Wie alle Krimis von Markaris ist auch dieser hier von Michaela Prinzinger (kongenial, wie man hört) ins Deutsche übersetzt worden und bei Diogenes erschienen: Petros Markaris, Die Kinderfrau. Ein Fall für Kostas Charitos. ISBN 978-3-257-06696-8. Auf Griechisch wird Markaris von Gavriilidis verlegt.

Sonntag, 6. September 2009

Im Herbst

„Heute morgen, unter der Dusche, habe ich an mir das erste weisse Schamhaar entdeckt.“ So beginnt die Saison im Theater an der Effingerstrasse; so beginnt „Im Herbst“ von Felix Römer. Im prägnanten Einstieg ist alles drin, was das Stück auszeichnet: Die Auseinandersetzung mit dem beginnenden Alter, in welcher unter dem souveränen Sarkasmus gelegentlich die nackte Panik durchscheint, und die Männerfreundschaft, die tief geht, aber trotzdem von Oberflächlichkeiten nicht frei ist. In erster Linie ist „Im Herbst“ aber ein Starvehikel für Suske und Schönbeck. Stefan Suske und Uwe Schönbeck, jahrelange Veteranen des Stadttheaters Bern und dortselbst alleine, aber vor allem als komisches Doppel grosse Publikumslieblinge, kommen zum zweiten Mal nach letzter Saison in den intimen Rahmen der Effingerstrasse; und ihr ehemaliger Krefelder Kollege Römer hat ihnen dazu ein Duett auf den Leib geschrieben. Stefan Suske brilliert als Schriftsteller Max, der sich vom aufreibenden Leben als Psychiater zurückgezogen, im minimalistischen Haus am See installiert hat und dort mit Millimeterschnitt, lässiger Eleganz und überbordender Abgeklärtheit den Philosophen gibt, währenddem er mit wenig anspruchsvoller Literatur gutes Geld verdient. Uwe Schönbeck hat die dankbare Aufgabe, sich mit Haut und Haar, mit Vehemenz und Larmoyanz im Selbstmitleid des Provinzschauspielers Robert zu suhlen, der sich von der intensiven, aber unglücklichen Beziehung zur zwanzig Jahre jüngeren Klara zu erholen versucht. Roberts Liebeskummer ist das Thema ihrer Dialoge, aber auch das unerbittlich fortschreitende Alter der beiden Fünfzigjährigen. Wie vertragen sich die unterschiedlichen Lebensentwürfe mit dem fast schon romantischen gemeinsamen Ziel einer Alters-WG inklusive polnischer Putzfrau? Am Schluss ist es der chaotisch-überspitzte Robert, der zu neuem Glück aufbricht, währenddem Max etwas verbittert in seiner Nobelklause zurückbleibt.

Die Figuren sitzen passgenau; Suske und Schönbeck füllen sie bis in die Fingerspitzen aus. Unter der Oberfläche einer alten, vertrauten Freundschaft lassen sie verborgene Spannungen erkennen, unausgesprochenes Misstrauen und gelegentliche Genervtheit. Freilich tritt hinter den Protagonisten und ihrem Spiel das Stück selber etwas in den Hintergrund. Schon am Tag nach der Aufführung konnte ich mich nur noch der Spur nach an die Fabel in all ihren Wendungen erinnern. Das muss kein Nachteil sein: Hier geht man wegen der Schauspieler ins Theater, weniger wegen des Inhalts; und zu sehen bekommt man die hohe Kunst des tragikomischen Duetts.


Technisches: „Im Herbst“ wird an der Effingerstrasse noch bis am 26. September gespielt; Karten gibt es unter 031 382 72 72. Für den Bund hat Charles Linsmayer bereits berichtet.