Freitag, 19. Dezember 2008

Kylián / Armitage / Marston

Tänzerinnen und Tänzer arbeiten gewissermassen multilingual, beherrschen mehrere Tanzsprachen und müssen sich neben den vertrauten Dialekten auch regelmässig auf andere Ausdrucksweisen einstellen können. Es ist immer besonders reizvoll, diese Wandlungsfähigkeit am gleichen Abend erleben, die verschiedenen Sprachen direkt vergleichen zu können. So hat Cathy Marston für den ersten Ballettabend der neuen Saison am Stadttheater Bern einer eigenen Kreation zwei Stücke von Jiří Kylián und Carole Armitage vorangestellt.

No More Play des tschechischen Choreografen Jiří Kylián ist fast naturwissenschaftlich zu nennen. Zur sehr konstruierten, dem Kopf besser als dem Ohr zugänglichen Musik von Anton von Webern (Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 in der Aufnahme des Quartetto Italiano) schneiden die Scheinwerfer scharfe Kreise und Rechtecke aus dem Bühnenboden. Darin bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer wie gut geölte Präzisionsmaschinen, ihre fliessenden Bewegungen gehen mit der Zuverlässigkeit perfekt eingestellter Zahnräder ineinander über. Geometrische Muster von Licht und Schatten verstärken noch den Eindruck der strengen Konstruiertheit. Ganz anders Between the Clock and the Bed, eine Uraufführung von Karole Armitage. Die Suite für Streichorchester von Leoš Janáček (jetzt live vom Berner Symphonieorchester) ist von äusserstem spätromantischen Ausdruck und Innigkeit. Dem Auge bietet sich das perfekte Pendant: Jede Bewegung wird intensiv und kraftvoll durchgestaltet und schwelgerisch bis zur Neige ausgekostet.

Nach der zweiten Pause dann düstere Töne und hektische Bewegungen in Libera Me von Cathy Marston. Das Thema ist der Tod. Auf der bis an die Rückwand vollständig kahlen Bühne sehen wir einen modernen Orpheus sitzen, der seine Schnürstiefel ablegt und sich barfuss und mit nacktem Oberkörper auf die Suche nach seiner Eurydike macht. Das vergebliche Suchen, die täuschende Nähe prägen dieses Stück. Im grellen seitlichen Scheinwerferlicht jagen immer wieder die Geister der Unterwelt über die Bühne, greifen sich die Tote, trennen die Liebenden: der Tod als Gefängnis, als geschlossene Gesellschaft, und der Kampf gegen den Tod als vergeblicher Versuch der Befreiung. Unterstrichen wird diese Interpretation durch die betörende und verstörende Musik, die Requiem Canticles von Igor Strawinski. Im Orchestergraben drängen sich hinter dem breit besetzten Orchester der Chor des Stadttheaters mit den SolistInnen Vesela Lepidu und Ivaylo Ivanov. Den ausgewählten Texten aus der lateinischen Totenmesse (sechs Strophen aus der Sequenz Dies irae und das Responsorium Libera me) verleiht der greise Komponist verschiedenartige Gestalt, von gregorianischen Anklängen über gesprochene Partien bis zu sehr sperrigen Klangfolgen. Eindrücklich ist es zu wissen, dass die Requiem Canticles fünf Jahre nach ihrer Entstehung an Strawinskis eigener Beerdigung gespielt wurden.

Mit diesen ernsten Tönen und diesen Bildern der Trennung endet der Abend. Das nicht besonders zahlreich erschienene Publikum spendet lang anhaltenden, warmen Applaus. Ich kann mich nur wiederholen: Es ist ein Glück, Cathy Marston in Bern zu haben, und ein Vergnügen, ihre Compagnie zu sehen.


Technisches: Der besprochene Abend wird im Dezember noch einmal und im Januar noch zweimal gespielt.

Samstag, 13. Dezember 2008

Not des Erkennens

Vor 46 Jahren kam der erste James-Bond-Film in die Kinos, und immer noch bewirkt jede Regung, jedes Zucken der dienstältesten Hauptfigur des internationalen Films ein Echo ohnegleichen: Das nächste Bond-Girl, der nächste Bösewicht, der Bond-Darsteller selber, Drehorte, Pannen und Anekdoten werden von der Produktionsfirma gekonnt ausgebreitet und von einer Heerschar etablierter und weniger etablierter, ernsthafter und weniger ernsthafter Medien seziert und analysiert. Für Bond gilt das gleiche wie für den Fussball: Jeder ist ein Experte. Und mitunter gemahnt das repetitive „früher war alles besser“ an eine Altersheim-Cafeteria. Bin ich boshaft? Gewiss, Daniel Craig und sein Debütfilm Casino Royale hatten weit herum Bestnoten erzielt. Aber als kürzlich Quantum of Solace in die Kinos kam, ging durch die Presse oft das altbekannte Greinen: Das ist nicht mehr der Bond, den wir lieben – zu brutal, zu wenig ironisch, und vor allem nicht genügend glamourös.

Dazu ist verschiedenes zu sagen, zum Beispiel, dass Quantum of Solace 21 Vorgänger hat und dass nur schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit einer oder zwei davon wohl besser sein werden als der aktuelle. Jede Generation, so der durchaus zutreffende Gemeinplatz, hat ihren Bond; politische und gesellschaftliche Realitäten, technische Entwicklungen, andere Filme waren immer eine wichtige Inspiration; ihre Entstehungszeit und den entsprechenden Geschmack kann keine der Episoden verleugnen. Mehr als einmal hat sich die Entwicklung der Figur zwischenzeitlich in Klischees totgelaufen. Am wichtigsten jedoch ist, dass mit Casino Royale eine neue Zeitlinie begann; dass wir jetzt lernen, wie Bond zu dem etwas klischierten Playboy wurde, den wir kennen und lieben. Dieser elegante, ironisch-blasierte Alleskönner war einmal ein junger Agent, frisch von der Ausbildung, bereits schlagkräftig, taktisch geschult und ein Muskelpaket ohnegleichen, gewiss, aber auch etwas unbeherrscht, im Umgang ungehobelt und auf dem gesellschaftlichen Parkett noch wenig stilsicher. Im Moment können wir ihm dabei zuschauen, wie er sich die Erfahrungen und Narben holt, die ihn zu dem machen werden, den wir schon kennen – und wir entdecken statt der sonst leicht eindimensionalen Figur auf einmal eine facettenreiche Persönlichkeit.

Quantum of Solace beginnt mit irrwitzigen, rasend schnellen Schnitten, in der Autoverfolgungsjagd am Gardasee im Prolog und im Zweikampf durch die Gewölbe und über die Dächer von Siena. Tempo, Intensität, Hektik und Verwirrung setzen das Thema des Films: die Not des Erkennens (um es mit einem Begriff aus dem Literaturunterricht auszudrücken). In dieser unübersichtlichen und unentwirrbaren Geschichte ist wenig bekannt, nichts gewiss – und wem soll man da vertrauen? Das beginnt mit der erschütternden Einsicht von M, dass der Gegner, den sie eben am Rockzipfel erhascht zu haben meint, sich seit Jahren in ihrem innersten Kreis bewegte; und das zieht sich durch die ganze Handlung, die durch kleine, zufällige Details mühsam vorwärts gebracht wird. Bald wird Bond nicht nur von Quantum gejagt, diesem mysteriösen Verbrechersyndikat, sondern auch von der CIA, und überdies von seiner eigenen Vorgesetzten abgesägt. Die Not des Erkennens gipfelt in jener intensiven Szene, in der nicht nur Bonds letzter Strohhalm zum Erfolg, sondern sein nacktes Leben davon abhängt, dass sein CIA-Kollege Felix Leiter, hin- und hergerissen zwischen Auftrag und Freundschaft, den Freund letztlich nicht hängen lässt. Wenig verwunderlich, dass am Schluss Einsatz und Rache gelingen, aber viele Fragen offen bleiben.

Dieser zeitgemässe Bond kommt ohne überdreht-psychopathische Bösewichte in futuristischen Settings, ohne Gadgets und ohne finale Massenschiessereien aus. Stattdessen dominieren Szenen von Verlust, Versagen, Trauer – und ein durchaus realistischer, unauffälliger, aber deswegen nicht weniger gnadenloser Krimineller. Die lange Szene auf der imposanten Seebühne von Bregenz und die weiten Einstellungen in der bolivianischen Wüste unterstreichen dabei (neben Marc Forsters künstlerischen Anspruch) das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Nichtwissens. Erinnerungen drängen sich auf an andere, ähnlich minimalistische und intensive Filme der Serie, die von persönlicher Betroffenheit und Rache Bonds geprägt sind: On Her Majesty’s Secret Service und vor allem Licence to Kill. In seinen nächsten Auftritten wird der junge Agent zweifellos an Eleganz, Ironie und weltmännischem Gehabe gewinnen; angedeutet ist dies schon in einigen wenigen Szenen, beispielsweise in der Hotelsuche mit Strawberry Fields in Bolivien. Vorerst aber ist er ein Getriebener, Bedrückter, Verletzter auf der Suche nach seiner Rolle. Darin liegt das Beeindruckende und Packende von Quantum of Solace.


Technisches: Quantum of Solace läuft noch mehr oder weniger überall in Kinos Ihres Vertrauens. Wer den Film dort verpasst, wird ihn in wenigen Jahren auf allen möglichen Kanälen wieder und wieder antreffen. Und wer meine Besprechung zu ehrfürchtig findet, dem wird vielleicht die satirische Version des Drehbuchs von Diego Doval besser gefallen.

Donnerstag, 4. Dezember 2008

Ansichten eines Kellners

Waiter Rant war das erste Blog, das ich von vorne bis hinten komplett und mit wachsender Begeisterung durchlas – und das noch bevor ich wusste, was ein Blog überhaupt ist (in grauer Vorzeit, so um 2005). Ein anonymer Kellner in einem Upperclass-Italiener in New York schreibt da über seine leidvollen Erfahrungen mit schwierigen Kunden, zickigen Kolleginnen und einem cholerischen Chef. Als Europäer muss man wissen: In den USA hat das Servierpersonal einen mehr symbolischen Grundlohn, lebt aber zur Hauptsache vom Trinkgeld, ist also dem Anstand und dem Goodwill seiner Kundschaft auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Wer nicht mindestens 15% gibt, betrügt den Kellner, ohne dass dieser sich wehren kann. Zudem gilt jenseits des grossen Teichs nicht nur in der Gastroindustrie das Prinzip des Hire and Fire: Wenn der Chef schlecht geschlafen oder sonst miese Laune hat, kann er seinen Angestellten ohne Aufhebens und auf der Stelle die Tür weisen – und auch diese können ihre Schürze von einem Moment auf den anderen an den Nagel hängen. Reichlich Konfliktpotential also, und reichlich Potential für gepfefferte Geschichten auf des Kellners Blog. Doch dieser erschöpft sich nicht im Anekdotenerzählen. Seine Jahre im Priesterseminar haben sich in einer eleganten, besonnenen, eine kleine Spur altmodischen Sprache niedergeschlagen. Seine Erfahrungen als Psychiatriepfleger verhelfen ihm zu verblüffend enthüllenden Analysen des Geisteszustandes seiner jetzigen Klienten. Und seine Zeit als Kellner hat seiner Menschenkenntnis den letzten Schliff gegeben – denn nichts ist so aussagekräftig für den Charakter eines Menschen wie seine Art, mit Dienstpersonal umzugehen. So sind die kleinen, oft hässlichen Geschichten aus dem Nobelrestaurant nur ein Vorwand für allgemeingültige Betrachtungen zum Wesen der Menschen und zum Sinn des Lebens. Dass der Autor dabei das Abgleiten in Kitsch und Trivialitäten durch den gut dosierten Sarkasmus in der Rahmenhandlung gekonnt vermeidet, macht sein Blog so lesbar.

In der englischsprachigen Blogwelt gibt es so etwas zwischen Jackpot und Ritterschlag: den Book Deal. Wer einen Buchvertrag erhält, der hat es geschafft, der kann auf beträchtlichen finanziellen und emotionellen Lohn für hunderte Stunden einsames Bloggen hoffen. Als der Kellner seiner Leserschaft im Sommer 2006 mitteilte, er habe einen Book Deal abgeschlossen, war meine Vorfreude darauf, seine Schreibe bald auch in anderer Form und Aggregatszustand geniessen zu können, etwas gemischt mit Bedenken, ob sich ein lesenswertes Blog denn tatsächlich in ein lesenswertes Buch transformieren lassen würde. Das war freilich unnötig: Waiter Rant hat eine prägnante Struktur und einen roten Faden. Halb Autobiografie, halb Blick hinter die Kulissen eines Restaurants, nicht frei von Pathos, aber immer in der mir lieb gewordenen, leicht fliessenden Sprache des Kellnerpoeten, liest sich das Buch angenehm und spannend. Es ist, als würden dutzende von Facetten aus mehreren Jahren der punktuellen Lektüre aufs Mal mit sicherer Hand zu einem abgerundeten Ganzen zusammengefügt.

Für den anonymen Kellner war sein Buchvertrag tatsächlich das grosse Los. Zwar scheint das Schreiben eine Durststrecke gewesen zu sein – er verliess nach sieben Jahren zermürbt The Bistro, sein Restaurant, hatte mit anderen Stellen noch weniger Glück, und vor allem litt auch das Bloggen unter seiner Konzentration auf das Buch. Am Erscheinungstag jedoch liess er sich in der New York Post outen (sein wahrer Name ist Steve Dublanica), andere Artikel, Radio- und Fernsehbeiträge folgten, Waiter Rant wurde zum Bestseller, mehrere Übersetzungen sind in Vorbereitung, und auch das nächste Buch ist schon in Arbeit. Selten habe ich jemandem einen solchen Erfolg mehr gegönnt!


Technisches: Waiter Rant. Behind the Scenes of Eating Out, by A. Waiter. London, John Murray 2008. ISBN 978-1-84854-007-1. Die deutsche Übersetzung wird bei Droemer Knaur erscheinen.