Samstag, 27. November 2010

Antike Wirtschaft

Bei meiner archäologischen und althistorischen Lektüre ist mir in letzter Zeit klar geworden, dass die Kenntnis der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Überlegungen für das Verständnis historischer Phänomene oft von grosser Bedeutung ist – beziehungsweise wäre, denn in meinem Studium ist dieser Aspekt kaum je methodisch angegangen worden. Es galt hier also eine Lücke zu schliessen. Glücklicherweise stand das entsprechende Standardwerk bei mir bereits im Regal: Antike Wirtschaft von Moses I. Finley. Finley, soviel hatte ich immerhin mitgekriegt, war einer der führenden Forscher zur antiken Ökonomie, und die aus einer Vorlesung hervorgegangene Übersichtsdarstellung gewissermassen die Summe seiner Forschungen. Die deutsche Ausgabe kommt schlichtestmöglich daher, als schmales Bändchen im sobren Tarnkappengewand der Reihe dtv wissenschaft. Der Inhalt jedoch ist nahrhaft; die Lektüre verlangt Wachheit und Konzentration. Finley herrscht mit der Souveränität des erfahrenen Gelehrten über seinen Gegenstand, gewichtet mit sicherer Hand, polemisiert überzeugt gegen unbegründete Auffassungen und muss doch selber mehr als einmal auf sehr unsicherem Terrain seine Analysen errichten. Denn eines macht er von Anfang an klar: Griechen und Römer, die sich doch in allen möglichen wissenschaftlichen Gattungen als originelle Pionierdenker erwiesen hatten, kannten die Ökonomie als Wissenschaft nicht.

Der Befund ist zunächst mal ernüchternd. Er bedeutet: Es gibt in der antiken Literatur keinerlei abstrakte Betrachtung wirtschaftlicher Phänomene, es fehlen auch grundlegende Hilfswissenschaften wie Statistik sowie die entsprechende Terminologie und Konzepte; ja es fehlt jeglicher Beleg dafür, dass wirtschaftliche Zusammenhänge erkannt oder untersucht worden wären, die über anekdotische Einsicht hinausgingen. (Wenn das Wetter in Ägypten ungünstig war, kam weniger Getreide nach Rom und die Preise stiegen – soviel war klar, aber zum Anlass weitergehender Studien zur Preisgestaltung beispielsweise wurden solche Alltagsphänomene nicht genommen.) Für uns bedeutet das auch: Es ist schlicht sehr wenig belastbares Material vorhanden, das uns heutigen entsprechende Untersuchungen erlaubt. Für fast alles, was er beschreibt, kann Finley trotz immenser Quellenkenntnis aus der antiken Literatur und Epigrafik gerade mal ein paar Beispiele anführen; und die Bewertung und Einordnung dieser Quellen erweist sich geradezu als Hauptschwierigkeit: Sind es belanglose oder anekdotische Einzelfälle, oder sind es dennoch, gerade wegen ihrer Beiläufigkeit, charakteristische Beispiele verbreiteter Praxis?

Aus dieser schütteren Quellenlage errichtet der Autor ein beeindruckendes und umfassendes Gesamtbild. Er geht aus von den Menschen und ihren Rollen. Stand und Status definieren den Rahmen der Möglichkeiten eines jeden und damit auch sein wirtschaftliches Handeln. Der Beziehung zwischen Herren und Sklaven wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wobei Finley ausdrücklich von modernen (moralischen) Bewertungen und Vorstellungen warnt, was Freiheit und Sklaverei angeht: Sklave zu sein, konnte ein sehr breites Spektrum von Lebenssituationen bedeuten, das von schonungsloser Unterdrückung bis zu selbständiger Erwerbstätigkeit reichte. Dazu kommt, dass das heute gängige Konzept der Lohnarbeit in der Antike nur in wenigen Ausnahmefällen angetroffen wird: Wer kein Sklave war, war freier Handwerker, kaum je ein Angestellter. Ähnlich differenziert ist der Grundbesitz zu betrachten: Nominell freie Bauern hatten beispielsweise in der späten römischen Republik in der Regel zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Hauptlektion des Buches ist wohl, dass Verallgemeinerungen mit Vorsicht zu formulieren sind, nicht nur der Quellenlage wegen. Man muss sich schliesslich auch immer bewusst sein, dass vieles, was in unseren Geschichts- oder Archäologiebüchern aufscheint, absolute Ausnahmefälle darstellte, so etwa die römischen Kaiserhöfe, die eine historisch kaum je mehr erreichte Konzentration von Reichtum im Vergleich zum Normalbürger darstellten. Einen methodisch wichtigen Eintrag ins Stammbuch habe ich mir allerdings gemacht; er betrifft die Kleinräumigkeit der antiken Wirtschaft. Exportproduktion war immer eine Ausnahme, die grosse Mehrzahl der wirtschaftlichen Kontakte blieben auf das Umfeld lokaler Bauernmärkte oder die Kontakte zwischen einer Stadt und ihrem unmittelbaren Umland beschränkt. Mitentscheidend dafür waren die hohen Transportkosten, sobald kein Meer oder Fluss zur Verfügung stand – oder in Finleys kongenialer Formulierung zu den hauptsächlichen Transporttieren der Antike: „Alle drei – Ochse, Maulesel, Esel – waren langsam und gefrässig“. Deshalb war ein Landtransport über 120 Kilometer teurer als ein Seetransport über die gesamte Breite des Mittelmeeres, und wer nicht in Wassernähe sass, hatte ein Problem.

Moses I. Finleys Antike Wirtschaft ist ein Buch, mit dessen einmaliger Lektüre es nicht getan ist. Es wird unabdingbar sein, zukünftigen Lesestoff mit seinen Erkenntnissen zu verknüpfen und das hochkonzentrierte Werk regelmässig beizuziehen. Dass es notwendigerweise in einen gutsortierten Handapparat zur Altertumsgeschichte und Archäologie gehört, scheint mir unbestreitbar.


Technisches: Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wittenburg. dtv wissenschaft. München, dtv 21980. ISBN 3 423 04277 X. Das Buch ist zurzeit vergriffen, deshalb sei der Hinweis auf Google Books erlaubt.

Samstag, 20. November 2010

Unter den Mauern Bolognas

Commissario Brunetti aus Venedig oder vielleicht auch Maresciallo Guarnaccia aus Florenz sind hierzulande bekannt; Sarti Antonio aus Bologna hingegen kaum. Das ist schade, denn Kommissar Sarti ist ein aufrechter Mensch ohne theatralische Macken, der seine Stadt bestens kennt und liebt, ohne sich deswegen irgendwelche Illusionen zu machen. Passend zur Feriendestination griff ich für die lange Zugfahrt zu einem der wenigen von Loriano Macchiavellis Sarti-Krimis, die auf Deutsch vorliegen: Unter den Mauern Bolognas. Macchiavelli, soviel wird bald klar, begnügt sich nicht damit, eine Geschichte zu erzählen. Er lässt seinen ausnehmend gesprächigen Erzähler nämlich nach Herzenslust mit dem Leser fachsimpeln und sogar seiner Hauptperson gelegentlich die eine oder andere Idee einflüstern. Das ist etwas prätentiös, gewiss, aber es vermittelt dem Buch jenen gesellschaftlichen und politischen Unterbau, ohne den ein Krimi nur eine simple Detektivgeschichte wäre.

Ein mysteriöser Toter, der an der Battiferro-Schleuse nördlich der Stadt angespült wird, und eine Razzia der Stadtpolizei gegen die illegalen afrikanischen Ramschverkäufer unter den Arkaden, bei der auf den zweiten Blick etwas nicht ganz stimmt, sind die beiden Ausgangspunkte der Geschichte. Dass und wie sie miteinander zu tun haben, ermittelt Sarti auf mühsame und oft unangenehme Weise: Er muss nämlich mehrfach in dunkelster Nacht in das rudimentäre, aber effiziente Netz von Flüssen und Kanälen hinuntersteigen, welches Bologna durchzieht, mittlerweile aber fast durchgehend überdeckt und mehr oder weniger vergessen ist[1]. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass die gesuchten Verbrecher auch noch für ungezählte andere Untaten verantwortlich sind, dass sie sich nicht scheuen, Menschen aus dem Fenster zu stossen und Züge in die Luft zu jagen, sowie dass sie über jeden Schritt Sartis offensichtlich informiert sind, allerdings glücklicherweise meist daneben schiessen. Etwas dick aufgetragen? Etwas sehr dick, finde ich – auch weil Macchiavelli seinen deus ex machina, Sartis Freund, den Schlaumeier Rosas, mehrfach ins Spiel bringen muss, um die Handlung vorwärtszubringen.

Eine wichtige Funktion aber erfüllen die unglaublichen Zusammenhänge: Sie vergrössern das Unbehagen, das den gesamten Krimi durchzieht. Des Erzählers (und seines Kommissars) Liebe zu Bologna ist gross, doch es ist eine desillusionierte Hassliebe zu einer Stadt, die sich als grossartig hinstellt, aber ihre Menschlichkeit längst verloren hat. Dazu passt, dass am Schluss die ausführliche Auflösung fehlt. Freilich, gewisse Leute landen hinter Gittern. Doch wer (wie ich) erwartet hatte, dass die verstreuten Andeutungen und halb ausformulierten Folgerungen nochmals aufgenommen und zusammengefügt werden, wird enttäuscht. Sarti ist ja auch vollauf mit anderem beschäftigt, nämlich mit seiner Francesca! Also hilft nur zurückzublättern und selber zu versuchen, die losen Fäden einigermassen zu verknüpfen.


Technisches: Loriano Macchiavelli, Unter den Mauern von Bologna. Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Sylvia Höfer. München, Serie Piper 2005. ISBN 978-3-492-24543-2. Das Original ist 2002 unter dem Titel „I sotterranei di Bologna“ bei Mondadori in Mailand erschienen (ISBN 978-88-04-5142-9).


[1] Nur im Norden der Altstadt, zwischen Via Oberdan und Via Piella, scheint zwischen zwei Häuserzeilen so etwas wie eine Venedig-Szene auf – falls der Kanal denn Wasser führt…

Freitag, 12. November 2010

Europarekord

Unsere Herbstferien in der Emilia Romagna geben mir den Anstoss, auf eine Falschmeldung hinzuweisen, die sich in und um Bern seit Jahren hartnäckig hält. Ihre Entstehung kann man sich problemlos vorstellen, und zwar etwa so: Jedermann weiss, dass die Lauben eines der wichtigsten und bekanntesten Charakteristika Berns sind. Über sechs Kilometer gedeckte Ladenpassagen! Das ist gewiss ziemlich einmalig! Das ist sicher fast rekordverdächtig – wenn nicht weltweit, so doch sicher in Europa, oder? Bern Tourismus formuliert noch vorsichtig, aber Schweiz Tourismus und die UNESCO-Kommission machen aus den Berner Lauben ohne zu zögern „die längste überdachte Einkaufspromenade Europas“. Und andere schreiben diesen angeblichen Europarekord unbesehen ab.

Liebe Bernerinnen, liebe Berner, liebe Bern-Fans: Ein bisschen weniger Nabelschau, ein bisschen mehr Weitsicht würden euch gelegentlich gut anstehen. Ihr müsstet nicht weiter schauen als bis nach Turin (18 km Arkaden, davon 12,5 km zusammenhängend, sprich auch über Querstrassen hinweg fortgesetzt). Oder eben bis zum fünf Bahnstunden entfernten Bologna: Entlang der rostroten Mauern seines historischen Zentrums ziehen sich 38 Kilometer meist hohe, breite und elegante Arkaden (und weitere neun Kilometer finden sich ausserhalb der Altstadt). Weltrekord – so behauptet man in Bologna. Ob das nun wirklich stimmt? Jedenfalls sollte der Mythos des Berner Europarekords damit deutlich erledigt sein.

Donnerstag, 4. November 2010

Ficus macrophylla

L’arbre von Julie Bertuc(c)elli erzählt die Geschichte einer Familie und eines Baumes. Die Familie O’Neil wohnt einfach und glücklich in der Hügellandschaft von Queensland; hinter ihrem Haus steht ein uralter, breit verzweigter Grossblättriger Feigenbaum. Der Film beginnt mit einem Fertighaus aus Holz, das von Peter O’Neil auf einem Tieflader an seinen Bestimmungsort gefahren wird. Als Peter von dem Transport zurückkehrt, erleidet er einen Herzstillstand; Verlust und Schmerz ziehen in das Haus unter dem Baum ein. Simone, die einzige Tochter und nach eigenem Empfinden des Vaters Lieblingskind, verkriecht sich stunden- und nächtelang auf die Äste des Baumes. Bald ist sie überzeugt, dass ihr Vater aus dem Baum zu ihr spricht. Die kindlich-versponnene Idee ist für Simone beruhigend und tröstlich und hilft auch ihrer Mutter Dawn wieder Tritt im Leben zu fassen. Aber der Baum ist nicht nur Trostquelle. Seine Äste bedrohen das Haus, die wild wuchernden Wurzeln die Nachbarn. Und schliesslich ist es, als ob sich an ihm Widerstrebendes und Unausgesprochenes kristallisiert, bis es kulminiert und sich brachial entlädt. Am Schluss ist wieder gleichsam ein Haus auf Reisen, eines ohne Wände und Dach freilich: Familie O’Neil verlässt ihren Baum, nur mit dem Nötigsten im Kofferraum des Autos, um anderswo neue Wurzeln zu schlagen.

L’arbre ist ein Film wie ein Fotoessay, geprägt durch lange, ruhige Einstellungen und magistral komponierte Bilder: Das Holzhaus, das von einem gigantischen Truck quer durch die Einöde gefahren wird, festlich beleuchtet auf seinem Weg durch die Nacht. Der Blick über die hügelige Ebene am Morgen und am Abend. Und immer wieder die Portraits des uralten, breit verzweigten Baumriesen, seine langen, dick wuchernden Wurzeln, seine kurvigen, fast körperhaften Äste, die Silhouette von Stamm und Zweigen im goldenen Mondlicht. Das langsame Tempo tendiert freilich dazu, das Handeln der Akteure in Richtung Klischeehaftigkeit zu reduzieren. Die grossartige Charlotte Gainsbourg jedoch verkörpert zum Greifen intensiv die abgrundtiefe Leere und verzweifelte Verlorenheit der Dawn O’Neil und dann ihr starkes Erwachen aus der Lethargie.


Technisches: L’arbre lief hier vor einigen Wochen und inzwischen in der Schweiz allenfalls noch vereinzelt. Auch als DVD oder Blu-Ray-Disc scheint der Film zurzeit nicht greifbar zu sein, weswegen mir nur der Link auf die Website bleibt.