Freitag, 17. Februar 2012

Der Adler der neunten Legion

Noch ein Sandalenfilm: Der Adler der neunten Legion; letztes Jahr erst im Kino, mit zwei Hollywood-Jungstars in den Hauptrollen. Bei dieser Ausgangslage, und weil ich die gleichnamige literarische Vorlage von Rosemary Sutcliff aus den fünfziger Jahren in guter Erinnerung hatte, war ich der filmischen Umsetzung gegenüber etwas skeptisch. Zu meiner freudigen Überraschung erwies sich die Skepsis als unnötig. Zwar war die gesamte Pflicht-und-Ehre-Rhetorik etwas schwer zu ertragen: Der junge Zenturio Marcus Aquila übernimmt ein Kommando im Norden Britanniens, dort wo sein Vater vor Jahren mit der neunten Legion aufgerieben worden ist; aus Unerfahrenheit und Nervosität begeht er gleich zu Beginn wider besseren Rat einen Fehler, bügelt diesen jedoch mit überraschend sicherem Instinkt und einer grossen Portion Heroismus wieder aus und endet schwer verletzt auf einem Landgut der Familie im Süden der Insel. Da ist viel Pathos in den kurzen, geschliffenen Reden und reichlich Heldenmut in den Blicken – Amerika halt, bin ich versucht zu sagen.

Der Hauptteil der Geschichte jedoch überzeugt durch die intensive und vielschichtige Beziehung zwischen Marcus und seinem Sklaven Esca. Nach seiner Verletzung ausgemustert und so der Möglichkeit beraubt, die Familienehre wiederherzustellen, beschliesst Marcus nämlich, auf eigene Faust, nur begleitet von Esca, das besetzte Territorium zu verlassen und jenseits des Hadrianswalls nach dem Feldzeichen der neunten Legion zu suchen, welches sein Vater getragen hatte und das seit jener schicksalshaften Niederlage schmählich vermisst wird. Esca verdankt Marcus, der ihn aus der Arena gerettet hat, sein Leben, und ist ihm als Sklave zu bedingungsloser Unterwerfung verpflichtet, aber macht keinen Hehl daraus, dass er alles geben würde für seine Freiheit. Der Römer seinerseits setzt sich entschlossen und selbstbewusst über sämtliche Warnungen hinweg, muss aber bald feststellen, dass es in Wirklichkeit sein orts- und sprachkundiger Sklave ist, der die Fäden in der Hand hat. Das Himmelfahrtskommando der beiden wird so zu einem subtilen Spiel von Vertrauen und Argwohn, von Menschlichkeit und Brutalität, von Verrat und Gewissensbissen, das kulminiert in der Begegnung mit jenem sagenumwobenen Stamm ganz im Norden der Insel, bei dem der Schlüssel des Rätsels liegt, wo aber gleichzeitig die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden.

Wenn sich ein grosser Film dadurch auszeichnet, dass er zentrale menschliche Gefühle, grosse Ängste und wichtige Fragen durchdekliniert, um am konkreten Beispiel Antworten zu finden, dann ist Der Adler der neunten Legion tatsächlich ein grosser Film. Channing Tatum als Marcus Aquila und Jamie Bell als Esca bringen die subtilen Machtspiele, die Nuancen des Vertrauens, die sich entwickelnde Beziehung unaufdringlich und intensiv auf die Leinwand. Auch hier geht es nicht ohne Heroismus, Opferbereitschaft und fröhliches Sterben ab, und über die eine oder andere Inkonsistenz muss man gnädig hinwegsehen. (Weshalb beispielsweise ein Keltenstamm im äussersten Norden Schottlands afrikanische Züge trägt, wissen wohl nur die Götter Hollywoods.) Dafür hält die DVD als besonderen Bonus einen alternativen Schluss bereit, der auf das etwas rechthaberische Pathos des Originals verzichtet, das Konzept der Ehre subtil dekonstruiert und mit einer wunderbar leichten Szene einer grossen Freundschaft abschliesst.


Technisches: Auf Bezugsquellen für die DVD brauche ich den geneigten Leser und die geneigte Leserin kaum extra zu verweisen – dafür vielleicht auf die offiziellen Websites für den Film, auf Deutsch (kurz und bündig) und auf Englisch (ausführlich und reich dokumentiert).

Sonntag, 12. Februar 2012

Lunapark der Irrungen

Ein Winternachtstraum hat Cathy Marston ihre Shakespeare-Adaption für den ersten Berner Ballettabend dieser Saison genannt. Bei der Dernière letzte Woche stimmte das Wetter: In Mantel, Schal und Mütze dick vermummt eilten wir durch Schnee und Kälte ins Stadttheater. Anstelle der leichtfüssig-schwülen Atmosphäre des Sommernachtstraums beherrschte kühle Leere die Bühne. Karussell-Fragmente deuteten einen in Ruinen liegenden Lunapark als Spielort an; ein Maschendrahtzaun sperrte ihn notdürftig ab, ein Schild verbot den Eingang. Da sind ja alle Elemente vorhanden für ein wildes, verbotenes Treiben! Der doppelte Kobold Puck lockt ahnungslose Spaziergänger ins verbotene Land, und in der Kühlschrankatmosphäre kündigt sich Shakespearscher Schalk an.

Der Schalk zieht sich durch das Stück, blitzt immer wieder auf, auch in Requisiten wie den überdimensionierten Badeentchen oder dem ewig auf- und absteigenden Karussellpferd. Doch die Grundstimmung bleibt angespannt, bedrückt. Die amourösen Verwirrungen sind ziemlich schonungslos in Szene gesetzt; die Tanzsprache ist weniger rund und fliessend als bei vielen von Marstons bisherigen Produktionen, vielmehr von Akrobatik, ja Slapstick geprägt; auch Hip-Hop-Moves sind einige zu sehen. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist das Untereinander-durch: Viele Kontakte und Konfrontationen enden damit, dass sich der eine unter dem anderen durchschiebt, auch aus den unmöglichsten Situationen heraus – ein starkes Symbol dafür, dass es hier drunter und drüber geht, oder auf Schweizerdeutsch, dass hier einiges zunderobsi gekehrt wird. Und natürlich die Musik: Gabriel Prokofiev hat die frische, leichte Sommernachtstraum-Musik von Felix Mendelssohn mit seinem eigenen Concerto for Turntables & Orchestra gekreuzt und ergänzt.

Das ist eine explosive Mischung mit einigen Querschlägern. Bis zur Pause kommt wenig Zug auf, und schon gar kein Schwelgen; die Szenen wirken gelegentlich unfertig, die Übergänge sind brüsk. Im zweiten Teil beruhigt sich das wilde Treiben etwas. Auf einmal kriegen die Figuren Zeit, sich miteinander zu beschäftigen; wir sehen ein intensives, langes Duett; die Akrobatik bleibt dominant, wird aber abgerundet. Zum Schluss schwebt auf Kettenkarussell-Sitzen dann auch noch ein Kinderchor über die Bühne, währenddem darunter Hochzeit gefeiert wird.

Es lohnt sich, Gabriel Prokofievs Blogeintrag zur Entstehungsgeschichte dieser Produktion zu lesen. Dabei wird klar, wie sehr Cathy Marston die Meisterschaft hat, ganz verschiedene Inputs und Ideen zusammenzubringen, in ihrem Kopf Bilder zu sehen, Musik zu hören und beides zu kombinieren; und wie sie diese Mischung dann mit richtigen Menschen, mit dem Bern:Ballett, dem Berner Sinfonieorchester, dem DJ Martin Baumgartner, dem Damen- und Kinderchor, Realität zu werden vermag.


Technisches: Da wir an der Dernière waren, kommt dieser Blogpost zu spät für allfällige Nachahmung. Für einen schwachen Nachklang verweise ich wieder auf den Trailer bei art-tv; für weitere Lektüre neben dem bereits Verlinkten auf die Kritik von Marianne Mühlemann im Bund.

Freitag, 3. Februar 2012

Die Unberührbaren

Dieser Plot liess Kitsch und Klischees befürchten: Schwerreicher Tetraplegiker in Pariser Stadtvilla engagiert Schwarzen aus der Banlieue als persönlichen Pfleger und Assistenten. Tatsächlich hakt Intouchables von Eric Toledano und Olivier Nakache, der aktuelle Erfolgsfilm aus Frankreich, scheinbar unvermeidlich die Szenen ab, die diese Konstellation nahelegt: Der Senegalese Driss (Omar Sy) macht noch beim Bewerbungsgespräch die hübsche Assistentin von Philippe (François Cluzet) an, mokiert sich über zeitgenössische Kunst und die Preise, die dafür bezahlt werden, kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen über die Absurdie der Oper und beschwert sich im Restaurant Les Deux Magots darüber, dass der fondant au chocolat nicht genügend gebacken ist. Doch da ist auch dieser atemberaubende Vorgriff auf das Ende der Geschichte im Vorspann: Driss und Philippe jagen im Maserati über die Stadtautobahn, überholen hupend links und rechts, sticheln und lachen, amüsieren sich köstlich – und als sie gestellt werden, als zwei Polizisten den vorbestraften Driss vom Steuer zerren, da rettet ihn Philippe mit einem strategisch platzierten und meisterhaft simulierten Erstickungsanfall.

Intouchables ist die Geschichte einer Freundschaft, und eine Freundschaft wächst doch aus initialer Sympathie und gegenseitigem Entdecken. Letzteres ist zwischen zwei Studienkollegen natürlich einfacher und kürzer als es zwischen Banlieue-Kid und Grossbürger sein kann. Da sind etliche Mauern mehr niederzureissen und zu überwinden; mehr Eigenes muss in Frage gestellt und mehr Fremdes akzeptiert werden, und wer solches tut, tappt ganz unweigerlich in etliche Fettnäpfchen. Man sollte sich hüten, da vorschnell Kitsch und Rassismus zu denunzieren, denn die Klischees werden durchaus dekonstruiert. Wenn Driss in Meisterwerken der klassischen Musik Werbejingles und Telefon-Wartemusik wiedererkennt, ist das weniger ein Lächerlichmachen des ungebildeten Schwarzen als vielmehr eine pointierte Kritik am Missbrauch von Kunst für Kommerz. Und wenn der persönliche Assistent sich selber ans Malen macht und Philippe es fertig bringt, für ein (zugegebenermassen überraschend grossartiges) Bild von ihm bei einem seiner Galeristenfreunde zehn Tausender zu kassieren, wird das Wertesystem der zeitgenössischen Kunst sowohl demaskiert als auch bestätigt.

Spannender scheint mir freilich die initiale Sympathie zwischen den beiden Protagonisten. Philippe erklärt sie in einer der stärksten Szenen einem besorgten Freund, der ihn auf Driss‘ kriminelle Vergangenheit hinweist und ihn warnt, die Leute aus der Banlieue würden kein Mitleid kennen: Eben, entgegnet Philippe, genau darum geht es. Endlich einer, der kein Mitleid hat; der nicht auf Zehenspitzen durchs Haus schleicht, um mich Armen ja nicht zu stören; der mir das Handy reicht und dabei vergisst, dass er mir es ans Ohr halten müsste; der mich mit flapsigen Bemerkungen neckt, wie es normale Menschen untereinander tun. Oder eben auch: der sich rundweg weigert, den Gelähmten wie ein sperriges Gepäckstück im Laderaum eines Kleintransporters zu befördern, wenn doch daneben ein funkelnder Maserati steht. Ich glaube, dass sich beide gegenseitig als intouchables, als Parias erkennen, und dass deshalb eine Solidarität zwischen ihnen da ist und wachsen kann.

So passiert mit der Zeit, was Freundschaft eben ausmacht: Die Fassaden kriegen Risse, und die Menschen kommen zum Vorschein. Philippe kultiviert weniger sein zu Sarkasmus sublimiertes Selbstmitleid, Driss löst sich aus dem Gehabe des unverstandenen Rebellen. Dabei bringt jeder den anderen andauernd an seine Grenzen und stösst ihn noch einen halben Meter darüber. Jeder Schritt kostet die beiden sichtbare Überwindung, die Beziehung balanciert die längste Zeit auf dem schmalen Grat zwischen Verständnis und Überforderung, und der Zuschauer befürchtet fast ständig, dass der eine oder der andere explodiert und das diffizile Gleichgewicht in die Luft jagt. Daraus bezieht der Film seine Stärke. Er kulminiert in einer langen, wunderschönen und leicht surrealen letzten Szene, in der sich Philippe und Driss nochmals alles abfordern und sich gewissermassen gegenseitig in die Freiheit schubsen.


Technisches: Intouchables hat in Frankreich fast alle Rekorde geschlagen und läuft zurzeit flächendeckend in den Schweizer Kinos (Deutscher Titel: Ziemlich beste Freunde). Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, die zuvor als Buch erschienen ist: Philippe Pozzo di Borgo, Le Second Souffle. Paris, Bayard éditions 2001 (Neuausgabe 2011). ISBN 978-2-227-48337-8.