Samstag, 30. Oktober 2010

Griechische Geschichte

Von meinem Neujahrsvorsatz, mich anhand einiger Standardwerke aus meiner Bibliothek wieder etwas tiefer in diejenige Materie einzulesen, die mir einmal die vertrauteste von allen war, bin ich auch gegen Ende Jahr immer noch überzeugt. Immerhin hat das wenige, was ich bisher in dieser Hinsicht unternommen habe, bereits zu einer ersten Stabilisierung des bedrohlich wankenden Wissensgebäudes geführt – wenigstens im Bereich der Archäologie. Als ich aber kürzlich Erich Bayers Griechische Geschichte in Grundzügen in Angriff nahm, kam als erstes der leise Verdacht auf, dass diese, obwohl ein Standardwerk, vielleicht ihr Verfalldatum schon überschritten haben könnte: Das Buch ist in erster Auflage 1964 erschienen, mein Exemplar der sechsten Auflage enthält den überarbeiteten Text von 1978, und es wird schnell klar, dass hier ein Historiograph am Werk ist, der in gelehrter, literarischer Sprache Geschichte erzählt, der sich nicht scheut, zu gewichten und auch gelegentlich zu werten. Meine Zweifel kulminierten im letzten Abschnitt der Einleitung, wo Bayer bekennt:

Um ihrer Kunst, ihrer Literatur und Philosophie willen gehört den Griechen unser Herz; ihre Geschichte dagegen empfinden wir als verwirrend und unbefriedigend.

Welche ist das denn nicht?, fragte ich mich, und blätterte nur zögernd weiter. Nach der Lektüre muss ich aber gestehen, dass ich dem Autor im Voraus Unrecht getan habe. Natürlich erzählt er mit grossem Gestus und gewichtet er (trotz gegenteiliger Ankündigung auf dem Umschlag) sehr klassisch, doch sein Einführungswerk hat einen unschätzbaren Vorteil: Es gelingt ihm von seinem magistralen Standpunkt aus, jeweils die Hauptlinien und die wesentlichen Fragestellungen zu jeder Epoche herauszuschälen. Das bedeutet immer eine einschneidende Reduktion mit dem Verzicht auf sehr vieles; gleichzeitig wird für den Übersicht Suchenden ein reduziertes, stabiles Gerüst errichtet – und das ist ja genau, was ich will. So behandelt Bayer die ägäische Bronzezeit bis in die „Dunklen Jahrhunderte“ hinein zwar sehr summarisch, streicht aber die Bedeutung der Überbevölkerung, der fehlenden Ressourcen und der dadurch ausgelösten Wanderungsbewegungen heraus. So identifiziert er für die archaische Zeit als Hauptthema die Ablösung der Adelsherrschaft durch neue Formen politischer Machtverteilung, die vielerorts in sehr verfeinerte demokratische Systeme mündeten. Gleichzeitig rückt er die Grosse Kolonisation ins Scheinwerferlicht und zeigt die Bezüge zu den politischen Umwälzungen und zu den älteren Unternehmungen gleicher Art auf. Oder, als letztes Beispiel: Die zwanzig Seiten zur hellenistischen Welt spielen fast ohne Ausnahme in Kleinasien und an der Levante, deutlicher Ausdruck des Falls in die Bedeutungslosigkeit, den das griechische Mutterland bis dahin getan hatte.

Aus der Struktur des Buches, der Gewichtung und dem Erzählduktus spricht etwas sehr Altmodisches: die Liebe des Autors zu den Akteuren seines Stoffes. Diese so deutlich zu zeigen, ist in der historischen Literatur unserer Zeit eher verpönt. Sie erinnert hier aber an den Grund, weshalb wir uns heute überhaupt noch mit dem antiken Griechenland beschäftigen: Weil eben während langer Zeit viele gelehrte Menschen nicht nur ein abstrakt-wissenschaftliches Interesse an diesem Thema hatten, sondern die alten Griechen liebten, sie als Vorbilder verstanden und ihnen nachzueifern trachteten.


Technisches: Erich Bayer, Griechische Geschichte in Grundzügen (Grundzüge, Band 1). Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 61988. Vergriffen.

Freitag, 15. Oktober 2010

Buzzword Bingo

Der Typus des Do-it-yourself-Pawlowschen-Hundes ist in der Politik nicht selten: Der identifiziert mit mehr oder weniger Aufwand einen (angeblichen) Missstand, klebt ein eingängiges Schlagwort drauf – und kann dann nach Herzenslust darauf reagieren. Wer sich jedoch in dieser praktischen Weise seine Reize gleich selber kreiert, muss aufpassen, dass ihm der Schaum vor dem Mund nicht die Perspektiven verzerrt. In seinem wöchentlichen Buzzword Bingo in der Weltwoche nahm Christoph Mörgeli neulich eine abtretende Kollegin ins Visier und schrieb: „Frau Amacker verlässt das staatlich kontrollierte Parlament und wechselt zur staatlich kontrollierten Swisscom.“ Soviel Ideologie tut mir schon fast körperlich weh. Als Selbstmedikation ein Hinweis und ein (frommer) Wunsch: Das Parlament ist nicht staatlich kontrolliert, sondern konstituierender Teil des Staates; und kontrolliert wird es vom Volk mittels Wahlen. Mögen die Zürcher Stimmberechtigten diese Kontrollfunktion in einem Jahr mit Augenmass ausüben!

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Tamara Drewe

Welch ideales Setting für eine Komödie: ein Writers’ Retreat, ein Literatengästehaus im sehr ländlichen Dorset inklusive Garten und Kleintieren, wo sich völlig ungezwungen ein ganzes Panoptikum der absonderlichen Gestalten die Ehre gibt. Ein buntes Grüppchen mehr oder minder erfolgreicher Autorinnen und Autoren zieht sich zu einer kreativen Auszeit aufs Land zurück, darunter der ewig grübelnde und unentschlossene Literaturprofessor Glen, der sein Hauptwerk über Thomas Hardy einfach nicht auf die Reihe bringt. Um all diesen im Scheitern begriffenen Existenzen kümmert sich mit scones und Kuchen liebevoll und fürsorglich die verhärmte Beth Hardiment, währenddem ihr Ehemann Nicholas als spiritus rector diesen kreativen Zufallshaufen mit grosser Geste zusammenhält. Er tut dies als erfolgreicher Autor minderwertiger Krimis, überzeugt jedoch weit mehr noch als begnadeter Herzensbrecher sowie besonders als Schauspieler, wenn er alle halblang seiner Gattin herzlich empfundene Reue vorspielen muss, weil sie ihn wieder einmal wegen einer Affäre mit einer Jungautorin aus dem Haus schmeissen will. Als zusätzliches und namensgebendes Ingredient taucht in dieser fragilen Idylle dann das ehemalige hässliche Entlein des Dorfes auf, das sich inzwischen die Nase richten liess, beruflichen Erfolg errungen hat und auch sonst eine blendende Figur macht: Gemma „Strawberry Fields“ Arterton als Tamara Drewe. Wie sie nun scheinbar unschuldig und mit endlosen Beinen ins Dorf ihrer Jugend zurückkehrt, sorgt sie für den allgemeinen Hormonschub, der um sie herum einen zünftigen Wirbelsturm auslöst. Weitere Protagonisten darin sind ihr Schulschatz, ihre neue Affäre (ein direkt dem Versandkatalog für bewusstseinserweiternde Substanzen entsprungener Rockmusiker) sowie zwei Girlies, deren Begeisterung für ebendiesen glutäugigen Drummer die Intrigen weiter verkompliziert und gleichzeitig vorwärts bringt. Da wird hemmungslos geflunkert und getäuscht, da fliegen Pfannen und Blumentöpfe, da hüpft man in verschiedenen Konstellationen und mit ganz unterschiedlichen Motiven miteinander ins Bett.

Die Vorlage für Tamara Drewe, den neusten Film von Altmeister Stephen Frears, ist die graphic novel (mehr novel als graphic, um genau zu sein) gleichen Namens von Posy Simmonds. Drehbuchautorin Moira Buffini hat der sarkastisch-tiefsinnigen Geschichte einen Dreh ins Absurd-Komische gegeben, hat zusätzlich Tempo, Witz und eine gewisse Leichtigkeit hineingebracht sowie die literarischen Anspielungen an Thomas Hardys Far from the Madding Crowd multipliziert (auf die ich wegen mangelhafter Kenntnisse der englischen Literatur hier nicht näher eingehe). Auch ist das Ende weniger blutig, aber – schliesslich ist dies eine britische Komödie – noch immer makaber genug. Irgendwann schnallt dann auch Tamara Drewe, was sie in ihrer Naivität ringsum so alles angerichtet hat. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss sie sich freilich ausgerechnet und relativ lange mit dem Hauptmiesling des Films einlassen. Ist es Rache? Ist es Arglosigkeit? Die Kollateralschäden sind gross, doch am Schluss kriegt jeder, was ihm zusteht – oder, genauer, wird sich seiner eigentlichen Wünsche und Träume (wieder) bewusst und hört auf, die falschen Ziele zu verfolgen. Sogar die gestressten Kühe beruhigen sich wieder, und so wird alles gut.


Technisches: Tamara Drewe ist ab heute in den Deutschschweizer Kinos zu sehen. Die Buchvorlage erschien auf Englisch bei Jonathan Cape (ISBN 978-0-2240-7817-7), auf Deutsch bei Reprodukt (ISBN 978-3-941099-31-9).

Freitag, 1. Oktober 2010

Schiffslektüre

In Astypalaia, einige Tage vor Ferienende, war Matutin ausgelesen – obwohl ich die kostbare Lektüre grosszügig mit Sudokus gestreckt hatte. Glücklicherweise gibt es auf dieser wunderschönen Insel unter dem Wind eine Gemischtwarenhandlung, die diesen Namen noch verdient. Vor der Käsevitrine und gleich neben dem Waschmittelregal steht da nämlich ein kleines Gestell mit einem äusserst faszinierenden Buchsortiment: nicht die übliche Kioskauswahl von Bestsellern und Kitschromanen, sondern echte Literatur, vermischt sogar mit ein paar Bänden Poesie. Das kam für mich wie gerufen und war Grund genug, endlich mal ein Werk von Nikos Kavvadias in Angriff zu nehmen: Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη (Das Tagebuch eines Steuermannes), eine Sammlung seiner frühen, verstreut erschienenen Prosa und Poesie.

Bei wenigen anderen Autoren ist die Einheit von Leben und Werk so ausgeprägt wie bei Kavvadias. Er schiffte sich gleich nach der Schule als Leichtmatrose ein, arbeitete sich hoch, befuhr dann nach dem Zweiten Weltkrieg drei Jahrzehnte lang als Funker die Weltmeere, starb kurz nach der Pensionierung, als hätte er das Festland nicht ertragen; und er schrieb über die Seefahrt, über Matrosen und Dirnen, über ferne Länder und grosse Häfen, über Fernweh und Verlorenheit. Sein (sehr übersichtliches) Werk beschreibt also sein Leben, sein Leben ist gleichsam der Kommentar zu seinem Werk. Und dies gilt von allem Anfang an, schon in seinen allerersten, in diesem Band versammelten Prosastücken.

Freilich ist es etwas speziell, von einem Autor als erstes ausgerechnet das Früh-, ja Jugendwerk zu lesen. Spannend ist es, die Entwicklung nachzuvollziehen. Kavvadias’ erste Gedichte sind noch reichlich ungelenk, Teenagerlyrik gewissermassen, aber bald werden sie formal stringenter und inhaltlich komplexer – so das dichte, düstere Kasbah über eine rätselhafte arabische Prostituierte. Die kurzen, novellenhaften Stücke ihrerseits umkreisen von allen Seiten des Dichters Lebensthema, evozieren Angst und Einsamkeit in den Weiten des Pazifik, schildern mit sehnsüchtiger Faszination mythische Städte und Inseln und spinnen unverhohlen Seemannsgarn. Die kurze, teils fragmentarische Form lässt allerdings nicht mehr als ein skizzenhaftes Andeuten zu, was gelegentlich etwas klischeehaft oder prätentiös wirkt. Bei der Einordnung dieser Lektüre helfen würden wohl Kavvadias spätere Schriften, und es wäre jetzt sicher mit Gewinn sein Hauptwerk in Angriff zu nehmen, die Novelle Βάρδια (Die Wache). Auf der nächsten Fähre, vielleicht.


Technisches: Νίκος Καββαδίας, Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη. Αθησαύριστα πεζογραφήματα και ποιήματα. Athen, Agra 32009. ISBN 978-960-325-609-0. Auf Deutsch ist von Kavvadias bisher nur (anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2001) „Die Wache“ erschienen (Berlin, Alexander Fest 2001, ISBN 3-8286-0168-5 – zurzeit offenbar leider vergriffen).