Montag, 28. Juni 2010

Il était une fois

Mit etlicher Verspätung nachzutragen ist ein Bericht über das vierte Festival international du conte de Fribourg, das Anfangs Mai unter dem Titel Il était une fois ein gutes Dutzend Erzählerinnen und Erzähler aus der ganzen frankophonen Welt in unserer kleinen Stadt versammelte. Was eine Geschichte ist, weiss ich natürlich – auch ich habe als Kind unzählige Geschichten in allen möglichen Varianten, von Eltern, Grossmutter und älteren Nachbarskindern erzählt gekriegt. Aber Geschichtenerzählen als Kunstform? Das ist für mich immer noch etwas Unerhörtes, Unvertrautes, und das entsprechende Festival deshalb eine Art Wundertüte und Gelegenheit zu einer doppelten Entdeckung: der Kunstform als solcher und der konkreten Geschichtenerzählerin.

Am diesjährigen Festival du conte habe ich die SexotiquieS, die maghrebinischen Geschichten der Algerierin Néfissa Bénouniche gesehen und gehört: Das Märchen von der Menschenfresserin und ihrer Adoptivtochter und den köstlichen Schwank (wenn ich das so sagen darf) von der Königin der Fürze. Bénouniche ist ursprünglich Architektin und Schmuckdesignerin; jetzt baut sie kunstvolle Geschichtengebäude und formt fein ziselierte Sprachschmuckstücke. Dabei präsentiert sich ein solcher Abend tatsächlich genau so, wie man sich als Laie das vorstellt: Die Bühne ist bis auf einen mal weissen, mal farbigen Lichtkegel leer; dann erscheint die Erzählerin – und nur mit ihrer Stimme, einigen gesungenen Tönen und sparsamen Gesten lässt sie ihre märchenhaften Figuren, ihre ganze Fantasiewelt vor uns und in uns entstehen. Freilich: Die Stimme ist wohlklingend, anziehend, einlullend; die Melodien und Gesten sind bewusst gesetzt; und das einfache Setting und die stete Interaktion mit dem Publikum verhüllen nur oberflächlich, dass die ganze Performance durchgegliedert und choreografiert ist. Das bemerkt man zwar, wenn man sich darauf konzentriert – man kann aber auch einfach den kritischen Verstand ausschalten und sich ganz kindlich, wie früher, der Magie der Geschichten übergeben, kann gebannt lauschen und befreit lachen, mitbibbern und sich amüsieren.


Technisches: In der Presse wurden die Verantwortlichen nach dem diesjährigen Festival mit besorgten Worten zitiert: Trotz grossem Publikumszuspruch klaffte ein Loch in der Kasse, von dem mindestens damals noch nicht klar war, wer es stopfen würde. Nichtsdestotrotz wird auf der Website des Festivals bereits die nächste Ausgabe beworben. Geschichtenfans können sich also die Woche vom 9. bis am 15. Mai in ihrer Agenda für 2011 bereits rot markieren.

Freitag, 18. Juni 2010

Noch nicht die Hälfte ists der Not

Das erste erhaltene Theaterstück der Geschichte, AischylosPerser, ist auch ein Antikriegsstück. Im Zentrum der Interpretation steht zwar in der Regel die Hybris des Xerxes und ihre Bestrafung: sein hochfliegender Übermut und tiefer Fall. Aber mit dem Fokus auf die Unterlegenen des Feldzuges, mit der ausführlichen Darstellung ihrer Verzweiflung und mit der schonungslos realistischen Beschreibung der Seeschlacht von Salamis formuliert Aischylos, selbst einer der Sieger, deutlich wahrnehmbar seine Abscheu vor der Brutalität und dem Leiden im Krieg.

In ihrer Bearbeitung für das Theater an der Effingerstrasse haben Norbert Klaassen und Peter Jecklin diesen Aspekt in den Vordergrund gerückt. Sie haben dazu die zeitliche Perspektive gewechselt: Wo bei Aischylos das Wesentliche der Handlung und Deutung in langen retrospektiven Reden und Wortwechseln berichtet und reflektiert wird, rücken sie es in die Gegenwart der Szene. Dazu mussten sie den überlieferten Text radikal kürzen, passagenweise neu formulieren und ausführlich ergänzen. Der geschlagen zurückkehrende Xerxes ist nun nicht die klagende tragische Figur, sondern bleibt auch in der Niederlage der Kriegstreiber: Kinder und Greise ruft er zum letzten Verzweiflungskampf um die Hauptstadt auf; Lehren aus der Niederlage mag er keine ziehen und nicht Rat noch Bitte hören. Seine Verblendung ist durch Salamis nicht geheilt, sondern vielmehr noch intensiviert; der Zug gegen Athen war erst das Vorspiel zum Gipfel seines Wütens.

Von Aischylos war da ausser dem Schlachtbericht nur noch wenig zu hören. Der gleichzeitig archaisierende und moderne Text von Klaassen und Jecklin bleibt dem Original aber im Duktus treu: Das Versmass ist gewahrt, die Sprache sperrig, aber von grosser Schönheit und durchsetzt mit vielen kräftig geschnitzten, präzisen Formulierungen. Diesen schwierigen Text haben Aaron Frederik Defant, Andrea Gloggner, David Imhoof, Peter Jecklin, Johannes Karl, Armin Köstler und Jesko Stubbe souverän und verständlich auf die Bühne gebracht, wobei sie besonders in den leisen Passagen überzeugt haben – in den düsteren Eingangsworten der Atossa, im langsamen, schaurigen Crescendo des Botenberichts. Dass Regisseur Jecklin fast alle Schauspieler in diese schrillen, comicartigen mexikanischen Wrestling-Masken steckt, ist zwar etwas gar dick aufgetragen, funktioniert aber gleichwohl auf mehreren Ebenen. Die Masken selber verweisen natürlich auf ihre Vorbilder in den antiken Theateraufführungen, und durch ihr Ablegen und Wiederaufsetzen verdeutlichen die Figuren den Widerspruch zwischen ihrer öffentlichen Persona und ihren inneren Gefühlen und Ängsten. Zudem habe ich die Masken aber auch als Kommentar des Regisseurs zum fundamentalen Missverständnis der Kriegstreiber jeder Epoche gelesen: Krieg als Wettkampf, Krieg als Spiel.

Ich habe es hier auch schon gesagt: Griechische Tragödien haben eigentlich gar keine Aktualisierung nötig; sie handeln (bei aller Fremdheit) immer von den Menschen – und die sind ja, wie Erich Kästner wusste, „noch immer die alten Affen“. Norbert Klaassen und Peter Jecklin haben zum Saisonschluss an der Effingerstrasse aber gezeigt, welches zusätzliches Potential in den alten Geschichten liegt, wenn sie mutig und mit sicherer Hand weitergeschrieben werden.


Technisches: Die Perser stehen an der Effingerstrasse noch bis am 1. Juli fast täglich auf dem Programm. Falls es noch nicht klar geworden sein sollte: Der Besuch lohnt sich! Ähnlich begeistert wie ich war Fritz Vollenweider in seinem Bericht auf seniorweb.ch.

Freitag, 4. Juni 2010

Tragische Helden im Emmental

Es fällt mir ausserordentlich schwer, Gotthelf zu besprechen. Auf einer Bahnreise habe ich kürzlich seine beiden Erzählungen Elsi, die seltsame Magd und Der Besenbinder von Rychiswyl gelesen. Da scheint alles so klar, so geordnet. Ein jeder hat seinen Platz, ein jeder weiss, was ihn erwartet, und wer darüber hinaus etwas will, wird scheitern. Und ich sitze vor diesen Geschichten und schaffe es nicht, die Schale der guten Ordnung zu knacken und hinter die Kulissen dieser Welt zu sehen.

Vielleicht hilft eine Anleihe bei der klassischen Philologie. In der griechischen Tragödie gibt es neben dem bekannten tragischen Konflikt, wo eine Figur zum Helden, zur Heldin wird, indem sie sich dem Unausweichlichen stellt und im Entscheid für eine Handlung aktiv den eigenen Untergang betreibt, auch eine Variante, bei der das Augenmerk auf dem Verhältnis einer Figur zu ihrer Rolle liegt. Tragische Heldinnen bewegen sich in einem ähnlich rigiden Rahmen wie Gotthelfs Protagonistinnen. Das rechte Mass ist wichtig, das nicht überschritten werden darf; gleichzeitig wird auch immer wieder gezeigt (man denke an Klytaimnestra oder Medea) wie eine Person verletzt und heruntergesetzt wird, welcher den ihr gebührenden Freiraum nicht zugestanden bekommt. An den Überschreitungen oder Beschneidungen des Rahmens entzündet sich dann der Konflikt.

Es könnte sich bei Gotthelf also lohnen, genauer auf diese Grenzen zu achten und zu analysieren, welchen Spielraum die Figuren in ihrem Rahmen haben, wie sie ihn ausnützen und wo der Erzähler, dieser Vertreter der guten Ordnung, wertend einschreitet. Und da sehen wir in Elsi, der seltsamen Magd, eine Person, die sich den Einschränkungen ihres Handlungsrahmens zu entziehen sucht, indem sie ihre Arbeitspflichten treu und arbeitsam übererfüllt, in der Hoffnung, dafür in den ungeschriebenen Verpflichtungen des Privatlebens Freiheit zu finden. Die Erzählung fokussiert aber gnadenlos darauf, dass das nicht möglich ist. Die Schranken, die einer Magd gesteckt sind, beschränken sich nicht auf ihre Arbeit; sie umfassen auch ihren Anteil am gesellschaftlichen Leben. Insbesondere wird unbedingte Dankbarkeit gegenüber den Avancen eines Höhergestellten erwartet. Dass Elsi, von ihrem geheim gehaltenen Vorleben zusehends tyrannisiert, sich diesen zu entziehen sucht, macht sie zur tragischen Heldin.

Ein Vorbild für das Leben gemäss seinen Massstäben ist hingegen Hansli, der Besenbinder von Rychiswyl. Der ist die Emmentaler Version von Forrest Gump, die da lautet: Wenn du fleissig bist, die Arbeit nicht scheust, daneben bescheiden bleibst, freundlich bist zu den Leuten und gottesfürchtig, dann machst du deinen Weg. So lernt der Sohn einer armen Witwe das Besenbinden, entwickelt darin auch reichlich Geschick, und baut sich mit der Qualität seiner Ware und seinem gewinnenden Wesen Haus für Haus eine treue Kundschaft auf. Bald baut er sich einen Karren, kauft der Mutter ein neues Bett und sich selber anständige Kleidung, gewinnt eine vierschrötige, aber fleissige Frau, zeugt mit ihr eine Schar braver Kinder – und als zum Schluss das himmlische Manna in Form einer grossen Erbschaft auf ihn niederfällt, ist er selbstverständlich aufrecht genug, sich auch dadurch nicht korrumpieren zu lassen. Charmant dabei ist, dass bisweilen ein gewisser Minimalismus durchschimmert und der brave Hansli dann einen Anstoss von aussen nötig hat: Die Idee mit dem Besenbinden kommt vom Bauern, bei dem er wohnt; und der muss ihm auch mit kräftigen Worten beibringen, dass ein Mann seines Standes ja nicht etwa einen Karren zu kaufen gedenke; selber bauen solle er ihn! Wieder ist die Botschaft klar: Der Spielraum ist eng beschränkt, das rechtschaffene Leben ähnelt einem Gang auf dem hohen Seil.

Immerhin kommen dem Hansli sein Humor und seine träfe Art nicht abhanden. Am schönsten zeigen sich beide, als es ums Weiben geht. Der dazugehörige Dialog mit seiner Mutter ist voll feinster Komik und soll hier abschliessend zitiert werden. Um der alten Frau schonend beizubringen, dass er sich in eine Marktbekanntschaft verguckt hat, erwähnt Hansli beiläufig, dass sein Karren immer schwerer zu stossen sei. Die überaus praktisch veranlagte Mutter schlägt den Kauf eines Eseleins vor. Ihr Sohn äussert jedoch Bedenken bei so einem störrischen Tier und bringt nun seinen Alternativvorschlag vor:

„Nein, aber Mutter, ich hatte an eine Frau gedacht, was sagt Ihr dazu?“
„Aber Hansli, warum nicht lieber an eine Geiss oder an einen Esel, was dir nicht zSinn kommt! Was willst mit einer Frau machen?“
„He, Mutter, öppe was ein anderer…“


Technisches: Jeremias Gotthelf: Elsi, die seltsame Magd. Der Besenbinder von Rychiswyl. Stuttgart, Reclam 1995 (und seither sicher noch mehrmals). ISBN 3-15-007747-8. Und ja, Gotthelf ist auch online und kostenfrei beim Projekt Gutenberg zugänglich: Elsi, die seltsame Magd bzw. Der Besenbinder von Rychiswyl.

[UPDATE: Links zum Projekt Gutenberg angepasst.]