Donnerstag, 10. Dezember 2009

Bürger in dem Lande Theben! Sehet, dieser Ödipus…

Neben Jocaste Reine wird im Théâtre des Osses auch das leuchtende Vorbild gegeben, die Matrize gewissermassen, von der Nancy Hustons Drama ein weiterführender Abdruck ist: Sophokles’ König Ödipus. Ich bin auch nach Jahren noch jedes Mal wieder absolut hingerissen von diesem Stück: von der Raffinesse, mit der Sophokles einen komplexen und vielgegliederten Mythos in knapp anderthalb Stunden kulminieren lässt; von seiner Dramaturgie, die diese Kulmination in absolut logischer Folge sich entwickeln lässt; von der Meisterschaft, hinter dem kriminalistischen Plot einen Reichtum des Stoffes, der Anspielungen und der Deutungsansätze zu entfalten. Die Inszenierung von Gisèle Sallin schält die Nervosität des Ödipus heraus: René-Claude Emery kommt zwar zu Beginn ganz königlich daher, aber wir merken nach wenigen Minuten, dass es in seinen Adern brodelt; und schon bald bricht es lautstark aus ihm hinaus. Emery schreit viel an diesem Abend, vielleicht etwas zu viel, aber es ist eine nackte, kaum gebändigte Verzweiflung, die sich so bemerkbar macht. Seine ungeklärte Herkunft verfolgt den König viel mehr, als er das möchte. Deshalb wohl rückt er seine Intelligenz immer eine Nuance zu stark in den Vordergrund – gerade so, dass wir merken, wie sehr er sie braucht, um an ihr seine Person aufzurichten. Die übrigen Figuren, fast nur Statisten in dieser Spürjagd eines Getriebenen, sehen aus wie Lumpensammler in ihren zusammengeflickten, wild kombinierten Kleidern. Alles ist erdfarben; eine feine Staubschicht legt sich über Gesichter, Körper, Kleider und die ganze schlichte, fast nackte Bühne: Theben ist im Ausnahmezustand, die Pest schlägt Stadt und Bewohner nieder. Leiden und Erschöpfung bilden den Hintergrund dieser Geschichte, in den sich je länger, desto mehr das blanke Entsetzen mischt. In einem ausführlichen, für uns Heutige nach der intensiven Dramatik des ersten Teils überlangen Trauergesang beweint Ödipus zusammen mit dem Chor sein grausames Schicksal. Ganz am Schluss dringt durch das Elend sichtbar das Leben durch. Schweiss und Wärme und Hauch haben da und dort einen Flecken Staub von den Gesichtern abgewaschen. Die Lähmung fällt ab, die göttliche Ordnung ist wieder hergestellt. Auch das gehört zu diesem Stück, gehört ganz wesentlich zu Sophokles.

Oedipe Roi zu sehen, bedeutet wahrhaftig – in Aristoteles’ WortenMit-Leiden und In-Schrecken-versetzt-Werden. Mit-Leiden mit dem grossen Geschlagenen Ödipus, der von sich selber später sagen wird: „Ich habe meine Taten mehr erlitten als verübt.“ In-Schrecken-versetzt-Werden durch das brutale Scheitern jenes so ur-menschlichen Bedürfnisses des Wissen-Wollens, des Erklären-Wollens, des Verstehen-Wollens um jeden Preis. Denn damit geht die Selbstüberschätzung einher, die Verabsolutierung der menschlichen Intelligenz. Das ist die Aktualität dieser Tragödie, die über das Theben des Mythos, über das Athen des 5. Jahrhunderts weit hinausgeht und den Menschen so lange betreffen und erschüttern wird, wie ihm dieses Menschliche eigen ist.


Technisches: Wer sich beeilt, schafft es gerade noch, Oedipe Roi im Studio des Théâtre des Osses in einer Zusatzaufführung zu sehen.

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