Beim traurigen Totalausverkauf in der Buchhandlung Lindwurm Anfang Jahr bin ich auf das Buch Unglaubliche Wissenschaft von Lewis Wolpert gestossen und habe es gekauft – auch als Andenken an den Laden, in dem ich während Jahren meinen Bedarf an wissenschaftlicher Literatur gedeckt hatte. Wolpert ist Entwicklungsbiologe und Wissenschaftsphilosoph. Sein Buch geht von der Feststellung aus, dass viele, auch durchaus intelligente Menschen grosse Mühe haben mit Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist kein Zufall, sagt Wolpert. Entgegen der verbreiteten Meinung hat Wissenschaft mit Common Sense, mit Intuition und gesundem Menschenverstand wenig zu tun. Vielmehr laufen viele naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Erklärungen dem gesunden Menschenverstand geradezu zuwider. Dieser spielt jedoch im Bereich der Technik und der Erfindungen eine grosse Rolle, die – wiederum entgegen der in Zeitschriftentiteln und anderswo perpetuierten Meinung – mit Wissenschaft ihrerseits oft nichts zu tun haben. Oder genauer: Um ein technisches Problem zu lösen, muss ich die Physik oder Chemie dahinter nicht verstehen; es reicht, wenn die Lösung funktioniert. Entsprechend wurden viele wichtige Erfindungen von ausgesprochenen Praktikern gemacht; ihre Arbeitsweise hat mit Wissenschaft wenig zu tun.
Ausgehend von dieser Beobachtung führt Wolpert dann durch einen hochstehenden und leicht lesbaren Rundgang durch die Geschichte, Soziologie und Methodik der Wissenschaft; durch ihre Entstehung im Ionien des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, durch ihre konstituierenden Elemente wie Kreativität und Konkurrenz, aber auch an ihre Grenzen. Mit dem Paradox des Einstiegs hat er mich leicht gekapert und dann magistral mitgenommen. Ich recycliere gerne eine Formel, die hier auch schon gefallen ist, die vom „Katalysator fragmentierten Halbwissens“: Der in Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Wissenschaftsphilosophie gymnasial grundgebildete Leser erhält von Wolpert einen Überblick über das Wesen der Wissenschaft, der ihn gezielt abholt, dabei aber nicht als Handbuch auftritt, sondern vielmehr als hochgelehrte Causerie (der Ursprung als Vorlesung ist dem Text anzumerken). Und ganz zum Schluss, als er auf die Ethik der Wissenschaft und die Verantwortung der Wissenschaftler zu sprechen kommt, ist Wolpert von schneidender Überzeugung, prägnant und elegant.
Als Geisteswissenschaftler frage ich mich natürlich nach der Definition von „Wissenschaft“, die Wolpert verwendet. Er präzisiert sie nicht, verwendet den Terminus aber im Sinn einer theoriegetriebenen Wissenschaft und scheint damit ausschliesslich die Naturwissenschaften (die englischen sciences) zu meinen. Ob dies auf die Übersetzung zurückzuführen oder schon im englischen Original enthalten ist, weiss ich nicht; es ist aber jedenfalls verwirrend, denn ob der inhaltlichen Stringenz des Buches stellt sich mir die Frage, wie es denn um die Wissenschaftlichkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften steht. Sie haben in Wolperts Darstellung keinen Platz. So muss ich zum Schluss der Lektüre sagen, dass ich vieles verstanden, aber noch mehr zu verstehen habe.
Technisches: Lewis Wolpert, Unglaubliche Wissenschaft. Aus dem Englischen von Werner Bartens. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. ISBN 3-8218-4547-3. Das englische Original ist unter dem Titel „The Unnatural Nature of Science“ 1992 bei Faber and Faber in London erschienen.
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