Freitag, 25. Januar 2013

Herzschläge

Am Anfang war die Musik. Das ist sie zwar bei einem Ballettabend mit Orchester per definitionem, aber dieses Mal auf spezielle, intensivere Weise. Die Orchesterballette, die ich bisher am Stadttheater Bern gesehen hatte, waren Handlungsballette zu einem grossen Stück. Da wird die Musik schnell zur blossen Begleitung, während sich auf der Bühne eine Geschichte entfaltet, die sehr unabhängig sein kann. Herzschläge, der erste Tanzabend der Saision 2012/13, bestand aus drei individuellen Halbstündern – oder eben präziser: aus drei musikalischen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts. Drei grosse Choreografen präsentierten dazu je ein Stück. Und sie taten dies nicht, indem sie Geschichten erzählten oder sich in Extravaganzen verloren. Sie setzten die Musik in Tanz um.

Am deutlichsten tat dies Örjan Andersson. Seine Ansage im Programmheft war deutlich: „Das übertriebene Bedürfnis, immer nach einer Bedeutung zu suchen oder nach einer symbolischen Dimension, ist ermüdend.“ Die Symphony Nr. 3 für Streichorchester von Philip Glass ist ein schlichtes Werk, das viel mit repetitiven Motiven arbeitet, um daraus und darüber solistische Melodien erblühen zu lassen. Tatsächlich: Noch nie habe ich ein Ballett gesehen, das so direkt und schnittstellenlos die Musik in Tanz übersetzte. In einer kontinuierlichen, oft kreisenden Bewegung verzahnten sich die Tänzerinnen und Tänzer ineinander, gingen räumlich und im Gestus aneinander vorbei; plötzlich fanden sich zwei zu einer wie zufällig synchronen Bewegung, bevor sie wieder ihrer Wege gingen, oder einer stach als Einzelmaske für kurze Zeit heraus. Es war, als hülfe die optische Umsetzung, einer präzisen Analyse gleich, die Symphonie in ihrer Struktur zu verstehen. Und umgekehrt half die Musik, den Tanz als zwingende Einheit wahrzunehmen. Eine Entdeckung war Glass auf jeden Fall für mich.

War Philip Glass‘ Werk aus dem Jahr 1995 überraschend zugänglich, ist Igor Stravinskys Ballett Agon etwas vom Sperrigsten, das ich überhaupt je gehört habe. Melodie, Harmonie, Rhythmus sind keine erkennbar; über weite Strecken werden die Instrumente des riesigen, im Graben dicht gedrängten Orchesters wie einzelne Tasten einer überdimensionierten Orgel eingesetzt. Ein hartes Stück Arbeit, so mein Eindruck. Und wie Stravinsky die Musiker (und die Zuhörer) an ihre Grenzen trieb, forderte der in Lyon wirkende Kreter Andonis Foniadakis dem wie üblich hervorragend disponierten Ballettensemble das Letzte ab. Unglaublich physische, athletische Szenen, wie spektakuläre Stunts auf Sekundenbruchteile getimt, prägten das Stück. Grossartig war das Bühnenbild: Eine Art Giants‘ Causeway, zunächst als Pfad über die Bühne, danach als gewaltiger schräger Baldachin.

Zum Schluss dann ein Klassiker, ein Ohrwurm, die grösste Effekthascherei im Pantheon der klassischen Musik: Ravels Bolero. Ich wusste gar nicht, dass dies tatsächlich ursprünglich eine Ballettmusik war, von Bronislawa Nijinska uraufgeführt, später von Maurice Béjart massgebend interpretiert. Wir sahen die Fassung des holländischen Choreografen Johan Inger aus dem Jahr 2001. Seltsam, wie sich Reprisen von Uraufführungen unterscheiden: Die Stimmung ist eine andere, irgendwie schwingt etwas Museales mit, eine grössere Sicherheit, die auch mal leicht gesetzt wirken kann. Inger führt eine etwas surreale Liebeskomödie auf, rund um eine Holzwand, die bald gerade, bald schräg, bald im rechten Winkel auf der Bühne steht, mit rasant sich öffnenden und schliessenden Türen. Im Gedächtnis bleibt vor allem das Krachen, mit dem die Körper laufend auf das Holz knallen. Besonders viel, gebe ich zu, habe ich vom Tanz nicht mitbekommen: Zu gross war die Versuchung, aus der ersten Reihe des zweiten Balkons immer wieder in den Orchestergraben zu linsen, die Vielfalt der Instrumente zu bestaunen und die gerade aktiven auszumachen, der Trommlerin bei ihrer feinen Fleissarbeit zuzuschauen, das allmähliche, langsame Erstarken auch optisch zu bewundern. Der Bolero riss das Publikum von den Stühlen. Schroff, aber klug kontrastierte Inger ihn mit Arvo Pärts Klavierstück Für Alina, das leise und zerbrechlich die frustriert aneinander vorbeiziehenden Figuren begleitete.

Ich habe viel gelernt an diesem Abend, und viel begriffen. Und ich habe sehend und hörend wenig überlegt und viel genossen, mich über poetische Momente gefreut und gestaunt. So abgelutscht und unspezifisch er ist, der Titel Herzschläge trifft das Programm gut.

Technisches: Ach, zu spät – die Dernière ist bereits vorüber, der Abend Geschichte. Leider weiss ich jetzt auch gar nicht, wie ich darauf verlinken soll...

Dienstag, 15. Januar 2013

Kalter Wind

Ach, Bacci Pagano. Schon auf den ersten Seiten von Kalter Wind in Genua geht der Privatdetektiv mit der Frau, die er beschattet, nachts um eins in deren Wohnung hoch, um alsbald unter dem geblümten Samtmorgenmantel ihre festen, schneeweissen Oberschenkel und ihre vollen Brüste zu erspähen. Und wenige Seiten später läuft er wie von ungefähr einer ivorischen Prostituierten in die Arme, der er ohne viel Federlesens Asyl in seiner Wohnung gewährt – gegen Bezahlung in Naturalien, wie originell. Ich bleibe dabei: Dieses Machogehabe passt so gar nicht zum eigentlich komplexen und reflektierten Charakter Paganos. Und wenn der Gute halt um Gottes Willen ein Frauenheld sein muss: Könnten dann wenigstens einige der ungezählten Objekte seines Interesses so aussehen, als wären sie nicht direkt dem Playboy entsprungen?

Nachdem meine Fundamentalkritik an der Hauptfigur hiermit erneuert und präzisiert ist, können wir zum Buch selber vordringen. Und auch hier bestätige ich: Bruno Morchio schreibt grossartige Krimis, verliert nie den Überblick über seine Handlungsfäden und webt sie mit meisterhaftem Timing ineinander. War jedoch Wölfe in Genua von einer leichten Eleganz durchzogen, die in der raschen, souveränen Entschlüsselung des Mordes am alten Halunken gipfelte, so ist Kalter Wind in Genua ein roman noir, grimmig und illusionslos. Bacci Pagano durchschaut alles – und alles misslingt ihm. Die Verbündeten schwächeln, die Lizenz wird ihm entzogen, die Faschos der Antiterror-Polizei vermöbeln ihn nach Strich und Faden, und ein alter, berüchtigter Killer, der einem Geist gleich durch die Stadt schleicht, kontert den sonst so instinktsicheren Detektiv zweimal wie einen Schuljungen mit leichter Hand aus. Da hilft es Pagano wenig, dass er die richtigen Spuren verfolgt, die richtigen Schlüsse zieht, die richtigen Warnungen ausspricht: Terroristen und Mafiosi lachen zuletzt; gönnerhaft breiten sie ihr postideologisches Weltbild aus, rücken ihre Verbrechen streng logisch ins beste Licht und geizen nicht mit Spott an den Rechtschaffenen. Von Trost, selbst symbolischem, keine Spur. Man muss wissen: Kalter Wind spielt im Genua der Nullerjahre, kurz nach der Polizeibrutalität am G8-Gipfel, in einem zum Operettenstaat umfunktionierten Italien, wo ehedem progressive Kräfte durch Egoismus und Inkompetenz einem alternden Selbstdarsteller den roten Teppich nicht nur ausgebreitet, sondern auch noch staubgesaugt haben. Hoffnung ist da wahrlich mit der Lupe zu suchen. Morchio deutet sie in winzigen Details an: In ehrlichen Gesprächen, in aufmerksamer Grosszügigkeit lässt er da und dort die menschliche Güte aufscheinen. Auch das ist in seiner Diskretion und Behutsamkeit ganz grosse Kunst.

Technisches: Bruno Morchio, Kalter Wind in Genua. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Zürich, Union 2009 (Unionsverlag-Taschenbuch 444, Reihe metro). ISBN 978 3 293 20444 7. Das italienische Original ist unter dem Titel Bacci Pagano – una storia da carruggi 2004 bei Fratelli Frilli in Genua erschienen.

Sonntag, 6. Januar 2013

Der Triumph der Tugend

Gibt es eigentlich weltweit irgendjemanden, der wegen der Handlung in die Oper geht? Der die geistreichen Dialoge schätzt, den kunstvoll konstruierten Plot? Er müsste sich das Objekt seiner Bewunderung jedenfalls mit einigem Bedacht auswählen. Eine Opera buffa (beziehungsweise semiseria) wie Rossinis Cenerentola zum Beispiel kann zumindest ich beim besten Willen nicht ernst nehmen – trotz des hochtrabenden Untertitels Der Triumph der Tugend und entgegen jenen Interpretationen, die darin von der Aufklärung geprägte, komplexe Figuren ausmachen. Beruhigend, dass ich nicht der einzige zu sein scheine: Cordula Däuper inszeniert das Aschenbrödel am Stadttheater Bern mit überbordender Ironie als einen einzigen grossen Klamauk – und muss ihm dazu nicht einmal gross Gewalt antun. Es reicht, die von Rossini und seinem Librettisten Ferretti entworfenen Figuren etwas zu überzeichnen, den Säufer von Vater so richtig besoffen sein zu lassen, der einen Schwester eine Riesenmasche in die Haare, der anderen einen elefantenbreiten Reifrock um die Hüften zu montieren, die Verwechslungskomödie zwischen Prinz und Diener mit steiler Frisur und spitzer Krone etwas zu akzentuieren: Schon ist der frohe Spass angerichtet. Überaus köstlich war die Ausstattung des Chors der Höflinge als schmerbäuchige Wichtel. Und den Vogel schoss die Regisseurin ab mit den Übertiteln. Erst seitdem diese technologische Innovation etabliert ist, wird ja dem gemeinen Theaterbesucher die Flachheit der Arientexte überhaupt so richtig anschaulich. Und was tut Däuper? Sie holt die Übertitel gleichsam vom Katzentisch auf die Bühne, projiziert sie auf eine barock geschwungene Kartusche – und fasst längere Dialoge oder wiederkehrende Text kurzerhand auf knappe, handschriftlich notierte Kommentare zusammen. „Immer das gleiche Gezicke“, steht dann da etwa, oder „er hat Hunger“. Klarer, aber auch verschmitzter kann man kaum ausdrücken, dass die ganzen hier gesungenen Texte nur mit ironischer Distanz zu ertragen sind.

Man verstehe mich nicht falsch: Ich insinuiere in keiner Weise, dass sich das Berner Opernteam über Rossini lustig gemacht hätte. Vielmehr muss, wer solch gelungenen Klamauk abliefern will, nicht nur sein Handwerk perfekt beherrschen, sondern seinen Gegenstand sehr ernst nehmen. Das gilt nicht nur, wie bereits beschrieben, für Regie, Ausstattung und Dramaturgie, sondern in höchstem Masse auch für das von Srboljub Dinic geleitete Berner Sinfonieorchester und die Sängerinnen und Sänger. Ich war überrascht, wie leicht und durchsichtig, passagenweise fast kammermusikalisch, Rossinis Musik interpretiert wurde. Der Gesang blieb auch in den Fortissimo-Passagen schlank und fein, frei von Stemmen, Pressen und Starallüren; und die Chorwichtel überzeugten mit sattem, wohldosiertem Klang. (Die einzigen Abstriche waren höherer Gewalt geschuldet, nämlich der Erkrankung zweier Solisten, die sich absolut bewundernswert schlugen, aber die fehlende Spritzigkeit nicht immer vergessen machen konnten.) Für nur sporadische Opernbesucher wie uns ist La Cenerentola die richtige Wahl: Ein unbeschwerter, lüpfiger und durchwegs zu geniessender Abend im grossen Haus am Theaterplatz.

Technisches: Das Aschenbrödel wird am Stadttheater bis Anfang März noch fünfmal aufgeführt; Karten gibt’s wie immer on- und offline bei Bern:Billett.