Dienstag, 31. Dezember 2013

Ade nun zur guten Nacht

Der traditionelle Jahresendpost wird 2013 zu einer Art Abgesang. Was ich vor genau einem Jahr an dieser Stelle unheilschwanger angedeutet hatte, bewahrheitete sich vollumfänglich: Mein Leben wurde vor zehn Monaten auf den Kopf gestellt (oder, vielleicht präziser, vom Kopf auf die Füsse); Zeit für mich selbst ist seither eine Rarität. Erste Priorität zu allen Zeiten und in allen Situationen hat die Sorge um das kleine Wesen, das mir anvertraut ist; und wenn zwischendurch ein paar Minuten übrig bleiben, rufen Waschmaschine und Staubsauger. Gewiss komme ich gelegentlich zum Lesen, alle paar Monate sogar zum Theaterbesuch. Aber die Zeit und die Energie, diese Erlebnisse zu ordnen und in Ruhe niederzuschreiben, bringe ich gegenwärtig nicht mehr auf.

Also mach ich hier mal die Türen zu. Die Läden bleiben natürlich offen, das Blog zum Schmökern zugänglich, solange Google mich lässt. Und wenn mich zwischendurch die Schreiblust überraschen sollte, ist es gut zu wissen, dass der Schlüssel steckt und ich jederzeit wieder loslegen könnte. Für heute: bonne année et bon vent!

Freitag, 27. September 2013

Ara Pacis (Katalogreisen, Nr. 4)

Es gibt Museumskataloge, zu deren Lektüre nicht einmal eine Katalogreise motivieren kann. Auf dem römischen Regal bleiben vorläufig ungelesen: die beiden schmalen Bändchen zum Forum Romanum und zum Kolosseum, die eigentlich in die Kategorie Reiseführer gehören; der Führer durch die Domus Aurea, weil ich diese zunächst überhaupt mal besichtigen möchte; und der Katalog des grossartigen Palazzo Massimo alle Terme, der mir jetzt einfach zu gewichtig, zu katalogig ist (und den ich seinerzeit, meinem Italienischen zu wenig vertrauend, auf Englisch gekauft hatte).

Eine Station müssen wir aber unbedingt noch machen in Rom, bevor wir nordwärts weiterreisen, einen Katalog lesen, ein Monument besichtigen: die Ara Pacis Augustae. Jeder Studierende der Klassischen Archäologie hat dieses Denkmal und seine Reliefs vorwärts und rückwärts durchgearbeitet. Allen anderen sei einleitend erklärt, dass es sich um einen Altar handelt, den der Senat 13 v.Chr. zu Ehren des Augustus errichten liess; und weil „Altar“ jetzt nicht gerade umwerfend tönt, sei sogleich präzisiert, dass das Wesentliche an der Ara Pacis ihre Umfriedung ist, eine Art monumentaler rechteckiger Paravent aus Marmor mit reicher Reliefdekoration. Es gibt wenige antike Monumente, die ideologisch, historisch und künstlerisch derart aufgeladen sind wie die Ara Pacis. Anlass für ihre Weihung war Augustus‘ Rückkehr von einer dreijährigen Kampagne nördlich der Alpen, wo er in Iberien, Gallien, der heutigen Schweiz und an der Donau zum Rechten sah und aus Sicht Roms die Periode des augusteischen Friedens einleitete. Die imperiale Propaganda verbreitete das Bild von Augustus als Befrieder des Reiches mittels offizieller Kunstwerke bis in dessen entfernteste Winkel, und Initialzündung und Ausgangspunkt dieser Propaganda war eben der Altar, der dieser Pax Augusta geweiht wurde. Der Botschaft und dem Geehrten angemessen gehören die Reliefs der Umfriedung zu den besten Stücken der römischen Kunst: Im unteren Register ranken sich Akanthus, Palmetten und Blüten; Eidechsen und Skorpione huschen durch das lebendige Grün. Darüber stehen römische Gründungsmythologie und göttliche Symbolik, und über die beiden Schmalseiten schreitet gewichtig eine Prozession (zum Altar hin, mag man sich denken), in der die höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger Roms erkennbar sind (und unter denen die erwähnten Studierenden jeweils auch noch die Grossneffen dritten Grades von Augustus zu identifizieren haben).

Zur künstlerischen Qualität und zum ideologischen Gewicht kommt die bewegte Fundgeschichte der Ara Pacis. Im sechzehnten Jahrhundert tauchten erste Fragmente auf dem Kunstmarkt auf, gelangten in bedeutende Sammlungen. Da der Altar jedoch unter den Fundamenten eines Palazzo lag, waren systematische Ausgrabungen schwierig, bis es einigen Haudegen der 1930er Jahre gelang, 600 Kubikmeter Untergrund einzufrieren, um die Reste der Ara Pacis gefahrlos unter dem Palast herauszuholen. Auftraggeber der archäologischen Kommandoaktion war ein alter Bekannter, Benito Mussolini, der seine eigenen imperialen Ansprüche regelmässig durch ausführliche Rückgriffe auf die Antike ideologisch untermauerte. Zur Zweitausendjahrfeier von Augustus‘ Geburt 1937 wollte der Duce die Ara Pacis rekonstruiert haben, was in einem in aller Eile errichteten Pavillon am Tiberufer auch tatsächlich gelang. Das Providurium musste erst vor wenigen Jahren einem Neubau weichen, einem beeindruckenden Monument von Richard Meier (darunter macht mans nicht), das jetzt den Altar und seinen Kontext mustergültig präsentiert.

Glücklich der Archäologe, der zu einem solchen Denkmal den Katalog schreiben darf! Das Material ist überschaubar genug, dass man bei der Beschreibung ins Detail und daneben in die Breite und Tiefe gehen, Bau- und Grabungsgeschichte rekonstruieren, Verwandtes und Ergänzendes referieren kann. Orietta Rossini hat sich für den offiziellen Führer der Aufgabe gewachsen gezeigt. Ihr Buch, eher eine Monografie denn ein Katalog zu nennen, überzeugt durch seine Systematik, den gelehrten, verständlichen Text, die Auswahl verwandter Themen, zu denen ein Kurzabriss von Augustus‘ Rechenschaftsbericht Res Gestae gehört, und durch die opulente, präzise und detailgetreue Bebilderung. Die endlosen Hypothesen darüber, welche Verwandten von Augustus wo genau in der Prozession dargestellt sind, kann der Nicht-Archäologe ja grosszügig überfliegen. So liest sich das gewichtige, fast furchteinflössende Werk erstaunlich leicht und vergnüglich, und beschwingt verabschieden wir uns vom imperialen Rom heimwärts.

Technisches: Orietta Rossini, Ara Pacis. Milano, Einaudi 22007. ISBN 978 88 370 5367 3. Beim Stöbern in meiner Bibliothek fiel mir ein Vorvorgänger dieses neuen Katalogs in die Hände, Die Ara Pacis Augustae von Giuseppe Moretti (Deutsch von Ernst Hohenemser) von 1938 aus der Reihe der Führer durch die Museen und Kunstdenkmäler Italiens. Das kleine Heftchen bot eine angenehme Zusammenfassung zum Abrunden, ist jedoch vor allem wegen zweier Kuriositäten erwähnenswert: wegen der Preisetikette von 250 Lire und wegen des Datums auf dem Titelblatt: A. XVII E.F. – ja genau, im Jahre 17 der faschistischen Ära. Die anderen erwähnten Führer: Paola Guidobaldi, Il Foro Romano. Milano, Electa 22004. ISBN 88 435 6333 5. Letizia Abbondanza, Le Colisé. Traduction de Jérôme Nicolas. Milano, Electa 22005. ISBN 88 435 8226 7. Elisabetta Segala, Ida Sciortino, Domus Aurea. Traduction de Jérôme Nicolas. Milano, Electa 22005. ISBN 88 370 4107 1. Adriano La Regina (ed.), Museo Nazional Romano, Palazzo Massimo alle Terme. English Edition. Milano, Electa 1998. ISBN 88 435 6584 2.

Sonntag, 4. August 2013

Villa Adriana (Katalogreisen, Nr. 3)

Die Katalogreisegruppe verlässt Rom mit der Metrolinie B, wechselt in Ponte Mammolo in den Bus Richtung Tivoli, fährt durch ärmliche Banlieue ostwärts, steigt rechtzeitig vor dem Anstieg nach Tivoli aus, irrt ein wenig durch ein Mittelklass-Wohnviertel und langt endlich glücklich bei der Villa Adriana an. Während der langen, intensiven Besichtigung kommt ein Diktum von Moses I. Finley (Die antike Wirtschaft, p. 118) in den Sinn: Auch sehr reiche Römer konnten „keinem Vergleich mit den Kaisern selbst standhalten, deren Ansammlung von Grundeigentum … insgesamt eine Grösse erreichte, die unsere Vorstellungskraft, wären uns die Zahlen bekannt, übersteigen würde.“ Die Villa Adriana, Herrschaftssitz des Kaisers Hadrian, auf dem Land gegen die Albaner Berge angelegt, sprengt alle Dimensionen und entzieht sich allen Vergleichen: imperiale Residenz und World Miniature gleichermassen, in freier, fast chaotischer Anordnung in die natürlichen Hügel und Senkungen eingepasst, die gesamte römische Architektur zitierend und gleichzeitig nach Belieben innovativ, Arbeits- und Wohnort Hunderter von Menschen.

Wer an einem heissen Herbsttag stundenlang durch die hektarweise sich ausdehnenden Ruinen wandert, mit Hilfe des abgegebenen Plans sich einen Reim auf die Architektur zu machen sucht, vor der Fülle von Material, Details und Information jedoch zwangsläufig kapitulieren muss, besucht beim Ausgang gerne den Shop: Das Gefühl, der grossartigen Stätte nicht gerecht geworden zu sein, verleitet wie von selbst zum Kauf des Ablasses, sprich des Katalogs, mit dem Ziel, die detaillierte Beschreibung der Villa mindestens durch Besitz sich zu eigen zu machen. Eher unwahrscheinlich ist der Idealfall, dieselbe sogar nachzulesen, und ohne meinen Katalogreisenvorsatz hätte auch ich es wohl bleiben lassen. Das wäre schade gewesen: Das schmale, handliche Buch vermittelt effizient ein gutes Verständnis der antiken Stätte. Es liefert die notwendigen biografischen Hintergründe zum Bau- und Hausherrn, skizziert die grossen Linien des architektonischen Projekts, seine Geschichte und Umsetzung, und beschreibt dann knapp, aber mit dem gebotenen Detail alle Gebäude, Höfe und Plätze und versucht eine Interpretation ihrer Funktion. Die Lektüre dauert wenig länger als eine ausführliche Besichtigung der Villa Adriana und ruft dem Katalogreisenden die schon verblassten Eindrücke seines Besuches wieder schlüssig ins Gedächtnis. Kritisch zu bewerten ist einzig (gerade im Vergleich mit den grossartigen Katalogen der Centrale Montemartini und der Kapitolinischen Museen) das Bildmaterial. Gewisse Illustrationen sind von mittelmässiger Qualität, gewisse Gebäude sind gar nicht oder nur mit wenig repräsentativen Aufnahmen bebildert. Am schwersten ins Gewicht fallen die unzulänglichen Pläne: Der Katalog enthält mehrere Karten, Gesamtansichten und Rekonstruktionen, aber wirklich hilfreich ist nichts von alledem – ganz besonders nicht das Foto des Modells auf Seite 26, das seitenverkehrt abgedruckt wurde... Der an sich gute Gesamtplan hätte unbedingt mit vergrösserten Details ergänzt werden sollen, um eine komfortable Periegese zu ermöglichen. So wird die Orientierung etwas zum Sport. Wer kombinieren und Karten lesen kann, erfährt dafür die Befriedigung, sich sein Gesamtbild aus den bescheidenen Grundlagen selber erarbeiten zu können.

Technisches: Benedetta Adembri, Villa Adriana. Milano, Mondadori 22008. ISBN 978 88 435 7718 7. Der Katalog ist ausser in Italienisch auch in Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch erhältlich.

Sonntag, 21. Juli 2013

Kapitolinische Museen (Katalogreisen, Nr. 2)

Unerwähnt und ungeklärt geblieben ist auf der ersten Etappe der Katalogreisen, weshalb sich bei mir die Kataloge und Führer dermassen stapeln. Auf die Frage werden wir im Reiseverlauf noch das eine oder andere Mal im Detail zurückkommen, aber ursprünglichster und edelster Grund ist zweifellos, dass ich mir als Archäologie-Student eine anständige Handbibliothek anlegen wollte. Wenn immer ich also das Glück hatte, eines der grossen Häuser dieser Welt zu besichtigen, war der Besuch im Shop obligatorisch und diente der Dokumentation des eben Gesehenen. Überdies waren mit den Kameras, die wir damals hatten, ohne Blitz und Stativ kaum passable Bilder zu erreichen. So liess ich das Fotografieren bald bleiben, konzentrierte mich aufs Sehen und nahm das Bildmaterial in gedruckter Form nach Hause.

Case in point: die kapitolinischen Museen in Rom, eine der Referenzsammlungen für den Studenten der Klassischen Archäologie (und nach dem Filialmuseum Centrale Montemartini hier die logische nächste Reiseetappe). Ich gestehe freilich, dass ich das Haus erst gesehen habe, als ich schon gar nicht mehr Student war, aber der Reflex blieb (und bleibt) der gleiche. Der erneute Griff zum Katalog zehn Jahre später macht allerdings auch gleich zwei Nachteile des Unterfangens Katalogreisen deutlich. Der erste ist die Übersetzung. Wenn auch der Katalog des Kapitols nicht mit jenen traurig bekannten, stilblütenreichen deutschen Versionen italienischer Touristenführer zu vergleichen ist, hätte man sich doch häufig gewünscht, die Übersetzerin würde vom komplexen, verschnörkelten Stil des Originals ein paar Ecken abschneiden. Es ist alles richtig, aber vieles etwas schwerfällig. (Und im Nachhinein erscheint es mir als glückliche Fügung, dass ich in der Centrale Montemartini direkt die italienische Version gekauft hatte.)

Gewichtiger, aber zugleich fast unvermeidlich, ist der zweite Nachteil: Ein Museumskatalog, der seinem Namen Ehre macht, kann keine besonders spannende Lektüre sein. Die detaillierte, fachlich korrekte und deshalb notwendigerweise trockene Beschreibung aller (oder doch der wesentlichsten) Stücke des Hauses mit all ihren technischen Details reisst niemanden wirklich vom Hocker. Ein solcher Katalog hat seinen eigentlichen Platz folgerichtig nicht auf dem Tischchen neben dem Lesesessel, sondern eben in der erwähnten Referenzbibliothek, wo er bei konkreten Fragen konsultiert wird. Entsprechend habe ich im Katalog der kapitolinischen Museen die Objektbeschreibungen nur kursiv gelesen, die Abfolge der unzähligen Umbauten und Neueinrichtungen zügig überflogen. Ungemein lehrreich war es jedoch, die Rolle des Kapitols in der Geschichte der Stadt Rom dargelegt zu bekommen. Auf die zentrale Funktion des Hügels als heilige Akropolis der Urbs und des gesamten Römischen Reichs griffen im Mittelalter die Römer gezielt zurück, als sie die politischen Einrichtungen ihrer entstehenden Stadtgemeinde ebendort ansiedelten; und so wurde das Kapitol zum symbolischen Austragungsort der Konflikte zwischen Stadt und Papst. In diesem Kontext entstand das Kapitolinische als ältestes öffentliches Museum der Welt, begründet durch die Schenkung der Bronzestatuen aus dem Lateran durch Sixtus IV. im Jahr 1471 – subtile Demonstration des Anspruchs auf Kontinuität zwischen Römerreich und Papsttum im Gewand eines grosszügigen Geschenks.

Technisches: Margherita Albertoni et al., Kapitolinische Museen. Übersetzung Maria Böhmer. Milano, Electa 2005. ISBN 88 435 7514 7. Leider ist mein Bericht veraltet: Kurz nach meinem Besuch wurde dieser Führer durch eine Neuauflage ersetzt und ist deshalb nicht mehr erhältlich.

Sonntag, 16. Juni 2013

Centrale Montemartini (Katalogreisen, Nr. 1)

Zum Glück dauert der Vaterschaftsurlaub auf diesem Blog ein paar Monate und nicht nur eine Woche wie im richtigen Leben: Zeit für Unmittelbareres als Theater, Packenderes als Bücher, Lehrreicheres als Museen. Allmählich schaufle ich mir in einem intensiven Stundenplan wieder gelegentlich einen Moment für mich selber frei. Und habe so Zeit gefunden für eine neue Idee, die aus der Not eine Tugend macht: Da ich in den nächsten Jahren nicht mehr so viel und auch nicht mehr gleich in Europa herumkommen werde wie bis anhin, reise ich stattdessen virtuell. Das Material dafür steht laufmeterweise in den Regalen hinter mir – all die Führer und Kataloge, denen ich in den Museumsshops dieser Welt selten widerstehen kann. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, in ihren Seiten alte Erinnerungen aufzufrischen und all das zu lernen, das in der (oftmals leider) Eile des Besuchs übersehen und überlesen wurde?

Eine eher wenig bébétaugliche Destination macht den Anfang meiner Katalogreisen: Rom. Veteranen des Blogs erinnern sich an meinen hymnischen Bericht aus der Centrale Montemartini, dem zum archäologischen Museum gewordenen Elektrizitätswerk im Industriegebiet der Via Ostiense. Allein die Erinnerung macht gute Laune und motiviert, den stattlichen Katalog zur Hand zu nehmen – der sich als Glückstreffer erweist: Viel eher als ein Museumskatalog ist das nämlich ein Buch über die grossen römischen Ausgrabungen vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und ihren museologischen Niederschlag. In die Centrale Montemartini, erfahre ich, sind nicht einfach querbeet ein paar Statuen aus den Kapitolinischen Museen ausgelagert worden, sondern in erster Linie die Früchte jener umfangreichen Ausgrabungen, welche die urbanistischen Umwälzungen des zur Hauptstadt Italiens gewordenen Roms so gut wie möglich begleiteten. So viel bedeutender Boden wie weltweit niemals sonst wurde da in kurzer Zeit umgegraben, weite Teile der Stadt innerhalb der Mauern; darunter insbesondere am Pincio und auf dem Esquilin Gegenden, in denen die Villen der Reichsten mit ihren weitläufigen Gartenanlagen protzten. Den künstlerischen Reichtum, der da ans Licht kam, kann man sich ansatzweise vorstellen; und man muss den Archäologen jener Zeit einen dicken Kranz winden, dass sie in aller Eile mit unermüdlichem Einsatz wenigstens so viel gerettet haben, wie möglich war. Auf dem Kapitol waren die schönsten Stücke seinerzeit nach Gattungen geordnet präsentiert worden. Erst die Neuaufstellung rund um die Maschinen der Centrale Montemartini hat die für das Verständnis so eminent wichtigen Fundkomplexe wieder zusammengefügt – die republikanischen Grabkomplexe im Untergeschoss, das monumentale Zentrum im Maschinensaal, die horti der prächtigen Villen im Kesselraum.

Das alles erläutert gelehrt und verständlich der vorbildliche Führer und präsentiert dazu fast beiläufig die wichtigsten Werke in Text und schönem Bild. Das Ziel war eindeutig nicht die vollständige Dokumentation der im Museum versammelten Kunstwerke, sondern waren die grossen Linien; und mithin ist das Buch für den Katalogreisenden eine ideale, weiterbildende Lektüre. Ich gestehe verschämt: Diese grossen Linien hatte ich bei meinem Besuch schlicht übersehen; meine fehlenden Grundlagen in stadtrömischer Urbanistik taten das Ihrige. Die Versäumnisse sind nachgeholt, die Lücken gestopft; Gott sei Dank gibt es Museumskataloge…

Technisches: Marina Bertoletti, Maddalena Cima, Emilia Talamo: Centrale Montemartini. Milano, Electa 2007. ISBN 978 88 370 4622 4. Der Katalog ist auf Italienisch und Englisch erhältlich, wir hatten uns standesgemäss für ersteres entschieden.

Freitag, 25. Januar 2013

Herzschläge

Am Anfang war die Musik. Das ist sie zwar bei einem Ballettabend mit Orchester per definitionem, aber dieses Mal auf spezielle, intensivere Weise. Die Orchesterballette, die ich bisher am Stadttheater Bern gesehen hatte, waren Handlungsballette zu einem grossen Stück. Da wird die Musik schnell zur blossen Begleitung, während sich auf der Bühne eine Geschichte entfaltet, die sehr unabhängig sein kann. Herzschläge, der erste Tanzabend der Saision 2012/13, bestand aus drei individuellen Halbstündern – oder eben präziser: aus drei musikalischen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts. Drei grosse Choreografen präsentierten dazu je ein Stück. Und sie taten dies nicht, indem sie Geschichten erzählten oder sich in Extravaganzen verloren. Sie setzten die Musik in Tanz um.

Am deutlichsten tat dies Örjan Andersson. Seine Ansage im Programmheft war deutlich: „Das übertriebene Bedürfnis, immer nach einer Bedeutung zu suchen oder nach einer symbolischen Dimension, ist ermüdend.“ Die Symphony Nr. 3 für Streichorchester von Philip Glass ist ein schlichtes Werk, das viel mit repetitiven Motiven arbeitet, um daraus und darüber solistische Melodien erblühen zu lassen. Tatsächlich: Noch nie habe ich ein Ballett gesehen, das so direkt und schnittstellenlos die Musik in Tanz übersetzte. In einer kontinuierlichen, oft kreisenden Bewegung verzahnten sich die Tänzerinnen und Tänzer ineinander, gingen räumlich und im Gestus aneinander vorbei; plötzlich fanden sich zwei zu einer wie zufällig synchronen Bewegung, bevor sie wieder ihrer Wege gingen, oder einer stach als Einzelmaske für kurze Zeit heraus. Es war, als hülfe die optische Umsetzung, einer präzisen Analyse gleich, die Symphonie in ihrer Struktur zu verstehen. Und umgekehrt half die Musik, den Tanz als zwingende Einheit wahrzunehmen. Eine Entdeckung war Glass auf jeden Fall für mich.

War Philip Glass‘ Werk aus dem Jahr 1995 überraschend zugänglich, ist Igor Stravinskys Ballett Agon etwas vom Sperrigsten, das ich überhaupt je gehört habe. Melodie, Harmonie, Rhythmus sind keine erkennbar; über weite Strecken werden die Instrumente des riesigen, im Graben dicht gedrängten Orchesters wie einzelne Tasten einer überdimensionierten Orgel eingesetzt. Ein hartes Stück Arbeit, so mein Eindruck. Und wie Stravinsky die Musiker (und die Zuhörer) an ihre Grenzen trieb, forderte der in Lyon wirkende Kreter Andonis Foniadakis dem wie üblich hervorragend disponierten Ballettensemble das Letzte ab. Unglaublich physische, athletische Szenen, wie spektakuläre Stunts auf Sekundenbruchteile getimt, prägten das Stück. Grossartig war das Bühnenbild: Eine Art Giants‘ Causeway, zunächst als Pfad über die Bühne, danach als gewaltiger schräger Baldachin.

Zum Schluss dann ein Klassiker, ein Ohrwurm, die grösste Effekthascherei im Pantheon der klassischen Musik: Ravels Bolero. Ich wusste gar nicht, dass dies tatsächlich ursprünglich eine Ballettmusik war, von Bronislawa Nijinska uraufgeführt, später von Maurice Béjart massgebend interpretiert. Wir sahen die Fassung des holländischen Choreografen Johan Inger aus dem Jahr 2001. Seltsam, wie sich Reprisen von Uraufführungen unterscheiden: Die Stimmung ist eine andere, irgendwie schwingt etwas Museales mit, eine grössere Sicherheit, die auch mal leicht gesetzt wirken kann. Inger führt eine etwas surreale Liebeskomödie auf, rund um eine Holzwand, die bald gerade, bald schräg, bald im rechten Winkel auf der Bühne steht, mit rasant sich öffnenden und schliessenden Türen. Im Gedächtnis bleibt vor allem das Krachen, mit dem die Körper laufend auf das Holz knallen. Besonders viel, gebe ich zu, habe ich vom Tanz nicht mitbekommen: Zu gross war die Versuchung, aus der ersten Reihe des zweiten Balkons immer wieder in den Orchestergraben zu linsen, die Vielfalt der Instrumente zu bestaunen und die gerade aktiven auszumachen, der Trommlerin bei ihrer feinen Fleissarbeit zuzuschauen, das allmähliche, langsame Erstarken auch optisch zu bewundern. Der Bolero riss das Publikum von den Stühlen. Schroff, aber klug kontrastierte Inger ihn mit Arvo Pärts Klavierstück Für Alina, das leise und zerbrechlich die frustriert aneinander vorbeiziehenden Figuren begleitete.

Ich habe viel gelernt an diesem Abend, und viel begriffen. Und ich habe sehend und hörend wenig überlegt und viel genossen, mich über poetische Momente gefreut und gestaunt. So abgelutscht und unspezifisch er ist, der Titel Herzschläge trifft das Programm gut.

Technisches: Ach, zu spät – die Dernière ist bereits vorüber, der Abend Geschichte. Leider weiss ich jetzt auch gar nicht, wie ich darauf verlinken soll...

Dienstag, 15. Januar 2013

Kalter Wind

Ach, Bacci Pagano. Schon auf den ersten Seiten von Kalter Wind in Genua geht der Privatdetektiv mit der Frau, die er beschattet, nachts um eins in deren Wohnung hoch, um alsbald unter dem geblümten Samtmorgenmantel ihre festen, schneeweissen Oberschenkel und ihre vollen Brüste zu erspähen. Und wenige Seiten später läuft er wie von ungefähr einer ivorischen Prostituierten in die Arme, der er ohne viel Federlesens Asyl in seiner Wohnung gewährt – gegen Bezahlung in Naturalien, wie originell. Ich bleibe dabei: Dieses Machogehabe passt so gar nicht zum eigentlich komplexen und reflektierten Charakter Paganos. Und wenn der Gute halt um Gottes Willen ein Frauenheld sein muss: Könnten dann wenigstens einige der ungezählten Objekte seines Interesses so aussehen, als wären sie nicht direkt dem Playboy entsprungen?

Nachdem meine Fundamentalkritik an der Hauptfigur hiermit erneuert und präzisiert ist, können wir zum Buch selber vordringen. Und auch hier bestätige ich: Bruno Morchio schreibt grossartige Krimis, verliert nie den Überblick über seine Handlungsfäden und webt sie mit meisterhaftem Timing ineinander. War jedoch Wölfe in Genua von einer leichten Eleganz durchzogen, die in der raschen, souveränen Entschlüsselung des Mordes am alten Halunken gipfelte, so ist Kalter Wind in Genua ein roman noir, grimmig und illusionslos. Bacci Pagano durchschaut alles – und alles misslingt ihm. Die Verbündeten schwächeln, die Lizenz wird ihm entzogen, die Faschos der Antiterror-Polizei vermöbeln ihn nach Strich und Faden, und ein alter, berüchtigter Killer, der einem Geist gleich durch die Stadt schleicht, kontert den sonst so instinktsicheren Detektiv zweimal wie einen Schuljungen mit leichter Hand aus. Da hilft es Pagano wenig, dass er die richtigen Spuren verfolgt, die richtigen Schlüsse zieht, die richtigen Warnungen ausspricht: Terroristen und Mafiosi lachen zuletzt; gönnerhaft breiten sie ihr postideologisches Weltbild aus, rücken ihre Verbrechen streng logisch ins beste Licht und geizen nicht mit Spott an den Rechtschaffenen. Von Trost, selbst symbolischem, keine Spur. Man muss wissen: Kalter Wind spielt im Genua der Nullerjahre, kurz nach der Polizeibrutalität am G8-Gipfel, in einem zum Operettenstaat umfunktionierten Italien, wo ehedem progressive Kräfte durch Egoismus und Inkompetenz einem alternden Selbstdarsteller den roten Teppich nicht nur ausgebreitet, sondern auch noch staubgesaugt haben. Hoffnung ist da wahrlich mit der Lupe zu suchen. Morchio deutet sie in winzigen Details an: In ehrlichen Gesprächen, in aufmerksamer Grosszügigkeit lässt er da und dort die menschliche Güte aufscheinen. Auch das ist in seiner Diskretion und Behutsamkeit ganz grosse Kunst.

Technisches: Bruno Morchio, Kalter Wind in Genua. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Zürich, Union 2009 (Unionsverlag-Taschenbuch 444, Reihe metro). ISBN 978 3 293 20444 7. Das italienische Original ist unter dem Titel Bacci Pagano – una storia da carruggi 2004 bei Fratelli Frilli in Genua erschienen.