Dienstag, 18. September 2007

Sägen macht durstig

Mein Besuch in der Heimat am Wochenende war etwas museumslastig. Nicht genug damit, dass ich in Lenzburg dem Glauben nachspürte. Tags zuvor fand zudem die 2. regionale Museumsnacht Michelsamt-Oberwynental statt. Was in den Städten seit Jahren ein Riesenerfolg ist, wird doch wohl auf dem Land auch funktionieren, müssen sich Karl Gautschi und die zwölf teilnehmenden Institutionen zwischen Gontenschwil und Rickenbach gedacht haben. Vielleicht funktioniert das Konzept auf dem Land sogar besser, denn in ein Kunst- oder Historisches Museum gehe ich auch sonst mal – aber würde ich einfach so das Tabakmuseum Menziken besuchen? Oder das Kulturforum Rickenbach? Eben. Am vergangenen Freitag aber stieg ich um 19:05 Uhr in Menziken aus dem Zug und besichtigte daselbst die Alte Sagi und das Tabakmuseum, die Ausstellung der Huwyler-Kreuzwegbilder in der Kirche Rickenbach sowie die Bibliothek und die Kapitelstube des Stiftes Beromünster, um den Abend dann um Mitternacht bei einem Speckplättchen und einem Glas Stiftswein in der Pintenwirtschaft im Haus zum Dolder zu beschliessen... und damit hatte ich nur gerade mal die Hälfte der teilnehmenden Institutionen gesehen. Der Highlights waren viele; herauspflücken muss ich die Alte Sagi in Menziken. In der Dorfsäge von 1801, die seit 1969 ausser Betrieb und dem Zerfall preisgegeben war, werden seit zwanzig Jahren wieder hie und da Bretter gesägt. Seit der Sendung mit der Maus bin ich fasziniert davon, einer Maschine beim Funktionieren zuzusehen. Wenn es sich dabei um eine sehr alte Maschine handelt, kommt noch deren elementare, solide Ästhetik zur Faszination dazu. Deshalb blieb ich fast eine Stunde in der Alten Sagi, arbeitete mich geistig durch die Zahnräder, Wellen und Riemen durch, die die Kraft vom Wasserrad aufs Sägeblatt lenken, und genoss das Schauspiel.

Ach ja, der Titel dieses Posts: Damit rechtfertigten die wackeren Säger im Video, das dem Publikum den Betrieb erläuterte, ihren Umtrunk nach erfolgreicher Arbeit. Am Freitagabend allerdings war ich genau dann in der Säge, als der einzige Regenguss des Abends niederprasselte. Damit wurde das Sägemehl einigermassen aus der Luft gefiltert, und anstatt mir die trockene Kehle spülen zu müssen, machte ich mich nüchtern und frisch auf den Weg durch den weiteren Abend.

Montag, 17. September 2007

Glaubenssache

Der Glaube ist, so die unausgesprochene Prämisse der Ausstellung „Glaubenssache“ des Stapferhauses Lenzburg, etwas radikal Subjektives. Der Besucher kann sich dem nicht entziehen: Schon bevor er die Ausstellung betritt, muss er sich als gläubig oder ungläubig outen; und an drei Serien von Computerterminals, angeordnet wie die Entwerter in der Metro, verdient er sich gleichsam den Eintritt in den nächsten Teil, indem er Fragen zu seinem Glauben beantwortet, deren Auswertung am Ende sein Glaubensprofil enthüllt. Ich beobachte einige der Besucher, wie sie ihren USB-Stick ins Terminal stecken: Sie kleben praktisch davor, decken es durch ihren Körper ab wie einen Bancomaten – und ich verstehe sie: Glaubensfragen sind sehr persönliche, intime Fragen, auf die man nicht so unbefangen öffentlich Antwort gibt. Umso eindrücklicher ist es, dass der Hauptteil der Ausstellung von neun Personen bestritten wird, die uns einen tiefen, ungeschminkten Einblick gewähren in ihren Glauben und ihre Glaubenspraxis: Sie beschreiben ihr Gottesbild; sie erzählen, wie und wann sie beten; sie lassen uns teilhaben an Ritualen ihres Alltags; und sie nehmen uns mit zu ihrem Gottesdienst. Eine Katholikin ist darunter, mehrere Konfessionslose, ein Freikirchler, der jüdische, islamische, hinduistische Glaube sind vertreten; die Glaubensvielfalt der heutigen Schweiz wird abgebildet. Diese Momentaufnahmen werden gleichsam in die Breite gezogen durch eine luftige Wand: Einige Dutzend Objekte hängen da an langen Fäden von der Hallendecke herunter. Sie stehen für ebenso viele Menschen, die sie für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung gestellt haben, stehen in Verbindung mit ihrem Glauben. Die kurzen Erklärungen am Fussboden zeugen unter anderem vom immensen Wert, den diese Objekte dank ihrer Aufladung mit Glauben haben: Ein Kind hat seinen Schutzengel nur widerwillig in die Ausstellung gegeben; eine Sportlerin weiss, dass der nächste Wettkampf hart werden wird, weil ihr Talisman jetzt in Lenzburg hängt; ein jüdischer Mann hat die Gebetsriemen seines verstorbenen Bruders gebracht, weil er die seinen täglich braucht.

Ein Glaubensmosaik aus Film, Ton, Objekten und eigenen Gedanken setzt sich so im Erdgeschoss der Ausstellung zusammen. Das Obergeschoss thematisiert dann, was passiert, wenn diese einzelnen, zum Teil sehr individuellen oder individualistischen Glaubensüberzeugungen zu Religionsäusserungen gerinnen und aufeinander treffen: clash of religions auf schweizerisch gewissermassen. Die Themen liegen nicht fern; drei davon wurden ausgewählt, um in Zeugnissen von Direktbetroffenen beleuchtet zu werden: Sollen in einem christlich geprägten Land wie der Schweiz Minarette gebaut werden dürfen? Sollen in unserer religiös massiv durchmischten Gesellschaft Weihnachtslieder und Krippenspiele weiterhin einen Platz in der Schule haben? Ist es legitim, mit religiösen Symbolen zu werben, konkret mit einer indischen Gottheit auf einem Migrossack? Dass sich im Neben- und Miteinander der Religionen das Profil eines Landes schärft, wird zum Schluss (etwas zu) spielerisch in drei Szenarien für die religiöse Zukunft der Schweiz übersetzt: Was wäre, wenn die Schweiz weniger religiös würde? Polyreligiöser? Christlicher?


Dank der Verlängerung habe auch ich es noch geschafft, mir die Ausstellung anzuschauen. Anderthalb Stunden waren allerdings nicht genügend Zeit für sämtliche Audio- und Videostationen; ich musste mich notgedrungen beschränken. Besonders berührt haben mich neben den Glaubensobjekten die religionslosen Rituale: zu sehen, wie die strukturierende, Halt gebende Funktion von Ritualen vom ursprünglichen religiösen Träger abgelöst und in eine neue Form gegossen werden kann; wie Eltern, die den Glauben ihrer Kindheit nicht mehr haben, die Kraft ritueller Handlungen neu interpretieren. Die Ausstellung zeigt eindringlich, dass jenseits der grossen Worte und der Politiken der Glaube von jedem und jeder in eine persönliche Form gegossen wird. Sie zeigt, dass die Trennlinien unscharf sind, dass die Kategorien verschwimmen. Augenzwinkernd unterstreicht sie dies, indem sie den USB-Stick, auf dem ich mein Glaubensprofil gesammelt habe, am Schluss mit dem Hinweis zurückverlangt, dass die Aufschrift „gläubig“ oder „ungläubig“ nunmehr zu unpräzise sei.

Zu kurz kam für mich jedoch die Frage, weshalb sich trotz dieser Auflösung der Gewissheiten und Traditionen auch in der Schweiz weiterhin heftige Konflikte an religiösen Fragen entzünden. Ist das der alte Unterschied zwischen Glaube und Religion? Greifen wir unwillkürlich zur religiösen Keule, wenn uns in gesellschaftspolitischen Diskussionen die Argumente ausgehen? Ist die wahre Kraft der Religionen die kulturelle Prägung, die sie ausüben? Die kurzen Schlaglichter auf drei Konfliktfelder sind relativ hilflose Versuche, die Vehemenz dieser Auseinandersetzungen zu ergründen und ihre wahren Ursachen offen zu legen. Die Ausstellung ist dort stark, wo sie den individuellen Glauben – unseren und den ihrer ProtagonistInnen – erkennbar macht. Sie stösst dort an ihre Grenzen, wo sie daraus Überlegungen zum Zusammenleben der Religionen ableiten will. Dieses Thema ist zu komplex, um so en passant mehr als nur angestossen zu werden. Und so sind die BesucherInnen, sind ihre Meinung und Interpretation ein weiteres Mal gefordert, nach der Ausstellung, auf dem Heimweg und darüber hinaus.

Mittwoch, 12. September 2007

Der Gesang der Generäle

In unseren heutigen Augen erscheint die griechische Militärdiktatur hauptsächlich absurd: Diese armseligen Obristen, kleine Gestalten mit lächerlichen Schnäuzen, konnten sich vor gerade mal vierzig Jahren in Griechenland an die Macht putschen und sieben Jahre lang ein knöchern konservatives und ultranationalistisches Regime etablieren? Surreal. Tödlich real waren allerdings die Verbannungen und Folterungen. Vom Erleben und Überleben von Folter und von der Hilflosigkeit der Freunde der Opfer erzählt eine Graphic Novel von Andreas Gefe zu einem Szenario von José-Louis Bocquet, Der Gesang der Generäle.

In blaugrauen und rostroten Bildern tasten wir uns Schicht um Schicht an den Kern der Geschichte heran. Zusammen mit einem forschenden Studenten lernen wir den in Paris lebenden griechischen Regisseur Vassili kennen. Wir erfahren, wie sein Besuch in Frankreich 1967 über Nacht zum Exil wurde. Wir lesen von seinem Filmprojekt über die Folteropfer der Junta, das zunächst begeistert gefördert wurde, danach aber aus banalen, zufälligen Gründen scheiterte. Endlich gelangen wir zur Hauptfigur, die alle Stränge und Zeitebenen der Geschichte zusammenhält, zu Lena; wir hören, wie sie mit dem Widerstand in Kontakt geriet, wie sie, die nur das Geheimnis eines Liebesbriefes bewahren wollte, festgenommen und gefoltert wurde, wie sie überlebt hat und weiter überlebt – aber wir kommen nicht wirklich an sie heran. Wir sehen sie kaum. Wir begreifen nicht. Bocquet und Gefe weigern sich – so verstehe ich sie –, die quälenden Fragen zu beantworten, die Rätsel aufzulösen; sie weigern sich, die Folter und das Überleben der Folter in irgendwelche sauberen Bilder zu giessen. Nur Andeutungen gestatten sie sich: Als der Filmemacher dem Studenten Lenas Geschichte erzählt, verzerren sich die Grotesken in der Tapete hinter ihm zu Fratzen und entstellten Gesichtern.

Die Story wirkt ein bisschen verquer, konstruiert: „All das wegen eines Gedichts!“, wundert sich der Student. Und Vassili wirkt etwas pathetisch, wenn er darauf mit vernichtendem Blick antwortet: „Ein Gedicht, das ist die Menschlichkeit an sich! Es gibt nichts Edleres, wofür sich zu leiden lohnte.“ Doch wenn auf den letzten Seiten das Blaugrau zu einem klar-blauen Hintergrund und das Rostrot zu Vassilis tiefrotem Hemd wird, kommt eine Klarheit und Durchsichtigkeit in die Bilder. Vassili hat Lena nicht helfen können und hat trotzdem getan, was zu tun war. Hat er zum Schluss seinen Frieden gefunden? Soweit möglich vielleicht schon.


Technisches: Andreas Gefe, José-Louis Bocquet: Der Gesang der Generäle. Zürich, Edition Moderne 2006. ISBN 978-3-03731-001-4.

Sonntag, 9. September 2007

Strategische Leser

Lange nicht gebloggt, ich weiss. Nachzutragen habe ich zunächst eine Realsatire aus der letztwöchigen Weltwoche. Dort interviewte André Müller Peter Handke. Er spricht ihn auf die Aberkennung des Düsseldorfer Heine-Preises an und auf die Rolle der Grünen dabei – worauf Handke antwortet:

Ja, weil die völlig kulturlos sind. Keiner von denen ist ein Leser, fast keiner. Oder sie lesen strategisch. Es gibt Leute, die lesen ein Buch, und kaum sind sie fertig, glupsch, ist es weg, als wäre das Lesen nur eine Erledigung oder eine Beseitigung des Buches.

Strategische Leser gibt es offenbar nicht nur bei den deutschen Grünen, sondern auch bei der eher liberalen (oder sollen wir sagen nationalkonservativen) Weltwoche-Leserschaft. Der wird nämlich im Kleingedruckten unter dem Interview ein besonderes Angebot gemacht:

Exklusiv für Weltwoche-Leser: Die Zusammenfassung von Peter Handkes Roman «Wunschloses Unglück» kostenlos auf www.getAbstract.com/weltwoche.