Freitag, 29. Juni 2012

Je suis à Cardinal

Heimat – das sind nicht nur alte Mauern und grüne Hügel. Heimat – das sind auch Lebensmittel, die hier wuchsen und nicht in Spanien, Produkte, die hier geschaffen wurden und nicht in China. Das ist auch für den Nicht-Biertrinker das Bier aus der lokalen Brauerei, gebraut mit Wasser, das in Gehdistanz entspringt, aus Gersten und Hopfen, die auf den Feldern rund um die Stadt geerntet wurden. Die Deindustrialisierung unserer Städte betrifft nicht nur den Fabrikarbeiter, sondern auch den Schreibtischtäter hinter seinem Bildschirm. Wie ein jeder seine Wurzeln hat, die er nicht folgenlos abschneidet, so hat auch eine Gesellschaft ihre Wurzeln, ihre kollektive Geschichte, die sich festmacht an und festsetzt in Orten, auf Strassen und Plätzen, in Parks und – Fabriken.

Dies ungefähr ist die Gemengelage in meinem Kopf nach meinem gestrigen Besuch von Je suis à Cardinal. Die wirtschaftlichen Fakten sind bekannt: Konnte 1996 die geplante Schliessung der Freiburger Brauerei Cardinal durch Feldschlösschen noch aufgeschoben werden durch einen regelrechten Volksaufstand, begleitet von Boykottdrohungen und muskulösen politischen Interventionen, so wurde fünfzehn Jahre später das Abwürgen der ausgezehrten und geschwächten Brauerei, die Entlassung der noch siebzig Arbeiter fast schicksalsergeben hingenommen. Der Gegner sass nicht mehr in einem Schloss am Rhein, sondern unerreichbar hoch oben im Norden, in Dänemark: Carlsberg hatte nicht nur Feldschlösschen übernommen, sondern quer durch Europa Brauereien zusammengekauft – nein, nicht Brauereien, vielmehr Markennamen und Produktionskapazitäten, die es nun emotionslos und profitgeil miteinander abzustimmen galt. Bier kann man überall brauen, wo ein Kessel steht, so lautete die Devise… als wäre nicht gerade die Qualität des lokalen Quellwassers das Herz des Gerstensaftes, als wären Handwerk und Tradition frei beweglich auf der Europakarte, nur durch die nackten Kosten gelenkt. Also verschob Carlsberg seine Biere von dort, wo sie herkamen, dorthin, wo gerade Platz war. Es war ein bisschen wie beim Hütchenspieler auf dem Markt: Wo ist die Münze? Na? Hier? Pech gehabt, da ist sie schon längst nicht mehr. Und der stumme Komplize grinst zufrieden.

Aber man schliesst ja auf diese Weise nicht einfach eine Brauerei, man schliesst, beschliesst, Geschichte und Geschichten. Lärm und Geruch (beziehungsweise Gestank, de gustibus non est disputandum) sind verflogen, doch die Seele des Ortes wabert noch durch die leeren Hallen von Cardinal. Man kann die Gebäude, in denen so viele Menschen über Jahrzehnte ihr Herzblut in die Produktion eines Lebensmittels gesteckt hatten, doch nicht einfach so sang- und klanglos abreissen; man muss sich doch von genius loci in gebührender Weise verabschieden. So überlegte die Theaterschaffende Isabelle-Loyse Gremaud und machte sich auf, mit Veteranen von Cardinal zu sprechen, ihre Erinnerungen zu dokumentieren, ihre Anekdoten zu sammeln, ihre Nostalgie und ihre Wut aufzufangen. Und sie brachte all dies zurück an den Ort des Geschehens, öffnete die schweren Rolltore und lud die Bevölkerung ein, in Form eines Theaters Abschied zu nehmen von einem wichtigen Stück Freiburger Industriekultur: Je suis à Cardinal.

Die gewaltigen Hallen sind reingefegt. Stahlträger, Leitungen – Industriearchitektur, nicht schön, nur zweckmässig, und dadurch eben wieder schön. Al Comet von den Young Gods legt einen Soundteppich in die beeindruckenden Raumvolumina, originalen Fabrikationslärm und Elektroklänge. Gelbe Harasse sind Bühnenbild und Bestuhlung in einem. Vier Arbeiter und eine Arbeiterin erzählen von ihrem Leben bei Cardinal, auf Französisch, Hoch-, Berner- und Senslerdeutsch: Die Alltagssprache in der Brauerei war ein funktionales Röstigraben-Sprachgemisch. Durch die teils fragmentarisch, teils ausführlich erzählten Biografien blickt man zurück in die Vergangenheit der Fabrik und der Stadt. Es sind Geschichten aus einer Zeit der Patrons alter Schule, der Lebensstellen – Bier trinkt man immer, Cardinal ist der sicherste Arbeitgeber am Platz, so berichtete mehr als einer. Von Berufsstolz war die Rede: Bei Cardinal zu arbeiten, das war gesucht und renommiert; die betriebliche Pensionskasse datiert aus den dreissiger Jahren; sicher ein Dutzend Handwerksberufe wurden hier ausgeführt und zum Teil auch gelehrt: Brauer natürlich, aber auch Mechaniker jeder Art, Chauffeure, Autolackierer, Wäscherinnen, Stapelfahrer, Schreiner und sogar einen Maurer beschäftigte die Brauerei. Es gab eine Blechmusik und einen Kegelclub, und nach Schichtende traf sich die Cardinal-Familie im Stern, der Beiz beim Eingang, auf ein letztes Bier. Wobei: Was das denn für eine Familie sei, lauter Männer, kritisierte eine Wäscherin die fröhliche Nostalgie – die Frauen seien jedenfalls nach der Arbeit, auch über Mittag, sofort nach Hause geeilt, um dort die hungrigen Mäuler zu stopfen. Der Rückblick verklärt vieles, ohne Frage. Aber die Berichte vom Stolz über die selbständige Arbeit, von der Freude über erfolgreiche Weiterbildungen begeisterten dennoch – und kontrastierten scharf mit den ernüchterten Erzählungen aus den letzten Jahren, die nur noch ein langsames Sterben waren, ohne Neueinstellungen, ohne Lehrlinge, ohne Perspektive. Was die Sibra Holding in den siebziger Jahren vielen Kleinbrauereien angetan hatte, Aufkauf und Schliessung, das widerfuhr nun Cardinal selber.

Die Bearbeitung und Inszenierung dieser Lebensgeschichten überzeugte in nie erwarteter Weise. Das waren kraftvolle, kernige Texte ohne Längen oder Peinlichkeiten, da stimmten Rhythmus und Dramaturgie, da nahmen in Gestalt von Jean-Luc Borgeat, Olivier Havran (der Oedipus in Jocaste Reine), Luc Spori und Niklaus Talman namenlose Arbeiter ein letztes Mal Fleisch und Blut an, und es hätte niemanden erstaunt, wenn die vier am Schluss ein Glas Selbstgebrautes aufgetischt hätten, so lebensnah verkörperten sie die altgedienten Charakterköpfe von Brauern, Mechanikern und Chauffeuren. Wir sahen einen seelenvollen Tribut an ein wichtiges Stück Freiburger Industriegeschichte und ein Abschiedsritual im besten Sinn des Wortes. Das Fabrikgelände an bester Innenstadtlage wurde von Stadt und Kanton übernommen; dort soll in den nächsten Jahren ein Technologiepark entstehen, wie das halt so geht bei der Gentrifizierung. Wer Bier trinkt, weicht am besten aus auf die überall florierenden Mikrobrauereien.

Technisches: Wegen grossen Erfolges gibt es eine kurze Verlängerung: Heute und morgen abend sowie nächste Woche vom vierten bis zum sechsten wird Je suis à Cardinal nochmals gespielt. Ich empfehle den Besuch mit Nachdruck jedem, der es sich einrichten kann. Karten (bzw. Bierdeckel) zu 25 Franken gibt es bei Fribourg Tourisme (026 350 11 00) und mit etwas Glück gewiss auch an der Abendkasse im Empfangshäuschen am Passage du Cardinal.

Sonntag, 24. Juni 2012

Klischee essen Stück auf

Schon vor einigen Jahren hat Direktor Ernst Gosteli ernüchtert festgehalten, das Theater an der Effingerstrasse habe inzwischen wohl den gesamten weltweiten Vorrat an Einpersonenstücken durchgespielt. Für die kleine, knapp kalkulierende Bühne kann jeder zusätzliche Schauspieler potentiell das Budget ins Minus kippen lassen. Umso mehr Kreativität fliesst alljährlich in die Gestaltung des Spielplans, der Klassiker des Repertoires mit neu geschriebenen Stücken kombiniert und sich mit sicherer Hand in der Literatur und beim Film bedient. Zum Saisonschluss gabs einen (grosszügig besetzten) Rückblick ins deutsche Kino der Siebziger: Angst essen Seele auf, Rainer Werner Fassbinders Geschichte über die unmögliche Liebe zwischen einer deutschen Witwe und einem zwanzig Jahre jüngeren Marokkaner.

Das war nun nicht nur episches Theater, sondern geradezu Anti-Theater. Auf der Bühne agierten wandelnde Klischees, mit gröbstmöglichem Meissel geformte Figuren. Keinen Moment konnte man sich dem Fluss der Geschichte überlassen, jede Geste, jeder Satz war über- und zugespitzt. Martin Helstone als Ali musste jenes guttural akzentuierte Infinitiv-Deutsch sprechen, das in Film und Theater den Ausländer markiert. Die bedauernswerte Karo Guthke verkörperte die Kneipenwirtin Barbara als menschgewordenen Fettfleck. Emmis Kinder, Nachbarinnen und Kolleginnen zeigten einen durch keine Konventionen abgemilderten Rassismus: „Schweine sind das, Schweine“ war die typische Reaktion auf die geringste Erwähnung eines Ausländers. So entwickelte sich bedeutungsschwanger, sehr didaktisch und etwas langweilig die zunehmende, brutale Isolation des Liebespaares Emmi und Ali von seiner gesamten Umwelt.

Nach der Pause wurde das Stück vielschichtiger. Als wäre Emmis verzweifelt-utopischer Wunsch wunderbarerweise in Erfüllung gegangen, fanden die beiden Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsreise, die eher eine Flucht war, ein überraschend verändertes Umfeld vor. Noch reserviert, aber durchaus freundlich knüpften die vormals schneidend Feindseligen wieder Kontakte. Doch die Annäherung hatte ihren doppelten Preis: Die meisten suchten Emmis Nähe aus schierem Eigennutz, und sie erkaufte die wieder entstehenden Beziehungen damit, dass sie sich ihrerseits distanzierte – von ihrer neuen jugoslawischen Kollegin beispielsweise, aber auch (andeutungsweise) von ihrem Mann. Mit dem Ende des gegnerischen Sperrfeuers erstarb auch die Schicksalsgemeinschaft zwischen Ali und Emmi. Das Stück schloss jedoch völlig offen – illusionslos und dennoch hoffnungsvoll.

Dass die Geschichte so klischiert erzählt wurde, erschwert ihre Würdigung. Kaum ein Akteur konnte den Holzschnitt seiner Figur nuancieren, aber das schien auch nicht gewollt zu sein. Erwähnung verdienen immerhin Giulietta S. Odermatt, die unter der betulich-naiven Oberfläche ihrer Emmi der schleichenden Entsolidarisierung beklemmenden Ausdruck verlieh, und Robert Runer, der den Kolonialwarenhändler Angermayer als erschreckend lebensnahen Alltagsrassisten porträtierte. Ein Meisterwerk war die Bühne von Peter Aeschbacher, auf der einige wenige Requisiten einzig durch die Lichtregie und das Ziehen eines Vorhangs von der Kneipe zum Treppenhaus, vom Wohnzimmer zum Laden wurden. Die Inszenierung von Regisseur Stefan Meier jedoch war ein sperriges Stück politisch-engagiertes Theater, das wie aus einer fernen Zeit gefallen schien.

Technisches: Angst essen Seele auf wird am Theater an der Effingerstrasse noch die kommende Woche gespielt. Dann ist Saisonschluss, und wir können uns eine Sommerpause lang auf das spannendste Programm freuen, das an der Effingerstrasse in den letzten Jahren angekündigt war. Der Film von Rainer Werner Fassbinder lief vor ein paar Tagen bei arte und ist deshalb noch bis am Mittwoch in der arte-Videothek abrufbar.

Freitag, 15. Juni 2012

Lions, Tigers, and Women

Ich kann nicht über den letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater Bern berichten, ohne zuvor eine kurze kulturpolitische Anmerkung zu machen. Auf diesen Sommer fusionieren Stadttheater und Berner Sinfonieorchester zu Konzert Theater Bern. Bereits über diese Fusion wie über den wahnsinnig originellen neuen Namen liesse sich trefflich debattieren; mir geht es aber um die Personalpolitik. Ein neuer Direktor wurde engagiert, Stephan Märki, Generalintendant des renommierten Deutschen Nationaltheaters in Weimar, und wie üblich und wohl unvermeidlich in solchen Fällen folgten weitere Rochaden auf den leitenden Posten. Anfang Mai erfuhr man, dass der Vertrag mit Ballettchefin Cathy Marston, die gerne in Bern geblieben wäre, nach Ablauf der nächsten Saison nicht verlängert wird.

Nun stelle ich nicht in Frage, dass es bei unterschiedlichen Ansichten in dieser Konstellation natürlich der (neu verpflichtete) Chef ist, welcher bleibt, seine Untergebene, die gehen muss. Enttäuscht hat mich hingegen, wie sang-, klang- und stillos die Ballettchefin abserviert wurde. Der neue Intendant wird mit ein paar formelhaften Worten des Bedauerns zitiert, um dann spitz anzumerken, die Sparte Tanz müsse mutiger werden. Mutiger, aha. Und das lässt ihm der Stiftungsrat widerspruchslos durchgehen? Hat denn niemand der am Entscheid Beteiligten Marstons Arbeit in den letzten Jahren verfolgt? Hat keiner darauf hingewiesen, oder mindestens begriffen, was sie Bern alles gebracht hat? Dabei ist die Liste doch lang: ihr zugänglicher, komplexlos ästhetischer Stil (eine Wohltat nach dem bemüht intellektuellen Tanz unter Stijn Celis); ihre Fähigkeit, Geschichten – wahre und erfundene – auf die Tanzbühne zu bringen, die man dort nicht erwartet hätte; ihre präzise Analyse der Figuren, ihr intensives, aber nie plakatives Sezieren von Gedanken und Gefühlen; ihr freudiges Zugehen aufs Publikum mit öffentlichen Proben und Tryouts; ihre schrankenlose Offenheit gegenüber der restlichen Berner und weiteren Kulturszene, die sich insbesondere in der kreativen, respektvollen musikalischen Zusammenarbeit gezeigt hat.

Geradezu exemplarisch war dies alles im letzten, eindrücklichen Ballettabend der Saison zu besichtigen, Lions, Tigers,and Women. Nach For Play, einem athletischen, rasanten, farbenfrohen Stück der New Yorker Choreografin Andrea Miller zu Musik von Bach und Moderneren, stellt Cathy Marston im zweiten Teil, Hunting Me, die Grosswildjägerin Vivienne von Wattenwyl ins Zentrum. Die Geschichte ist bekannt von Lukas Hartmann und aus dem Naturhistorischen Museum: Die englisch-bernische Burgerstochter begleitete ihren Vater, den Abenteurer Bernhard Perceval von Wattenwyl, auf Safari nach Afrika; nachdem er durch einen Löwen zu Tode gekommen war, übernahm die Dreiundzwanzigjährige die Leitung der Expedition und schoss die restlichen geplanten Grosswildeinheiten. Auf der Bühne des Stadttheaters sind aber kaum Jagd- oder Heldengeschichten zu sehen. Der Fokus liegt fast durchgehend auf dem Innenleben der seltsamen Jägerin, die dem nervösen, safaribeigen Umfeld im langen blauen Kleid fast entrückt scheint. Die Musik kommt live von der Pamela Méndez Band, ein jazziger Pop in düsterer Clubatmosphäre; Band und Tänzer teilen sich die Bühne. Die Bund-Kritikerin bemängelte dies als letztlich unsinnigen Wettstreit zwischen Tanz und Musik; für mich ist es eher ein Beleg für die Absenz jeglicher Eitelkeit bei der Ballettchefin, die sich auf eine gleichwertige Partnerschaft mit der Sängerin eingelassen hat, weit entfernt davon, einfach eine Begleitmusik für ihr Ballett einzukaufen. Allerdings war die Musik der schwächere Part in diesem Duett; besonders im schlichten Solostück am Schluss stiess Pamela Méndez‘ Stimme hörbar an ihre Limiten.

Eine Saison des Bern:Balletts mit Cathy Marston bekommen wir noch, immerhin, und die werde ich als kostbares Erlebnis geniessen. Spannend tönt alles, ganz besonders freue ich mich aber auf die erneute Zusammenarbeit mit der Camerata Bern in einem Stück über Anna Göldi.

Technisches: Die Dernière geht in diesen Minuten über die Bühne. Weiter nachgelesen werden kann das Social-Media-Experiment zur Begleitung des Stücks, nämlich Vivienne von Wattenwyls Blogeinträge und Twitter-Posts; Bewegtbilder gibts bei art-tv.ch. Zu einer völlig gegenteiligen, vernichtenden Kritik – soweit ich seine überladen-selbstverliebte Prosa richtig entschlüsselt habe – kommt poltron auf tanznetz.de.

Montag, 4. Juni 2012

Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart

Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs, zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen, christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen; bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.

Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete). Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen Menschen niederzureissen versuchten.

Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete, durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende Religion.

Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor erschienene Monumentalwerk Der Glaube. Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980 Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.

Technisches: Hubertus Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss. Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.