Ich kann nicht über den letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater
Bern berichten, ohne zuvor eine kurze kulturpolitische Anmerkung zu machen. Auf
diesen Sommer fusionieren Stadttheater und Berner Sinfonieorchester zu Konzert Theater Bern. Bereits über diese Fusion wie über den wahnsinnig originellen
neuen Namen liesse sich trefflich debattieren; mir geht es aber um die Personalpolitik. Ein neuer Direktor wurde engagiert, Stephan Märki, Generalintendant des
renommierten Deutschen Nationaltheaters in Weimar, und wie üblich und wohl
unvermeidlich in solchen Fällen folgten weitere Rochaden auf den leitenden
Posten. Anfang Mai erfuhr man, dass der Vertrag mit Ballettchefin Cathy Marston,
die gerne in Bern geblieben wäre, nach Ablauf der nächsten Saison nicht
verlängert wird.
Nun stelle ich nicht in Frage, dass es bei unterschiedlichen
Ansichten in dieser Konstellation natürlich der (neu verpflichtete) Chef ist,
welcher bleibt, seine Untergebene, die gehen muss. Enttäuscht hat mich hingegen,
wie sang-, klang- und stillos die Ballettchefin abserviert wurde. Der neue
Intendant wird mit ein paar formelhaften Worten des Bedauerns zitiert, um dann spitz
anzumerken, die Sparte Tanz müsse mutiger werden. Mutiger, aha. Und das lässt ihm
der Stiftungsrat widerspruchslos durchgehen? Hat denn niemand der am Entscheid
Beteiligten Marstons Arbeit in den letzten Jahren verfolgt? Hat keiner darauf
hingewiesen, oder mindestens begriffen, was sie Bern alles gebracht hat? Dabei
ist die Liste doch lang: ihr zugänglicher, komplexlos
ästhetischer Stil (eine Wohltat nach dem bemüht intellektuellen Tanz unter
Stijn Celis); ihre Fähigkeit, Geschichten – wahre und erfundene – auf die
Tanzbühne zu bringen, die man dort nicht erwartet hätte; ihre präzise Analyse
der Figuren, ihr intensives, aber nie plakatives Sezieren von Gedanken und
Gefühlen; ihr freudiges Zugehen aufs Publikum mit öffentlichen Proben und Tryouts;
ihre schrankenlose Offenheit gegenüber der restlichen Berner und weiteren
Kulturszene, die sich insbesondere in der kreativen, respektvollen musikalischen
Zusammenarbeit gezeigt hat.
Geradezu exemplarisch war dies alles im letzten, eindrücklichen Ballettabend
der Saison zu besichtigen, Lions, Tigers,and Women. Nach For Play, einem
athletischen, rasanten, farbenfrohen Stück der New Yorker Choreografin Andrea
Miller zu Musik von Bach und Moderneren, stellt Cathy Marston im zweiten Teil, Hunting Me, die Grosswildjägerin Vivienne
von Wattenwyl ins Zentrum. Die Geschichte ist bekannt von Lukas Hartmann und
aus dem Naturhistorischen Museum: Die englisch-bernische Burgerstochter begleitete
ihren Vater, den Abenteurer Bernhard Perceval von Wattenwyl, auf Safari nach Afrika;
nachdem er durch einen Löwen zu Tode gekommen war, übernahm die Dreiundzwanzigjährige
die Leitung der Expedition und schoss die restlichen geplanten Grosswildeinheiten.
Auf der Bühne des Stadttheaters sind aber kaum Jagd- oder Heldengeschichten zu
sehen. Der Fokus liegt fast durchgehend auf dem Innenleben der seltsamen
Jägerin, die dem nervösen, safaribeigen Umfeld im langen blauen Kleid fast
entrückt scheint. Die Musik kommt live von der Pamela Méndez Band, ein jazziger
Pop in düsterer Clubatmosphäre; Band und Tänzer teilen sich die Bühne. Die
Bund-Kritikerin bemängelte dies als letztlich
unsinnigen Wettstreit zwischen Tanz und Musik; für mich ist es eher ein Beleg für
die Absenz jeglicher Eitelkeit bei der Ballettchefin, die sich auf eine
gleichwertige Partnerschaft mit der Sängerin eingelassen hat, weit entfernt
davon, einfach eine Begleitmusik für ihr Ballett einzukaufen. Allerdings war
die Musik der schwächere Part in diesem Duett; besonders im schlichten
Solostück am Schluss stiess Pamela Méndez‘ Stimme hörbar an ihre Limiten.
Eine Saison des Bern:Balletts mit Cathy Marston bekommen wir
noch, immerhin, und die werde ich als kostbares Erlebnis geniessen. Spannend
tönt alles, ganz besonders freue ich mich aber auf die erneute Zusammenarbeit
mit der Camerata Bern in einem Stück über Anna Göldi.
Technisches: Die
Dernière geht in diesen Minuten über die Bühne. Weiter nachgelesen werden kann das
Social-Media-Experiment zur Begleitung des Stücks, nämlich Vivienne von
Wattenwyls Blogeinträge und Twitter-Posts; Bewegtbilder gibts bei art-tv.ch. Zu
einer völlig gegenteiligen, vernichtenden Kritik – soweit ich seine überladen-selbstverliebte
Prosa richtig entschlüsselt habe – kommt poltron auf tanznetz.de.
Freitag, 15. Juni 2012
Lions, Tigers, and Women
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Fämios, du weisst ja noch sonst so viel reizende Lieder, / Thaten der Menschen und Götter, die unter den Sängern berühmt sind; / Singe denn davon eins [...] Allein mit jenem Gesange / Quäle mich nicht, der stets mein armes Herz mir durchboret. / Denn mich traf ja vor allen der unaussprechlichste Jammer! ;-) poltron
AntwortenLöschenNenne den Mann mir, Muse, den schrecklichen, ohne Erbarmen, / ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Kummer erregte! / Gleich wie ein Speer, ein scharfer, von mächtigem Arme geschleudert, / Schild und Panzer durchschlägt und fest sich bohrt ins Gekröse, / also schnellt Poltrons Wort, das gefiederte, unter die Berner, / auszulöschen den Tanz und des Leierspiels Saiten zu schneiden.
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