Freitag, 31. August 2012

Freiburger Klassik

Freiburg ist nicht Weimar und schon gar nicht Athen. Aber es gibt wohl in der Geschichte jeder Stadt Perioden, die etwas Klassisches an sich haben; Zeiten, in denen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umstände sich gegenseitig so in die Hände spielen, dass künstlerische oder denkerische Genialität in hoher Dichte aufleuchten kann. Eine solche Zeit war für Freiburg die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo in der Stadt ein intensives, hochstehendes und unerwartet gut erhaltenes Skulpturschaffen stattfand. Fünf Bildhauerwerkstätten waren teils neben-, teils nacheinander in der Stadt aktiv: diejenige des nicht namentlich bekannten „Meisters der grossen Nasen“, diejenigen von Martin Gramp, Hans Roditzer, Hans Geiler und (als letztem, alle überstrahlend) Hans Gieng. Alle Meister waren wohl aus dem süddeutschen Raum, damals das Zentrum der Bildhauerkunst, ins Uechtland gezogen und fanden dort Arbeit, Brot und bescheidenen Ruhm.

Wohlgemerkt: Erwähnenswert ist nicht die Tatsache, dass es in Freiburg Bildhauer gab. Solche gehörten für eine Stadt ab einer gewissen Grösse jahrhundertelang zum unverzichtbaren Personal, galt es doch, profane und geistliche Gebäude gleichermassen plastisch auszuschmücken: Stadttore, Repräsentationsbauten und beispielsweise Brunnen bedurften einer Ikonografie der Macht, und in den vielen Kirchen verlangten dutzende von Altären nach Ausstattung mit Statuen und Reliefs. Machtbewusste Bürger und Magistraten, fromme Bruderschaften, ehrgeizige Pröpste, Äbte und Kapitularen waren die grosszügigen und wohl kalkulierenden Auftraggeber. Erwähnens- und dokumentierenswert ist vielmehr, dass das kleine Freiburg über fünfzig Jahre keine Dutzendware, sondern eine so hochstehende Skulpturenproduktion hervorbrachte. Die Gründe für diese kleine Freiburger Klassik sind natürlich vielfältig. Reichtum und Einfluss der Stadt wuchsen durch ihre territoriale Expansion (sprich Eroberungen) zu Beginn des 16. Jahrhunderts beträchtlich an. Die städtischen Eliten waren international gut vernetzt. Auch der Statusgewinn der Stadtpfarrei spielte eine Rolle, der durch die päpstliche Errichtung des Stiftskapitels zu Sankt Nikolaus vor genau 500 Jahren gekrönt wurde. Nicht zu vergessen sind ferner die Konsequenzen der Reformation im näheren Umkreis: Das bilderstürmerische Bern hatte zwar die entsprechenden Fachkräfte vertrieben, war aber für profanen Schmuck weiterhin auf Bildhauer angewiesen. So schuf denn Hans Gieng die berühmten Berner Brunnenstöcke – womit zuletzt auch die wichtigste Ingredienz solcher Glanzzeiten erwähnt ist, das künstlerische Genie.

Die Freiburger Skulptur der Jahrzehnte nach 1500 war in den letzten Jahren Gegenstand eines umfangreichen Nationalfondsprojekts. Erarbeitet wurde nichts weniger als ein Catalogue raisonné, ein imposantes Werk in zwei Bänden, dazu gewissermassen als populärwissenschaftliche Ergänzung ein etwas zugänglicherer Bildband: Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas. Und da man Statuen am besten in echt betrachtet, analysiert und vergleicht, trug das Musée d’art et d’histoire Fribourg einen Grossteil der erhaltenen Werke der fünf erwähnten Meister aus Kirchen, Kapellen, Klöstern und eigenen Beständen zu einer Überblicksausstellung zusammen. Beides zusammen bot eine Einführung in diese Freiburger Klassik und ermöglichte eine vergleichende Würdigung dieser verstreuten und oft übersehenen Werke.

Ausstellung wie Bildband schienen freilich auf den ersten Blick etwas unklar gegliedert. Im Museum starteten wir in einem grossen, reichen Raum, von der Fülle der Retabel fast erschlagen, während andere Statuen und Details einzelne Aspekte vertieften. Erst im zweiten Teil wurden die Techniken erläutert und die fünf Werkstätten vorgestellt und charakterisiert. Dem optischen Genuss tat dies keinen Abstrich, aber umgekehrt wäre mir logischer erschienen. Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: „Mit Bildern leben“, „Wie die Statuen entstanden“ und „Reichtum, Ansehen, Macht“. Der Erzählfaden beginnt bei den in der Stadt sichtbaren Skulpturen, vor allem den Brunnen, geht dann zu den Heiligenfiguren und Retabeln über, um dann mittendrin die Akteure vorzustellen, nämlich sowohl die wichtigen Auftraggeber als auch die Künstler und ihre Technik, und zum Schluss auf die Selbstdarstellung von Zünften, Klerus und Obrigkeit mittels Skulpturen zu sprechen zu kommen. Ich fand das etwas zufällig, hätte das ganze vermutlich anders arrangiert, muss aber nach der Lektüre unumwunden zugeben, dass diese Gestaltung Sinn und ein Ganzes ergibt, vor allem, wenn sie in einem Schwung gelesen wird – was wiederum eigentlich nicht schwierig ist, da das Buch in erster Linie ein Bilderbuch ist und an einem ruhigen Abend ohne weiteres bewältigt werden kann. Zum Gesamtkatalog kann ich mich nicht äussern, da ich diesen aus Mangel an Regalplatz und spezifischem Interesse nicht beschafft habe. Bildband und Ausstellung hingegen ermöglichten dem breiten Publikum einen kompakten Einblick und schufen ein umfassendes Verständnis.

Technisches: Die Ausstellung „Sculpture 1500“ war im MAHF vom 14.10.2011 bis zum 19.02.2012 zu sehen gewesen. Die Begleitpublikation ist sowohl auf Deutsch (hier zitiert) als auch auf Französisch erschienen: Jean Steinauer et al., Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas. Fotografien von Primula Bosshard, Übersetzung von Hubertus von Gemmingen. Baden, hier+jetzt 2011. ISBN 978 3 03919 227 4. Der Gesamtkatalog ist im Imhof-Verlag erschienen: Stephan Gasser, Katharina Simon-Muscheid, Alain Fretz und Primula Bosshard (Fotos): Die FreiburgerSkulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung Funktion und Auftraggeberschaft. Band 1: Text, Band 2: Katalog. Petersberg, Michael Imhof Verlag 2011. ISBN 978 3 86568 626 8.

Donnerstag, 23. August 2012

Mit Chrüüz und Fahne

Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen Gesellschaft.

Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus. Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder. So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant, wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.

Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt, wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.

Technisches: Mit Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt; sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige Theaterteam.