Montag, 31. Dezember 2012

So vergeht Jahr um Jahr

Altjahreswoche, etwas Zeit zum Zurückblicken und -denken. Ein reiches Jahr spannt seine letzten Fäden. Ungezählte Erinnerungen werden bleiben als Schatz der kommenden Jahre, einige unübersehbar, andere so gering, dass sie mir erst nach langer Zeit wieder zufällig durch den Kopf schiessen werden. Etwas handfester ist die Zahl, die hier gleich rechts steht: Um 35 Artikel ist Phemios Aoidos dieses Jahr gewachsen, hat dabei seinen fünften Geburtstag gefeiert und (inkognito) die Zweihundertfünfzigermarke überschritten. In reinen Zahlen setzt sich der lange Negativtrend fort. Das wird sich ganz sicher nicht nächstes Jahr ändern, in dem sich der Fokalpunkt meines Lebens und meiner Energie massiv verschieben wird, und in dem radikal neu definiert wird, was wichtig und was dringend ist. Ich entlasse diesen Blog also in eine ungewisse Zukunft. Das Schreiben war mir nie in dem Masse Sauerstoffersatz, als dass ich für künftige hektische Phasen mir daraus Besinnung und Erholung versprechen würde. Zugleich weiss ich: Prognosen sind nicht mein Ding, und das Leben hat an sich, dass es am laufenden Band für Überraschungen sorgt. Darum wünsche ich ganz simpel hier und heute uns allen einen guten Jahreswechsel und ein frohes neues Jahr, offene Augen und Ohren – und reichlich Material, um sie zu füllen.

Donnerstag, 27. Dezember 2012

Blaubart

Wer den abendländischen Kanon intus hat, kann getrost jederzeit ohne spezifische Vorbereitung ins Theater gehen. Alle anderen haben jeweils zwei Optionen: sich zuvor etwas einlesen, oder es drauf ankommen lassen. Ich habe zwar auch schon ein ganzes Buch durchgearbeitet, um für einen Ballettbesuch einigermassen auf dem Laufenden zu sein. In der Woche vor Weihnachten haben mich jedoch Fest- und andere Vorbereitungen sowie ein Schuss Abenteuerlust dazu gebracht, mir im Stadttheater Bern Blaubart anzusehen, ohne auch nur einen Blick in die Wikipedia geworfen zu haben.

Da B. auch nicht ausführlicher belesen war, konnten wir unbelastet von jeglicher Voreingenommenheit in das Stück eintauchen – und dabei ein Konzeptkunstwerk entdecken. Die Inszenierung von Max Frischs letztem grossem Prosastück ist gewissermassen das Aushängeschild der ersten gemeinsamen Saison des Berner Hochkultur-Trägers Konzert Theater Bern: ein Abend, an dem Schauspiel, Sinfonieorchester, Oper und Ballett auch auf der Bühne fusionieren wollten. Und so sah das aus: Auf einem dünnen Vorhang erzählten ineinander gemorphte Schwarzweissbilder rückwärts die Geschichte eines Autounfalls, und eine surreale Videosequenz zeigte die Protagonisten in einem an Sisyphos gemahnenden Duell. Dazwischen schälten die Scheinwerfer einzelne Zimmer eines überdimensionierten, dreistöckigen Puppenhauses aus dem Dunkel hinter der Leinwand, in denen sich zwischen Alltagsszenen finstere Auftritte eines Racheengels mischten. Aus dem Orchestergraben erklang dazu Franz Schrekers Kammersinfonie, ein akut expressionistisches Werk, das einer Filmmusik nicht unähnlich düstere Ahnungen anklingen liess. Und das war erst der Anfang.

Das mag chaotisch tönen und war es auch – aber diese alle Gattungs- und Genregrenzen umstossende Inszenierung erwies sich als dem Werk auf intensive Weise angemessen. Max Frischs Blaubart spielt im Wesentlichen im Kopf und in den Träumen des Dr. Felix Schaad, der vom Vorwurf, seine sechste Ehefrau erwürgt zu haben, zwar trotz beunruhigender Indizien freigesprochen wurde, in der Schuldfrage jedoch verstrickt bleibt, den Prozess mit seinen ausführlichen Zeuginnenbefragungen obsessiv in seinen Gedanken nachspielt, von queren und schweren Träumen verfolgt wird, ein unerwünschtes Geständnis ablegt und schliesslich verunfallt. Da ist wenig Klarheit und Logik, viel Verwirrung und Unverständnis; und dass diese Gemengelage nicht nur durch schrille Szenen und unvermittelte Übergänge auf die Bühne gebracht wird, sondern dass da aufs Mal eine Arie einen Traum kommentiert, dass geistliche Musik das Pathos einzelner Gedanken schroff überhöht, dass Figuren unerwartet in Bewegung übergehen, ist letztlich nur eine Illustration jener Grenzüberschreitungen, die in der Vorlage bereits vorhanden und vollzogen sind. Die Akteure sind allesamt zu loben: Stéphane Maeder als düsterer Dr. Schaad, Henriette Cejpek als Staatsanwältin und Racheengel und beides im Gleichen, Milva Stark, die den absurden Reigen der Zeuginnen inkarnierte, Claude Eichenberger, die der toten Ehefrau eine sehr lebendige Sopranstimme verlieh. Missglückt ist einzig der Einbezug des Balletts. Das liegt nicht an Irene Andreetto, die ihre Rosalinde präzis erfasst und mit dosierter Überzeichnung charakterisiert hat, vielmehr an einer Regie, die in ihrem Gesamtkonzept für den Tanz keinen Platz gefunden hat, der über ein paar agitierte Bewegungen hinausgegangen wäre. Ehrlicher wäre vielleicht gewesen, auf den hohen politischen Anspruch und die Beteiligung des Ballettensembles zu verzichten. Und ich weiss nicht recht, was ich angesichts der jüngsten Diskussionen über die Zukunft des Tanzes am Stadttheater dabei fühlen soll: Unbehagen, dass ausgerechnet diese Sparte in die Gemeinschaftsproduktion nur alibimässig integriert wurde, oder Erleichterung, dass sie trotz mangelnder Verwendung mit einbezogen wurde?

Technisches: Blaubart steht in Bern noch am 5. Januar auf dem Programm. Habe ich schon erwähnt, dass ich die neue Website von Konzert Theater Bern nur für mässig geglückt halte? Designer und Programmierer haben alles gegeben, das Navigieren ist ein spektakuläres Erlebnis; aber auf dem Smartphone sehe ich nur die Hälfte, und wie ich einen Link nicht auf eine spezifische Vorstellung, sondern auf ein Stück setzen kann, erschliesst sich mir nicht. Wen ich oben gelegentlich ins Leere schicke, bitte ich mit dieser Beschwerde präventiv um Entschuldigung.

Samstag, 15. Dezember 2012

Kapitale Erfindungen

Das Landesmuseum Zürich beweist wissenschaftliche Kühnheit, ein so gewichtiges und spannendes, aber komplexes und wenig anschauliches Thema wie die Herausbildung des Kapitalismus in einer Sonderausstellung umzusetzen: Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zu ihren Blütezeiten im Mittelalter beziehungsweise in der frühen Neuzeit wurden in diesen beiden Städten wesentliche Elemente unserer heutigen Wirtschaftsordnung entwickelt. In Analogie zur kulturell-literarischen Klassik liesse sich von einer „ökonomischen Klassik“ sprechen, um das fruchtbare, komplexe Zusammenspiel einer jeweils idealen geografischen Lage, einer atypischen politischen Situation, einer kreativen Denkweise und weiterer Einflüsse zu charakterisieren. Das führte zur Entstehung von neuen und bis heute unabdingbaren Konzepten und Finanzierungsmodellen, zur scharfen Konzentration aller staatlichen und privaten Anstrengungen auf den Handel sowie zu unermesslichem Reichtum – in erster Linie für die führenden Familien, aber in beschränktem Mass auch für eine entstehende, schmale Mittelschicht. Und mit dem Verlust der günstigen Rahmenbedingungen ging in Venedig wie in Amsterdam ein gleiches Symptom für den Niedergang einher: der Abschied der Kaufleute vom risikoreichen Handel und der Rückzug auf den Genuss ihres Vermögens. Parallelen zur Gegenwart werden am Schluss mit einem unerwarteten Schwenk auf China explizit angedeutet, sind aber in der ganzen Ausstellung präsent.

Soviel zum Thema. Nun soll ein Museum aber Geschichte anhand von Gegenständen erzählen; wer es besucht, will keine Texte lesen, sondern Objekte sehen und dann den notwendigen Kontext dazu erfahren. Es zeigt sich, dass das bei diesem Thema kaum möglich ist. Die Ausstellungsmacher haben zwar grosse Kreativität bewiesen und kaum einen Aufwand gescheut: Beispielsweise haben sie das halbe Museo Correr aus Venedig als Leihgabe nach Zürich geholt. (Aus den eigenen Beständen des Nationalmuseums konnte zu diesem Thema kaum etwas beigesteuert werden.) Viele der gezeigten Gegenstände haben jedoch nur eine entfernt illustrative Funktion und stehen deshalb etwas verloren da. Und viele spektakuläre Stücke sind nur als Kopien zu sehen – punktuell zwar akzeptabel, aber für ein Museum eigentlich ein Unding. Nur einige wenige Objekte haben ein echtes Wow-Erlebnis erzeugt: Eindrücklich sind etwa die kürzlich wiederentdeckte älteste Aktie der Welt, oder die detaillierten Modelle der Brenta-Villen, starke Symbole für den Rückzug der reichen Venezianer ins Private in der Zeit des Niedergangs. Doch lässt sich im Ganzen nicht überdecken, dass die Texte und Filme der zentrale Inhalt der Ausstellung sind. Die sind freilich magistral, auf den Punkt formuliert, in der richtigen Länge und Ausführlichkeit, im besten Sinne didaktisch. Aber soll man deswegen nach Zürich reisen?

Die Frage ist umso berechtigter, weil das Landesmuseum zu seiner Ausstellung den vielleicht genialsten Katalog veröffentlicht hat, der mir bislang unter die Augen gekommen ist: Für zwanzig Franken erhält man ein kleines (Reclam-Format), hochwertiges Bändchen, gebunden, mit goldfarbenem Umschlag und Lesezeichen, das neben Einleitung und ausführlichem Glossar auf 270 Seiten genau vier Essays enthält, zwei zu Venedig, zwei zu Amsterdam. Die Texte sind meisterhaft geschrieben, lesen sich flüssig und logisch, bieten mit sicherer Hand die Einordnung und die Gesamtsicht, welche die Ausstellung nicht in dieser Konsequenz leistet. Ich habe es noch auf der Rückfahrt begonnen und mühelos praktisch in einem Zug gelesen. Und wenn ich wählen müsste zwischen dem Ausstellungsbesuch und der Kataloglektüre, würde ich mich ohne Zögern für letzteres entscheiden.

Technisches: Die Ausstellung „Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam“ ist im Landesmuseum Zürich noch bis am 17.02.2013 zu sehen. Im Eintrittspreis von 10 Franken ist neben den Sonderausstellungen auch die spektakuläre Dauerausstellung inbegriffen. (Bernisches Historisches Museum, hörst du mich? Dagegen siehst du mit deinen Fantasiepreisen ziemlich alt aus.) Der Katalog: Walter Keller (Hrsg.), Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zürich, Kein&Aber 2012. ISBN 978 3 0369 5653 4.

Freitag, 7. Dezember 2012

Einsamer Wolf

Findige Verleger haben es längst gemerkt: An Ferienerinnerungen lässt sich im Literaturmarketing trefflich anknüpfen. Was Donna Leon recht war, soll mir billig sein, scheint sich manch einer zu sagen; und so übertreffen sich die Klappentexte gegenseitig mit der Versicherung, umstehend lasse sich in das authentische Florenz, Triest, Bologna oder Sardinien eintauchen. (Die Rezensenten spielen das Spiel denn auch brav mit, sprechen von der „lebendigen, bunten Schilderung der Stadt“ oder halten mit der nötigen Dosis Kritik fest, dass der Autor seine Stadt „alles andere als idyllisch [schildert], aber so liebevoll, dass man gleich hinfahren möchte.“) Einen Stapel solcher Bücher, allesamt Krimis und meist in Italien spielend, hat mir L. vor einiger Zeit ausgeliehen. Da ist ziemlich alles dabei, vom schalen Misserfolg Das Geheimnis der Signora, dessen Florentiner Lokalkolorit sich auf eine Vorbeifahrt am Ponte Vecchio beschränkt, bis zu Valerio Varesi, der seinen Commissario Soneri in komplexen Szenarien durch den Nebel der Bassa Padana streifen lässt und von dem ich mir inzwischen sogar ein Buch auf Italienisch gekauft habe. Inzwischen bin ich fast durch, bin auf meiner Reise durch Italien in Genua angelangt, und stelle gewisse Ermüdungserscheinungen fest: All dieser Lokalkolorit, dieses beiläufig-eifrige Namedropping, die beflissenen Erklärungen des Eingeborenen und die oft kunstvoll distanzierte Schreibe wiederholen sich allmählich ein bisschen. Und Bruno Morchio macht es einem bei der ersten Begegnung mit seinem Ermittler Bacci Pagano auch nicht gerade leicht: Dieser altgediente Schnüffler, der seine tiefgründigen Reflektionen im Korbsessel auf dem Balkon inszeniert und selbstgefällig mit allem ins Bett steigt, das einen Rock trägt, erstickt beinahe unter den dicken Schichten von Klischees.

Wer dem Reiz widersteht, Wölfe in Genua umgehend wieder wegzulegen, wird jedoch mit einer starken Geschichte und einer souveränen Dramaturgie belohnt. Ein fait divers wie aus einem Fantasyroman steht am Anfang: In den Wäldern über Genua ist ein alter Mann offensichtlich von einem Wolf totgebissen worden. Wilde Wölfe gibt’s dort gar nicht, aber der Mann hatte seit kurzem eine gut dotierte Lebensversicherung, und überdies eine schöne junge Frau aus Panama. Das riecht natürlich nach Ärger, zunächst für die Versicherung, dann für die Frau und schliesslich noch für andere. Morchio spinnt seine Fäden mit Bedacht, lässt Pagano überall Witterung aufnehmen, trifft präzise die Ambivalenz zwischen abgebrühtem Instinkt und ungeschützter persönlicher Verwicklung. Der Plot entwickelt sich konstant und schlüssig, kein Schritt kommt zu schnell, kein Faden bleibt unverknüpft, nichts ist an den Haaren herbeigezogen, und wenn ein Deus ex machina gebraucht wird, erscheint er in unaufgeregter menschlicher Gestalt.

Ärgerlich ist einzig, dass das grosse Lesevergnügen durch ein paar Dummheiten getrübt wird. Paganos überdrehtes Mackergehabe habe ich schon erwähnt; es kulminiert in einem Abend, an dem er sich zunächst mit seiner Ex-Frau hemmungslos betrinkt und gleich danach seiner neusten, nie überwundenen Verflossenen in die Arme und ins Bett fällt. Das ist nur noch kitschig; und reichlich sozialkitschig ist auch die Freundschaft des Detektivs zum Sohn seiner nubischen Putzfrau (und Affäre, klar), der ihm dafür in Genuas Immigrantenbars die Kastanien aus dem Feuer holen muss. Wenn das alles originell sein soll, so ist es für mich verschwendete Originalität – aber ohne Schaden überles- und -stehbar, und somit nur ein kleiner Abstrich an der Stilnote für einen ansonsten magistralen Krimi.

Technisches: Bruno Morchio, Wölfe in Genua. Roman. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Zürich, Union 2007. ISBN 978 3 293 00389 7. Original erschienen bei Fratelli Frilli, Genua, 2004, unter dem Titel Maccaia. Una settimana con Bacci Pagano.

Donnerstag, 29. November 2012

The Angels' Share

Solange ein Whisky im Fass reift, schwindet er: Durch das Holz verdunsten alljährlich etwa zwei Prozent des Volumens. „The Angels‘ Share“, den Anteil der Engel, nennt man diesen Verlust, der durch sein Verschwinden Konzentration und Qualität des Rests erhöht. Whiskyliteratur und Destillerieführer weisen gerne und mit Augenzwinkern auf dieses wesentliche Element im Entstehungsprozess hin – und es ist ja auch eine wunderschöne Geschichte: Sie verdeutlicht den Preis der Reifung, spielt auf die vielen nicht kontrollierbaren Elemente bei der Entstehung eines guten Whiskys an und hat einen Anklang von antikem Trankopfer an die Unsterblichen.

The Angels‘ Share heisst auch der neueste Film von Ken Loach, dem britischen Regisseur, der immer auf die sozialen Brennpunkte und die entscheidenden historischen Momente fokussiert. Dass er sich mit etwas Raffiniertem, Luxuriösem wie Malt Whisky beschäftigt, ist auf den ersten Blick überraschend – und es ist tatsächlich ein langer Weg, der von den Glasgower Vorstädten in die Destillerien der Highlands führt. Loach beginnt im Gerichtssaal, wo Kleinkriminelle, Marginalisierte, Sozialfälle beurteilt werden, meist für Bagatellen, aber keiner das erste Mal. Einen sehen wir von Nahem an, den arbeitslosen Robbie, tauchen in aller Schonungslosigkeit ein in sein verpfuschtes Leben, erfahren, wie er im Kokainrausch einen Unbeteiligten spitalreif geschlagen hat, erfahren von seinem sinnlosen, auf die Vätergeneration zurückgehenden Krieg mit einem anderen Verlierer, sehen, wie er von der Familie seiner Freundin Leonie in der Maternité des Spitals vermöbelt wird. Die Bilder gehen an die Nieren, die Situation ist hoffnungslos. Angesichts seines neugeborenen Sohnes Luke ist Robbie zwar ernsthaft entschlossen, sein Leben zu ändern, die schiefe Bahn zu verlassen – aber wie das geschehen soll, da er von links und rechts unter Feuer steht und in einer Bruchbude bei einem Kumpel squattet, das ist nicht ersichtlich.

Dann treffen sich Robbie und all die anderen verkrachten Existenzen unter der Obhut des Sozialarbeiters Harry zur gemeinnützigen Arbeitsleistung. Harry hat einen gesunden Humor und ein riesiges Herz; ein guter Mensch, wenn es je einen gab. Das eine fügt sich zum anderen, und ehe er sichs versieht, hat Harry Robbie in seine Whisky-Leidenschaft initiiert. Es zeigt sich, dass der junge Mann eine aussergewöhnlich feine Nase hat, und zudem die Worte findet, um präzis zu beschreiben, was er riecht. Auf den Whisky-Events, die er mit Harry besucht, fällt er auf – und kommt an eine wertvolle Information: In der Destillerie Balblair soll in Bälde ein kürzlich wieder aufgefundenes Fass von einem über dreissigjährigen Whisky versteigert werden. Der Whisky-Meister Rory McAllister spricht verschwörerisch vom besten Trunk, den er je verkostet hat, und schätzt, dass die Auktion einen hohen sechsstelligen Betrag einbringen wird.

Mit so viel Geld wäre Robbie nicht nur seine dringendsten Sorgen los, sondern könnte mit Leonie und Luke neu starten. Also entwickelt er einen ingeniösen Plan, von diesem kostbaren Fass heimlich ein paar Flaschen abzuzapfen. Mit drei Kumpels stürzt er sich in einen Kilt und trampt in den Norden, wo sich ein Slapstick-Roadmovie erster Güte entwickelt. Wie die vier Helden von der traurigen Gestalt ihren Plan ausführen, wo sie brillieren und worüber sie stolpern, wird hier selbstverständlich nicht verraten. Nur soviel: Bis wenige Minuten vor Schluss war mir absolut unvorstellbar, wie Regisseur Ken Loach diese haarsträubende Geschichte abschliessend wieder ins Lot bringen würde. Er hat es meisterhaft geschafft, billige Lösungen und Kitsch zu vermeiden und ein Finale zu präsentieren, das Hand und Fuss hat und auch richtig ist. Dazu musste er einiges an schrägem Personal aufbieten und über mehrere Ecken denken; auch der Anteil der Engel spielt eine Rolle (mindestens das Konzept). Herausgekommen ist eine Gangster-Tragikomödie, bald abgrundtief trist, bald herzlich lustig, von Flüchen und Kraftausdrücken durchsetzt, erdig und luftig wie ein guter Whisky.

Technisches: The Angels‘ Share startet am 29.11.2012 in den Deutschschweizer Kinos.

Sonntag, 25. November 2012

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?

Mancher Castingdirektor könnte die Altdorfer Tellspielgesellschaft beneiden, die ohne weit zu suchen eine solche Anzahl von Charakterköpfen zusammenbringt. Einer nach dem anderen kommen sie aus dem Dunkel an den Bühnenrand des Tellspielhauses, langsamen Schrittes, mit offenem Gesicht, den ernsten Blick ruhig und gerade ins Publikum gerichtet. Dann treten sie zur Seite, an eine der beiden rostigen, leicht gekrümmten Stahlwände, die das ganze Bühnenbild ausmachen; und zum Klang der brutalen, rhythmischen Schläge auf den kalten Stahl krümmen sich die freien Urner, stolpern, schleppen sich mühsam weiter, in Unterdrückung und Knechtschaft.

Dass es in Schillers Wilhelm Tell darum geht, wie sich brutal unterdrückte Menschen mit entschlossenem Einsatz von ihrem Diktator befreien, wissen wir. Wie das geht, zeigt Volker Hesse in seinem zweiten Gastspiel als Regisseur der Tellspiele in aller Deutlichkeit. Bereits vor vier Jahren sahen wir in Altdorf einen schonungslosen, von romantischer Verklärung weitgehend befreiten Tell. Lag Hesses Augenmerk damals auf den Strategien für den Weg zur Freiheit, so rückte er dieses Jahr die Willkür der Schreckensherrschaft ins Zentrum. Jede Hoffnung wird brutal unterdrückt; der grundlose Zorn der Junta verschont auch nicht die Alten und Schwachen. Aussichtslos erscheint jeglicher Widerstand, und teuer wird er erkauft. Wer beim Wort „Revolution“ an Freiheitsfahnen und freudentrunkene Siegesfeiern denkt, vergisst darüber allzu leicht die Toten, die Verstümmelten, die Gefolterten und ihre Angehörigen. Hesse rückt sie in den Mittelpunkt, gibt ihrem Leid grossen Raum und vergisst sie auch nicht, als ihr Unterdrücker tot und seine Schergen gefangen sind: Im wilden Taumel der Schlussszene teilt sich die Bühne. Während links zum lüpfigen Trommelklang getanzt und gefeiert wird, sammeln sich rechts all jene, deren Liebste die Freiheit mit Leben und Blut bezahlt haben. Ihr Weinen und ihre Trauer mischen sich in die Freudenlieder, und in dieser Dissonanz, dieser Ambivalenz von Triumph und Verzweiflung, begrüssen die Freien ihre Freiheit.

Gesprochen wird dabei wenig, und das ist gut so. Denn die grösste Gefahr bei Schiller besteht darin, sich von der Anmut der Sprache zu sehr mitreissen zu lassen. Schöneres Deutsch ist nie geschrieben worden; jeder Satz verdiente es, in Marmor gehauen zu werden. Allzu leicht gerät der empfindsame Zuschauer dabei ins Schwärmen, lässt sich ablenken vom Inhalt oder sieht diesen im perfekten sprachlichen Kleid zu einem ewiggültigen Schönen, Wahren, Guten erstarren. Volker Hesse war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst. Er hat Schillers Tell radikal zusammengestrichen, arbeitete stark mit Bewegungen, tänzerischen Elementen, ausführlichen und mitreissenden Choreografien und mit einfachen Rhythmen und Klängen. Und wenn auf der Bühne dann dennoch gesprochen wurde, brachte das kernige Urner Hochdeutsch gerade so viel Verfremdungseffekt mit, dass hinter der schönen Form der Inhalt immer durchschien.

Technisches: Die Altdorfer Tellspiele 2012 sind längst Geschichte, dieser Artikel ist nicht mehr als eine nachträgliche Hommage an ein grossartiges Stück Theater.

Freitag, 16. November 2012

Skyfall

Während der Diskussion in der Pause von Skyfall fiel es uns auf: Die früheren James-Bond-Filme (und damit meine ich mit wenigen Ausnahmen alles von Connery bis Brosnan) machten nie so richtig Angst. Ich weiss schon, dass jede Epoche ihre spezifischen Bedrohungen hat, und dass das Wedeln mit Atomraketen in den Eingeweiden eines Zuschauers in den Sechzigern wohl anderes ausgelöst hat, als es bei uns heutigen auslöst – aber trotzdem: Die Bösewichte, ihre Pläne und ihre Hauptquartiere waren in der Regel überdreht-irreal, James Bond dachte beim Begriff „Bodycount“ in erster Linie an weibliche Körper und konzentrierte sich darüber hinaus hauptsächlich darauf, seinen Sarkasmus möglichst träf an den Mann zu bringen. Mit zwei knallharten Fäusten und einer Tasche voll Gadgets die Welt zu retten, war immer eine (lösbare) Nebenaufgabe, zu deren Bewältigung gelegentlich auch ziemlich clowneske Stunts eingesetzt werden konnten. Kaum überraschend, dass die Plots eines Grossteils dieser Filme schon fast schematisch aufgebaut sind, von der actiongeladenen Eröffnungssequenz über Briefing und Ausstattung durch M und Q, rituelle Kontaktaufnahme mit dem Bösewicht (oder seiner Freundin) bis zur Gefangennahme und zum Showdown in einem möglichst spektakulären Ambiente: alles ein überlanger, hochamüsanter Running Gag. Wiedersehen macht Freude, und darin liegt ein Grund für den Erfolg der Bond-Reihe.

Mit Daniel Craig wurde vieles anders. Nachdem die alte Formel in Pierce Brosnans letztem Film, Die Another Day, der an seiner eigenen Absurdität fast erstickte, wieder mal krachend an die Wand gefahren wurde, scheinen sich die Bond-Macher besonnen zu haben. Der neue Bond sollte mehr als ein Abziehbild sein; er sollte einen Charakter bekommen, zweifeln und sich irren dürfen – und sich entwickeln, vom jungen, ungestümen, kantigen Agenten zu einer Persönlichkeit. Das war ein gewisses Risiko, denn die bedingungslosen Adepten der alten Formel erkennen ihren Helden in der neuen Version nicht wieder, und zudem ein gewisser Aufwand, da ein solcher Charakter nicht nach einem Film schon fertig ist. Im dritten Craig-Bond, Skyfall, scheint das Ziel erreicht, und zwar auf magistrale Weise. Ich schliesse mich ohne zu zögern jenen an, die Skyfall zu den besten Bond-Filmen zählen. Die Geschichte entwickelt sich dunkel und bedrohlich, aber ohne die gehetzten Übergänge von Quantum of Solace. Javier Bardem ist als Bösewicht Silva intelligent, gnadenlos, eine Spur lächerlich und auf fast klassische Weise tragisch. Bond agiert nach einer Auszeit von ein paar Monaten (wegen Todes) in der ganzen ersten Hälfte des Films verzweifelt an seinen körperlichen Limiten; sowohl er als auch seine Vorgesetzte M (Dame Judi Dench) sind in diesen Film als Persönlichkeiten mit einem guten Teil ihrer Lebensgeschichte involviert. Das epische, düstere Finale im Nebel der schottischen Highlands ist trotz augenzwinkernder Anleihen beim A-Team eine ernsthafte, apokalyptische Angelegenheit. Missglückt ist einzig die Erklärung für Silvas um sieben Ecken herumdenkende Attacke: Sich als Polizist zu verkleiden und in den Raum einzudringen, in dem er seine Rache vollbringen will, wäre doch auch möglich gewesen, ohne dass er davor Bond um die ganze Welt herum auf seine Spur gebracht hätte. Und warum man in sämtlichen mir bekannten Filmen einen Hacker nie vor einer Kommandozeile, sondern immer nur vor elaborierten grafischen Animationen sieht, soll mir auch mal einer erklären…

Wer in all dem den klassischen Bond zu vermissen befürchtet, sei beruhigt: Die Actionsequenzen (besonders im Vorspann) sind auf der Höhe der Kunst, die Bond-Girls, wiewohl reine Nebenfiguren, bleiben atemberaubend, das Casino von Macao ist absolut splendid, und Bonds sarkastische Kommentare fehlen nicht, sind einzig eine Spur grimmiger. Höchste Kunst stellen – wie immer seit Casino Royale – die Dialoge dar, schneidende Wortgefechte im Kammerspiel-Setting. Der rekordverdächtige kommerzielle Erfolg des Films ist hoffentlich Garant dafür, dass die nächste Ausgabe in ähnlichem Stil daherkommen wird

Technisches: Skyfall läuft in gefühlt der Hälfte aller Kinos der Schweiz. Es versteht sich von selbst, dass nur Banausen die synchronisierte Version anschauen; wo immer ein anachronistischer Kinobetreiber auf die Originalversion setzt, sollte er mit grossem Zuspruch entschädigt werden.

Sonntag, 11. November 2012

In Marmor gehauen

Von Tinos-Stadt fuhren wir auf die neue Umfahrungsstrasse hinauf, liessen die Wallfahrtskirche der Panagia links liegen, schlängelten uns in waghalsigen Serpentinen die steilen Hügel hinan, fuhren auf einer wunderbaren Strasse mit Panoramablick auf Syros gegen Nordwesten, überquerten einen letzten hohen Pass und parkierten am Dorfeingang von Pyrgos. Über marmorgepflästerte Wege, vorbei an schmucken Fassaden, erreichten wir die von einer enormen Platane beschattete Platia, stiegen am Brunnenhaus vorbei hoch, gelangten am Dorfrand zum Friedhof, einer regelrechten Freilichtausstellung des lokalen Marmorhandwerks, und kamen gleich dahinter bei einem modernen Gebäudekomplex aus Bruchsteinen und Sichtbeton an, dem Museum für Marmortechnik. Die Kulturstiftung der Piräusbank hat in den letzten Jahren über ganz Griechenland verteilt ein preisgekröntes Netzwerk von Museen geschaffen, die landwirtschaftliche Kultur, traditionelles Handwerk und industrielle Entwicklung dokumentieren. So steht in Volos das Ziegeleimuseum Tsalapatas, und auf Chios wird eines über den Mastix eingerichtet. Das Museum, das sich mit Abbau und Kunsthandwerk des Marmors befasst, ist nicht ganz zufällig auf der Kykladeninsel Tinos gelandet: Sie ist eines der Zentren der Marmorverarbeitung, und das Dorf Pyrgos mit seiner Kunstgewerbeschule, seinen Marmorwerkstätten und seinen Künstlern ist unbestrittener Leuchtturm des Handwerks.

Wer die durchschnittlichen archäologischen Provinzmuseen in Griechenland kennt, jene gefängnisgleichen Betonbauten, wo vor abblätterndem hellblauem Putz ein paar Vasen und Statuen aufgereiht stehen, im Idealfall knapp beschrieben auf winzigen, maschinengetippten Kärtchen, wenn dieselben nicht schon den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt sind und irgendwo unten in der Vitrine liegen; wer also mit dem Stand der Museologie in Griechenland vertraut ist, wird im Marmormuseum ausgesprochen positiv überrascht. Dieses Haus erfüllt mit Bravour die diffizile Hauptaufgabe eines Museums, dem Besucher in überblickbarer Zeit (wir waren kaum eine Stunde dort) wesentliches Wissen begreiflich zu machen. Im Zentrum stehen zwei grosse Dioramen: ein Steinbruch und eine Bildhauerwerkstatt. Der Blick gleitet über anstehenden Fels und Marmorblöcke, über Werkzeuge und Hilfsmittel; das Verständnis beginnt, sich Bahn zu schaffen, wird dann unterstützt und ergänzt durch Fotos, Videos und knappe, aber präzise Erklärungen. Die Objekte sind mit Bedacht ausgewählt und nicht selten spektakulär wie der Schwenkkran auf dem Vorplatz oder die Detailpläne für reich dekorierte marmorne Ikonostasen. Industrielle und kleinhandwerkliche Marmorförderung werden gegenübergestellt; Archivmaterial macht Familientraditionen und die Organisation des Kunsthandwerks verstehbar, und auch die typischen tiniotischen Oblichter fehlen nicht.

In dieses Haus sind sichtbar viel Geld, Wissen und Aufmerksamkeit geflossen, und der Aufwand hat sich gelohnt. Gereicht hat es zudem für einen ausführlichen, aber dennoch handlichen Museumsführer, der einem die Lektion zuhause nochmals in Ruhe durchlesen lässt. Für zukünftige Ausflüge in Griechenland empfiehlt sich auf jeden Fall der Blick auf die Museumskarte der Piräusbank.

Technisches: Tinos erreicht man täglich mit Fähren von Piräus und Rafina aus, wobei man Wochenenden und Marienfeste wegen der Pilgermassen besser meidet. Von Tinos-Stadt aus gelangt man mit dem Bus (wenige Verbindungen täglich) oder mit dem Mietauto wie im Artikel beschrieben in den Inselnorden. Pyrgos lohnt auch wegen seiner schönen Gässlein und seiner anderen Museen den Besuch. Zum Mittagessen empfiehlt sich ein Abstecher ans Meer hinunter in den Fischerhafen Ormos Panormou.

Montag, 1. Oktober 2012

Selbstgespräche mit Woody

Ich sehe eben, dass Paris-Manhattan von Sophie Lellouche diese Woche in die Deutschschweizer Kinos kommt. Deshalb ist hier vielleicht ein klärendes Wort angebracht: Man muss diese romantische Komödie nicht wirklich gesehen haben. Das Genre dürfte viele schon von vornherein aus dem Zielpublikum ausschliessen. Ich bin in dieser Hinsicht zwar Skeptiker, aber kein Fundamentalist: Eine gut getimte, kreative und gelegentlich selbstironische Liebeskomödie wie etwa Les émotifs anonymes ist durchaus eine vergnügliche Art, eineinhalb Stunden zu verbringen. Paris-Manhattan gehört leider nicht in diese Kategorie. Das liegt nicht an der Story, die genretypisch vorhersehbar ist, auch nicht unbedingt an den Schauspielern: Der Sänger Patrick Bruel als desinteressiertes Raubein Victor ist ziemlich originell, und auch Alice Taglioni als gutmütige Apothekerin Alice gefällt. Weniger gefallen kann, wie betulich alle kreativen Einfälle verwirklicht werden, zum Beispiel die Hauptingredienz des Films, der imaginäre Dialog, den Alice anstelle reeller Beziehungen zu Woody Allen unterhält: Wie sie abends mit dem überdimensionierten Allen-Poster über ihrem Bett diskutiert, ist die ersten zehn Sekunden lang witzig, dann nur noch ermüdend. Wie sie in ihrer Apotheke als Nachbarschaftspsychologin ihre Kundschaft statt mit Medikamenten mit DVDs kuriert, tendiert auch schnell in den Kitsch – spätestens, als sie auf diese Weise einen Räuber auf den rechten Weg zurückbringt. Die Rahmenhandlung in Alices Familie ist langfädig und klischeehaft, und auch der echte Woody Allen, der am Schluss einen Gastauftritt hat, versprüht zwar entspannten Esprit, kann den Film nicht wirklich retten. Für das Wochenende empfehle ich einen Herbstspaziergang

Technisches: Paris-Manhattan ist ab dem 4. Oktober in ausgewählten Kinos der Deutschschweiz zu sehen.

Sonntag, 23. September 2012

Bis bald

Wer Augen hat zum Sehen, der könnte dauerschmunzelnd oder -kopfschüttelnd durch die Welt gehen: An jedem Wegrand und in jeder Situation lauern groteske Momente, die unser Unterbewusstes wohl aus Effizienzgründen meist ausblendet. Erst wenn wir einen jener raren Menschen treffen, denen dauernd Absurdes widerfahren zu scheint, amüsieren wir uns darüber und bedauern vielleicht, selber nicht so viel zu erleben – oder zu bemerken. Einen solchen Menschen porträtiert Markus Werner in seinem Roman Bis bald: Lorenz Hatt, Leiter der kantonalen Denkmalpflege. Sein Bericht über seine Herzerkrankung, einem stummen Gesprächspartner vom Krankenbett aus erzählt, liest sich wie eine Bestandsaufnahme aus Absurdistan. Da tauchen Figuren auf wie der Elektroniker Grünberg aus Ohio, Hatts Zufallsbegleiter in den Ruinen von Karthago (wo ihn sein Infarkt ereilt), der zunächst dumme Fragen zur Geschichte stellt und sich nachher im Spital rührend (und eben: grotesk rührend) um den Kranken kümmert. Da ist die Tischgesellschaft im Sanatorium, eine Männerrunde, die sich im Tanz um die einzige Frau zu immer übleren Selbstinszenierungen antreibt. Da ist die Wiederbegegnung mit seiner Ex-Frau, wo sich Rührseligkeit mit dem Ekel davor behände abwechselt. Und da sind all die kleinen Objekte, an denen sich das Groteske festmacht – klassisch etwa Grünbergs Souvenir aus dem Souk, ein Vogelkäfig aus Keramik, der im Spital verloren geht, irgendwann wieder auftaucht und Hatt am Flughafen fast in den Knast bringt. Alles Banalitäten, Alltägliches, nichts Besonderes; aber der Blick von aussen, den dem Denkmalpfleger zur zweiten Natur geworden ist, heftet sich daran fest, und die simple, distanzierte und immer etwas verständnislose Beschreibung legt die den Dingen innewohnende Absurdität bloss.

Die Lektüre war ein seltener Genuss. Markus Werners Lorenz Hatt erzählt assoziativ und mäandernd, ein Wort gibt das andere, Exkurse schachteln sich wie natürlich ineinander, da und dort zischen ansatzlos schneidende Randbemerkungen heraus. Nur vordergründig ist Bis bald ein Bericht über eine Krankheit; in Wahrheit handelt es sich um einen Essay über alles, und Werner beherrscht die Kunst des Aphorismus, fasst Komplexes in die kürzest mögliche Wendung. Zur Fortpflanzung: Ich sehe nicht ein, warum die Leute unablässig Kinder in die Welt setzen, nur damit Söhne heranwachsen, die auch wieder Bier trinken und blöd herumschwadronieren, nur damit Töchter heranwachsen, die auch wieder Teigwaren kochen. Zur Schweizer Classe politique: Wie sollen Leute, die ach- und ich-Laut nicht auseinanderhalten können, in der Lage sein, die wirklich schwierigen Probleme zu bewältigen? Zum Überraschungstod: Ich weiss, er gilt den meisten als der schönste, obwohl man ihn nur den bequemsten nennen dürfte. Dieser Hatt ist ein Zyniker, der seinen Zynismus kultiviert, um seine Desillusion zu kaschieren; aber da er ein trocken-witziger Beobachter ist, verzeiht man ihm manches. Und man erkennt in Hatts Versuch des kontinuierlichen Sich-Distanzierens die eigenen Erfahrungen, mit der Unbewältigbarkeit der Welt umzugehen.

So vor zehn, fünfzehn Jahren war Markus Werner plötzlich eine Art Shooting Star der Schweizer Literatur. Plötzlich schien alle Welt von seiner lakonischen Prosa zu schwärmen, von seinen präzisen Analysen von Menschen in einer Extremsituation; und wer eine Lesung miterlebt hatte, berichtete so fasziniert wie irritiert von diesem fast krankhaft scheuen Autor, der zurückgezogen und spartanisch ganz für seine Literatur und von ihr lebte. Dann schwoll der Hype ähnlich schnell wieder ab, jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Hätte nicht L. vor kurzem Platz geschaffen auf ihren Regalen und mir zwei seiner Bücher geschenkt, hätte ich wohl kaum mehr etwas von Werner gelesen. Das wäre, wie sich gezeigt hat und hoffentlich noch weiter zeigen wird, nicht nur ein bisschen, sondern richtig schade gewesen.

Technisches: Markus Werner, Bis bald. Roman. München, dtv 31997. ISBN 3 423 12112 2. Die Erstausgabe ist 1992 im Residenz-Verlag erschienen und inzwischen als Fischer Taschenbuch erhältlich.

Sonntag, 16. September 2012

Reichlich Stoff

Seinen Stoffen stellt Friedrich Dürrenmatt Schopenhauers sarkastische Empfehlungen an den Leser zum alternativen Gebrauch eines Buches voran, die im Rat gipfeln: Oder endlich er kann ja, was gewiss das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren. Wer dies hier zu tun sich anschickt, stockt aber schon beim ersten Satz; wenn er sich nämlich überlegt, wie das Werk zu charakterisieren wäre. Nicht dass Dürrenmatt dies nicht einleitend knapp und präzis unternommen hätte, indem er nämlich ankündigt, im Folgenden angesichts der Unmöglichkeit einer Autobiografie nicht über die Geschichte seines Lebens, sondern über die Geschichte seiner Stoffe zu schreiben. Doch mit dieser Definition einer neuen literarischen Gattung ist wenig gewonnen. Was ist denn ein Stoff? Wieso spricht Dürrenmatt von seinen Stoffen wie von Möbeln oder alten Freunden? Wie kommt er dazu, seine ungeschriebenen Stoffe nun auch noch aufschreiben zu wollen

Es wird dann allmählich klarer. Wenn der Begriff nicht so New Age wäre, könnten wir von den „Lebensthemen“ des Autors sprechen; „Stoffe“ ist ein handfesteres, Dürrenmattsches Wort dafür. Dass die Stoffe sehr wohl eine Autobiografie sind, lässt sich auch nicht lange verleugnen – eine lückenhafte, gewiss, aber das sind sie alle –; eine Autobiografie, die untersucht, wie das Leben des Autors die paar grossen, wiederkehrenden Themen erschaffen und geformt hat, die den Steinbruch für seine Literatur ausmachen. So ergibt sich die Analyse einer gewissen Unausweichlichkeit, mit der sich Erlebnisse und Ideen zu Themenkomplexen verdichten, an denen sich schon der kindliche und adoleszente Geist abgearbeitet hat, und die dem Schriftsteller ganz notwendigerweise zum Gegenstand des Schreibens werden. Viel ist die Rede von gescheiterten Versuchen, von stecken gebliebenen Ansätzen, und man kann sich die Mühsal vorstellen, diese Stoffe nicht nur historisch und theoretisch zu analysieren, sondern sie nun endlich in einem finalen Kraftakt doch noch literarisch zu gestalten. Das bleibt manchmal skizzenhaft und fragmentarisch; zwei-drei der Stoffe entwickelt Dürrenmatt in dieser Vergangenheitsbewältigung jedoch zu kraftvollen, vollendeten Miniaturen – etwa im ersten und längsten dieser Stücke, dem Winterkrieg in Tibet, einer apokalyptischen Horrorvision eines sinnentleerten Mordens in einem end- und aussichtslosen Stollenlabyrinth hoch unter den Gipfeln des Himalaya, die mich (wiewohl auf einer Fähre in der sonnendurchfluteten Ägäis) mit gehetztem Blick und beklemmtem Herzen zurückliess und die ich zum Besten zähle, was Dürrenmatt geschrieben hat.

All diese meine Beschreibungsversuche sind unvermeidlich Vereinfachungen. Der Dürrenmatt-Spezialist (dessen Namen mir entfallen ist), der die Stoffe als Antwort auf die abgelutschte Frage nach dem Buch für die einsame Insel nannte, hat schon recht: Ich kenne schlicht kein anderes Buch, das dermassen komplex und vielschichtig ist, auf einer oberflächlichen Ebene immer zugänglich und spannend, darunter aber Schichten der Reflexion auftürmt, die Literatur- und Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in gleicher Weise analysierend und verknüpfend, philosophische Schulen scheidend und kritisierend, ein Abriss auch der Schweizer Mentalitätsgeschichte, ein Rundumschlag im uferlosen Universum des Friedrich Dürrenmatt. Ich bilde mir auf meine humanistische Allgemeinbildung ein bisschen etwas ein, musste aber laufend vor dem Anspielungsreichtum kapitulieren. Wer eine gut sortierte Handbibliothek in Griffweite hätte, könnte das Gewirr dieses Gesamtkunstwerkes nach Belieben und in aller Tiefe entflechten und analysieren; und wer seinen Dürrenmatt kennt, entdeckt in den Stoffen gleichsam eine Vielzahl alter Bekannter, teils in Rohformen, teils in Details, gelegentlich auch im Negativ (wie beim „Original“ der Alten Dame, die hier ein Alter Herr ist).

Auf paradoxe Weise scheint mir, dass sich der Dramatiker Dürrenmatt in der Prosa am schöpferischsten austobt, wo er seine endlosen, verschachtelten und frei assoziierenden Sätze mit grossem Gestus über die Seiten ausbreiten kann, ohne Rücksicht auf Verluste, en passant philosophische und politische Grundsatzfragen wenn nicht lösend, so zumindest träf diskutierend, dabei mit Spott nicht sparend – und immer mit dieser Liebe zum Absurden, die mich laufend schmunzeln, öfters kichern und gelegentlich ungehemmt auflachen liess. Die Stoffe sind ein Werk, das man nicht in einem Mal gelesen hat. Ich zweifle nicht, dass ich sie noch unzählige Male mit gleichem Gewinn und Genuss lesen, auf Einzelnes fokussieren oder einfach nur irgendwo aufschlagen kann. Ein Steinbruch von Dürrenmatts Schaffen, ein Steinbruch für den Dürrenmatt-Leser.

Technisches: Ich habe mir seinerzeit kurz nach Dürrenmatts Tod die günstige siebenbändige Gesamtausgabe erstanden, die der Diogenes-Verlag damals anbot und in der die Stoffe als Band 6 enthalten sind. Ursprünglich sind die Stoffe in zwei Schüben erschienen: Labyrinth. Stoffe I-III. Zürich, Diogenes 1990 (Erstausgabe unter dem Titel Stoffe I-III 1981). Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich, Diogenes 1990.

Sonntag, 9. September 2012

Unternehmen Paradies

Hier ist König Albrechts Blut in den Boden gesickert. Von hier aus hat sein Sohn Leopold die Rache an des Vaters Mördern begonnen. Und hier hat Albrechts Witwe, Königin Elisabeth, ein Feld abgemessen, das nicht dem Kampf noch der Rache, sondern der Ruhe und dem Gebet geweiht sein sollte: das Doppelkloster Königsfelden. Hoch und elegant ragt das Mittelschiff im Bettelordenstil empor; im Inneren beeindrucken glasklare Formen, sparsame Ornamente unterstreichen das blendende Weiss der renovierten Wände, ein schlichter Lettner versperrt den Blick nach vorne, der Blick darüber hinweg erahnt aber im abendlich dunklen Chor die gotischen Glasfenster, die zu den schönsten der Welt gehören.

Nach Mit Chrüüz und Fahne in Villmergen also schon wieder Theater am historischen Schauplatz im Aargau. Der Anlass ist aber kein Jubiläum, sondern eine Tradition: Alle paar Jahre bezieht das Königsfelder Festspiel die Klosterkirche und bringt ein Tanzstück biblischen oder historischen Inhalts zur Uraufführung. Diesjähriges Thema ist die Geschichte des Ortes selber. Es liegt ein grosses dramatisches Potenzial in diesem Unternehmen Paradies, diesen beiden Strategien, mit denen König Albrechts Angehörige auf den Mord reagieren, der männlichen des Sohnes und Erben, der Rache sucht (suchen muss), und der weiblichen der Witwe, die sich um das Seelenheil des Verstorbenen sorgt und damit gleichzeitig Raum für Frieden und Versöhnung schafft. Und wie es in Königsfelden Brauch ist, wird dieses Geschichte im dichten Zusammenspiel von Musik, Bewegung und Licht erzählt. Der Begriff „Gesamtkunstwerk“ ist hier so angebracht wie selten. Der Tanz ist eher erzählerische Bewegung als Ballett; die Musik ist nicht lediglich Begleiterin, sondern gleichberechtigte Partnerin; und beide, Tanz und Musik, forschen den einzigartigen Raum aus, machen ihn sich zu eigen: Durch das schmale Tor im Lettner sieht man Schemen und Lichter im Chor; von rechts, hinter den Säulen zum Seitenschiff hervor, ertönt die Musik; die Sängerinnen und Sänger stehen bald oben auf dem Lettner, bald mitten in der Handlung, bald sind sie irgendwo verborgen.

Ausgeführt wurde das alles unter der Gesamtleitung von Peter Siegwart mit grosser Perfektion. Das Vokalensemble Zürich sang mit atemberaubender Schönheit Bach, Monteverdi und Siegwart selber; die individuellen, Alltagskleidern ähnlichen Kostüme (Sabine Schnetz), welche die zehn Sängerinnen und Sänger anstelle der sonst üblichen schwarzweissen Choruniform trugen, machten augenfällig, dass es sich nicht um namenlose Choristen, sondern um Solisten von höchstem Niveau handelte. Die Musiker des Ensemble la fontaine und die ad hoc rekrutierten Mitglieder des Tanzensemble Königsfelden (Choreografie Félix Duméril) standen ihnen in nichts nach. Das Lichtdesign von Bert de Raeymaecker machte den Raum erlebbar. Als schönste Passagen sind mir zwei im Gedächtnis geblieben: Der Tumult der Rachefeldzüge, in deren Mitte Königin Elisabeth und ihre Tochter Agnes ruhig, edel und bestimmt den Raum für Stille und Gedenken sich aneigneten. Und das Zur-Ruhe-Kommen der Schlussszene in der halbdunkeln, von Kerzen beschienenen Kirche, über der, jetzt von aussen angestrahlt, die kostbaren Glasfenster leuchteten wie das himmlische Jerusalem.

Technisches: Unternehmen Paradies ist noch die nächste Woche (Mittwoch bis Samstag) zu sehen, Karten gibt es online. Letzten Mittwochabend waren leider einige Reihen nicht besetzt – es sollte also wohl noch Plätze geben, und es wäre schade, wenn sie leer blieben. Einziger Wermutstropfen: Wer bis zur Abfahrt seines Zuges noch ein Glas trinken möchte, sucht sowohl im Festspielbistro als auch in der näheren Umgebung des Bahnhofs Brugg vergeblich. Einzig direkt die Altstadt anzusteuern, wäre wohl eine gewinnbringende Strategie gewesen.

Freitag, 31. August 2012

Freiburger Klassik

Freiburg ist nicht Weimar und schon gar nicht Athen. Aber es gibt wohl in der Geschichte jeder Stadt Perioden, die etwas Klassisches an sich haben; Zeiten, in denen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umstände sich gegenseitig so in die Hände spielen, dass künstlerische oder denkerische Genialität in hoher Dichte aufleuchten kann. Eine solche Zeit war für Freiburg die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo in der Stadt ein intensives, hochstehendes und unerwartet gut erhaltenes Skulpturschaffen stattfand. Fünf Bildhauerwerkstätten waren teils neben-, teils nacheinander in der Stadt aktiv: diejenige des nicht namentlich bekannten „Meisters der grossen Nasen“, diejenigen von Martin Gramp, Hans Roditzer, Hans Geiler und (als letztem, alle überstrahlend) Hans Gieng. Alle Meister waren wohl aus dem süddeutschen Raum, damals das Zentrum der Bildhauerkunst, ins Uechtland gezogen und fanden dort Arbeit, Brot und bescheidenen Ruhm.

Wohlgemerkt: Erwähnenswert ist nicht die Tatsache, dass es in Freiburg Bildhauer gab. Solche gehörten für eine Stadt ab einer gewissen Grösse jahrhundertelang zum unverzichtbaren Personal, galt es doch, profane und geistliche Gebäude gleichermassen plastisch auszuschmücken: Stadttore, Repräsentationsbauten und beispielsweise Brunnen bedurften einer Ikonografie der Macht, und in den vielen Kirchen verlangten dutzende von Altären nach Ausstattung mit Statuen und Reliefs. Machtbewusste Bürger und Magistraten, fromme Bruderschaften, ehrgeizige Pröpste, Äbte und Kapitularen waren die grosszügigen und wohl kalkulierenden Auftraggeber. Erwähnens- und dokumentierenswert ist vielmehr, dass das kleine Freiburg über fünfzig Jahre keine Dutzendware, sondern eine so hochstehende Skulpturenproduktion hervorbrachte. Die Gründe für diese kleine Freiburger Klassik sind natürlich vielfältig. Reichtum und Einfluss der Stadt wuchsen durch ihre territoriale Expansion (sprich Eroberungen) zu Beginn des 16. Jahrhunderts beträchtlich an. Die städtischen Eliten waren international gut vernetzt. Auch der Statusgewinn der Stadtpfarrei spielte eine Rolle, der durch die päpstliche Errichtung des Stiftskapitels zu Sankt Nikolaus vor genau 500 Jahren gekrönt wurde. Nicht zu vergessen sind ferner die Konsequenzen der Reformation im näheren Umkreis: Das bilderstürmerische Bern hatte zwar die entsprechenden Fachkräfte vertrieben, war aber für profanen Schmuck weiterhin auf Bildhauer angewiesen. So schuf denn Hans Gieng die berühmten Berner Brunnenstöcke – womit zuletzt auch die wichtigste Ingredienz solcher Glanzzeiten erwähnt ist, das künstlerische Genie.

Die Freiburger Skulptur der Jahrzehnte nach 1500 war in den letzten Jahren Gegenstand eines umfangreichen Nationalfondsprojekts. Erarbeitet wurde nichts weniger als ein Catalogue raisonné, ein imposantes Werk in zwei Bänden, dazu gewissermassen als populärwissenschaftliche Ergänzung ein etwas zugänglicherer Bildband: Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas. Und da man Statuen am besten in echt betrachtet, analysiert und vergleicht, trug das Musée d’art et d’histoire Fribourg einen Grossteil der erhaltenen Werke der fünf erwähnten Meister aus Kirchen, Kapellen, Klöstern und eigenen Beständen zu einer Überblicksausstellung zusammen. Beides zusammen bot eine Einführung in diese Freiburger Klassik und ermöglichte eine vergleichende Würdigung dieser verstreuten und oft übersehenen Werke.

Ausstellung wie Bildband schienen freilich auf den ersten Blick etwas unklar gegliedert. Im Museum starteten wir in einem grossen, reichen Raum, von der Fülle der Retabel fast erschlagen, während andere Statuen und Details einzelne Aspekte vertieften. Erst im zweiten Teil wurden die Techniken erläutert und die fünf Werkstätten vorgestellt und charakterisiert. Dem optischen Genuss tat dies keinen Abstrich, aber umgekehrt wäre mir logischer erschienen. Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: „Mit Bildern leben“, „Wie die Statuen entstanden“ und „Reichtum, Ansehen, Macht“. Der Erzählfaden beginnt bei den in der Stadt sichtbaren Skulpturen, vor allem den Brunnen, geht dann zu den Heiligenfiguren und Retabeln über, um dann mittendrin die Akteure vorzustellen, nämlich sowohl die wichtigen Auftraggeber als auch die Künstler und ihre Technik, und zum Schluss auf die Selbstdarstellung von Zünften, Klerus und Obrigkeit mittels Skulpturen zu sprechen zu kommen. Ich fand das etwas zufällig, hätte das ganze vermutlich anders arrangiert, muss aber nach der Lektüre unumwunden zugeben, dass diese Gestaltung Sinn und ein Ganzes ergibt, vor allem, wenn sie in einem Schwung gelesen wird – was wiederum eigentlich nicht schwierig ist, da das Buch in erster Linie ein Bilderbuch ist und an einem ruhigen Abend ohne weiteres bewältigt werden kann. Zum Gesamtkatalog kann ich mich nicht äussern, da ich diesen aus Mangel an Regalplatz und spezifischem Interesse nicht beschafft habe. Bildband und Ausstellung hingegen ermöglichten dem breiten Publikum einen kompakten Einblick und schufen ein umfassendes Verständnis.

Technisches: Die Ausstellung „Sculpture 1500“ war im MAHF vom 14.10.2011 bis zum 19.02.2012 zu sehen gewesen. Die Begleitpublikation ist sowohl auf Deutsch (hier zitiert) als auch auf Französisch erschienen: Jean Steinauer et al., Skulptur 1500. Freiburg im Herzen Europas. Fotografien von Primula Bosshard, Übersetzung von Hubertus von Gemmingen. Baden, hier+jetzt 2011. ISBN 978 3 03919 227 4. Der Gesamtkatalog ist im Imhof-Verlag erschienen: Stephan Gasser, Katharina Simon-Muscheid, Alain Fretz und Primula Bosshard (Fotos): Die FreiburgerSkulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung Funktion und Auftraggeberschaft. Band 1: Text, Band 2: Katalog. Petersberg, Michael Imhof Verlag 2011. ISBN 978 3 86568 626 8.

Donnerstag, 23. August 2012

Mit Chrüüz und Fahne

Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen Gesellschaft.

Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus. Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder. So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant, wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.

Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt, wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.

Technisches: Mit Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt; sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige Theaterteam.

Freitag, 27. Juli 2012

Kein Applaus für Scheisse

In meiner ganzen Studienzeit in Freiburg war ich genau ein einziges Mal am Bollwerk-Festival. (Es muss im Jahr 2000 gewesen sein, aber der Archiv-Server des Belluard ist leider heillos zerschossen.) Da traten zwei Männer auf die Bühne, zogen sich nackt aus und gingen dann im Wesentlichen eine Stunde lang in exakten geometrischen Formen kreuz und quer über die Bühne – so jedenfalls meine Erinnerung. Das ist jetzt also diese zeitgenössische Performance-Kunst, dachte ich mir, und hielt mich in den kommenden Jahren vom Belluard fern. In der Zwischenzeit habe ich, wieder mutiger geworden, entdeckt, dass sich dieses Festival durch eine enorme thematische Breite auszeichnet, und war oft begeistert von zugänglicheren, intelligenten und vielschichtigen Stücken: Filmen, Vorträgen, Installationen. Dieses Jahr nun, als ich zusammen mit S. das Programm durchforstete, fühlten wir beide einen gewissen Übermut, uns wieder einmal konzeptkünstlerisch die Kante zu geben, und stiessen auf eine Performance, die folgendermassen angekündigt wurde: „Florentina Holzinger und Vincent Riebeek loten in Kein Applaus fürScheisse unerbittlich die Grenzen dessen aus, was auf der Bühne möglich ist.“

Das tönt doch vielversprechend, sagten wir uns, und buchten gleich einen ganzen Abend am Festival. Nach der Lügendetektor-Performance As It Is, von der noch zu reden sein wird, stiegen wir zum Bollwerk hoch, während sich der Himmel über der Stadt, passend zum apokalyptischen Spektakel, das uns erwartete, dunkelschwarz färbte. Die ersten Tropfen fielen, als das Tor sich öffnete, und als wir in den Laubengängen des Bollwerks Zuflucht gefunden hatten, prasselte die Sintflut nieder. Und was sind nun die Grenzen dessen, was auf der Bühne möglich ist? Für möglich erachtete das Künstlerpaar an diesem Abend unter anderem folgendes: Vincent Riebeek kotzte eine blaue Flüssigkeit auf seine Partnerin, pinkelte auf sie und zog ihr mit dem Mund einen Bindfaden aus der Vagina. Dazwischen zeigte Flo Holzinger hochstehende Akrobatik am Vertikaltuch, feuerte eine Paintball-Gun ab, und die beiden sangen reichlich falsch einige Lieder.

Dazu zwei Bemerkungen. Zum einen ist es faszinierend, wie die simpelste Provokation auch im Jahr 2012 noch narrensicher funktioniert. Ich konnte mir jedenfalls bisher nichts vorstellen, was den Blick am Abend dazu hätte bringen können, über das Belluard-Festival zu berichten. Jetzt weiss ich: Einmal Kotzen reicht, um in der Zeitung zu kommen – die genau dann den Ernst und den Anstand raushängt, um die sie sich das übrige Jahr weitgehend foutiert. Und zum zweiten: Wenn uns passagenweise nur der Dauerregen davon abgehalten hat, das Bollwerk zu verlassen, dann lag das weniger am Schock als vielmehr an der Langeweile. Über weite Strecken war das Spektakel einfach nur langfädig und öde. Und vielleicht liegt hier der Schlüssel zum Verständnis: Vielleicht war der eigentliche Inhalt von Kein Applaus für Scheisse die Reaktion, die das Gesehene bei den Zuschauern auslöste. Holzinger und Riebeek haben ohne Rücksicht auf eigene Verluste beim Publikum Verwunderung, Staunen, Ekel, Entsetzen und eben Langeweile produziert. Und wir waren die ganze Zeit auf einer Meta-Ebene mit der Analyse unserer Emotionen beschäftigt – und haben dabei unbewusst gespürt, worauf es beim Theater wirklich ankommt: nicht auf das, was auf der Bühne, sondern auf das, was in unseren Köpfen passiert.

Technisches: Das Belluard Bollwerk International 2012 ist natürlich längst Geschichte; nächstes Jahr geht es um die gleiche Zeit weiter. Florentina Holzinger und Vincent Riebeek sind mit dieser und anderen Performances regelmässige Gäste an Festivals in ganz Europa.

Montag, 9. Juli 2012

Der Spion, der sich liebte

Ein Geständnis: Im Hause Phemios greift man zur Entspannung nach einem intensiven Tag oder zum gemütlichen Ausklingenlassen eines Ferienabends gerne mal zu einem amüsanten, meist nicht sehr tiefgängigen Film. Eine kleine, repräsentative Kollektion komischer DVDs steht dazu im Regal und wird gelegentlich aus den Wühltischen des Elektronikfachhandels weiter alimentiert. Die Leserschaft wird mir nachsehen, dass solcherlei Kulturgenuss eher selten seinen Niederschlag in den Blogspalten findet: In der Regel gibt es kaum etwas darüber zu sagen, Hauptziel sind schlicht eineinhalb Stunden Vergnügen.

Auch dieser Artikel dürfte nicht übermässig lang werden. Sein Interesse liegt vor allem am Hauptdarsteller: Jean Dujardin. Einem breiten Publikum ist er vor wenigen Monaten bekannt geworden als Oscar-Gewinner für seine Rolle im Stummfilm The Artist, für die er bereits praktisch alle anderen relevanten Schauspieler-Preisen eingeheimst hatte. Vor dem plötzlichen internationalen Durchbruch war Dujardin allerdings in Frankreich bereits eine feste Grösse im komischen Fach, berühmt unter anderem für seinen Part in der Paar-Episoden-Serie Un gars, une fille und seine Verkörperung des blondmähnigen Surfers Brice de Nice. Da und anderswo war seine Paraderolle diejenige des grenzdebilen Dauergrinsers, den er leicht, frisch und absolut ungeniert auf die Leinwand brachte.

Die genau gleiche Rolle spielt Jean Dujardin auch in der Spionageparodie OSS 117. Aus Wikipedia erfahre ich soeben, dass die literarische Vorlage dazu eine Romanserie von Jean Bruce war, einem Zeitgenossen von Ian Fleming und diesem offenbar nicht unähnlich, wenn auch sein Ausstoss (und später derjenige seiner Frau und Kinder) denjenigen des berühmteren Konkurrenten um ein Vielfaches überstieg. Nach einer Serie von Filmadaptationen in den sechziger Jahren wurde der Faden von Michel Hazanavicius 2006 mit OSS 117: Le Caire nid d’espions wieder aufgenommen und ins Parodistische gewendet. Für den aufgeblasenen, schleimigen, chauvinistischen und reichlich doofen Agenten Hubert Bonisseur de la Bath, Codename OSS 117, hätte Hazanavicius keinen besseren Darsteller finden können als Dujardin. Makellos gekleidet und durch keinen Zweifel zu erschüttern beweist dieser stupende Treffsicherheit auf seiner Mission durch die Fettnäpfchen des Nahen Ostens.

Freilich kommt die Komödie nicht wirklich zum Fliegen. Meistens entlockte sie uns nur gerade ein Schmunzeln – zu mühsam entwickelt sich die Geschichte, zu aneinandergereiht wirken die Gags, zu repetitiv wird OSS117s überdrehtes Frohlocken. Immerhin sind wir bei einer Szene schier vom Sofa gerollt vor Lachen: Auf einem Empfang in der britischen Botschaft treffen sich verschiedene einheimische und fremde Agenten, alle in ihrer Tarnung als Manager diverser Kleintierzuchtbetriebe, und schlagen sich, nach den einleitenden Höflichkeiten, mit bedeutungsschwangerem Blick zunehmend abstrusere Sprichwörter und Redewendungen um die Ohren. Mittendrin: Francois Damiens (der trottlige Wirt aus Rien à déclarer) als Raymond Pelletier, Direktor der Société Belgo-Egyptienne d'Elevage de Poulet, der von diesem feinen Netz von Anspielungen überhaupt nichts rafft, aber unverdrossen und mit Hundeblick seine eigenen Weisheiten ins Gespräch einwirft. Das ist ganz hohe komödiantische Kunst, meisterhaft geschrieben und ausgeführt. Leider gibts davon sonst nur ein gelegentliches Aufblitzen zu sehen – zu wenig, um zu begeistern, gerade genug, um den Film einigermassen über die Distanz zu retten.

Technisches: Auf die üblichen Distributionskanäle für Filme muss ich wohl nicht mehr hinweisen; dafür vielleicht auf den überaus gelungenen Titel der deutschen Version: OSS117 – Der Spion, der sich liebte. Das in Rio spielende Sequel aus dem Jahr 2009 habe ich noch nicht gesehen.

Freitag, 29. Juni 2012

Je suis à Cardinal

Heimat – das sind nicht nur alte Mauern und grüne Hügel. Heimat – das sind auch Lebensmittel, die hier wuchsen und nicht in Spanien, Produkte, die hier geschaffen wurden und nicht in China. Das ist auch für den Nicht-Biertrinker das Bier aus der lokalen Brauerei, gebraut mit Wasser, das in Gehdistanz entspringt, aus Gersten und Hopfen, die auf den Feldern rund um die Stadt geerntet wurden. Die Deindustrialisierung unserer Städte betrifft nicht nur den Fabrikarbeiter, sondern auch den Schreibtischtäter hinter seinem Bildschirm. Wie ein jeder seine Wurzeln hat, die er nicht folgenlos abschneidet, so hat auch eine Gesellschaft ihre Wurzeln, ihre kollektive Geschichte, die sich festmacht an und festsetzt in Orten, auf Strassen und Plätzen, in Parks und – Fabriken.

Dies ungefähr ist die Gemengelage in meinem Kopf nach meinem gestrigen Besuch von Je suis à Cardinal. Die wirtschaftlichen Fakten sind bekannt: Konnte 1996 die geplante Schliessung der Freiburger Brauerei Cardinal durch Feldschlösschen noch aufgeschoben werden durch einen regelrechten Volksaufstand, begleitet von Boykottdrohungen und muskulösen politischen Interventionen, so wurde fünfzehn Jahre später das Abwürgen der ausgezehrten und geschwächten Brauerei, die Entlassung der noch siebzig Arbeiter fast schicksalsergeben hingenommen. Der Gegner sass nicht mehr in einem Schloss am Rhein, sondern unerreichbar hoch oben im Norden, in Dänemark: Carlsberg hatte nicht nur Feldschlösschen übernommen, sondern quer durch Europa Brauereien zusammengekauft – nein, nicht Brauereien, vielmehr Markennamen und Produktionskapazitäten, die es nun emotionslos und profitgeil miteinander abzustimmen galt. Bier kann man überall brauen, wo ein Kessel steht, so lautete die Devise… als wäre nicht gerade die Qualität des lokalen Quellwassers das Herz des Gerstensaftes, als wären Handwerk und Tradition frei beweglich auf der Europakarte, nur durch die nackten Kosten gelenkt. Also verschob Carlsberg seine Biere von dort, wo sie herkamen, dorthin, wo gerade Platz war. Es war ein bisschen wie beim Hütchenspieler auf dem Markt: Wo ist die Münze? Na? Hier? Pech gehabt, da ist sie schon längst nicht mehr. Und der stumme Komplize grinst zufrieden.

Aber man schliesst ja auf diese Weise nicht einfach eine Brauerei, man schliesst, beschliesst, Geschichte und Geschichten. Lärm und Geruch (beziehungsweise Gestank, de gustibus non est disputandum) sind verflogen, doch die Seele des Ortes wabert noch durch die leeren Hallen von Cardinal. Man kann die Gebäude, in denen so viele Menschen über Jahrzehnte ihr Herzblut in die Produktion eines Lebensmittels gesteckt hatten, doch nicht einfach so sang- und klanglos abreissen; man muss sich doch von genius loci in gebührender Weise verabschieden. So überlegte die Theaterschaffende Isabelle-Loyse Gremaud und machte sich auf, mit Veteranen von Cardinal zu sprechen, ihre Erinnerungen zu dokumentieren, ihre Anekdoten zu sammeln, ihre Nostalgie und ihre Wut aufzufangen. Und sie brachte all dies zurück an den Ort des Geschehens, öffnete die schweren Rolltore und lud die Bevölkerung ein, in Form eines Theaters Abschied zu nehmen von einem wichtigen Stück Freiburger Industriekultur: Je suis à Cardinal.

Die gewaltigen Hallen sind reingefegt. Stahlträger, Leitungen – Industriearchitektur, nicht schön, nur zweckmässig, und dadurch eben wieder schön. Al Comet von den Young Gods legt einen Soundteppich in die beeindruckenden Raumvolumina, originalen Fabrikationslärm und Elektroklänge. Gelbe Harasse sind Bühnenbild und Bestuhlung in einem. Vier Arbeiter und eine Arbeiterin erzählen von ihrem Leben bei Cardinal, auf Französisch, Hoch-, Berner- und Senslerdeutsch: Die Alltagssprache in der Brauerei war ein funktionales Röstigraben-Sprachgemisch. Durch die teils fragmentarisch, teils ausführlich erzählten Biografien blickt man zurück in die Vergangenheit der Fabrik und der Stadt. Es sind Geschichten aus einer Zeit der Patrons alter Schule, der Lebensstellen – Bier trinkt man immer, Cardinal ist der sicherste Arbeitgeber am Platz, so berichtete mehr als einer. Von Berufsstolz war die Rede: Bei Cardinal zu arbeiten, das war gesucht und renommiert; die betriebliche Pensionskasse datiert aus den dreissiger Jahren; sicher ein Dutzend Handwerksberufe wurden hier ausgeführt und zum Teil auch gelehrt: Brauer natürlich, aber auch Mechaniker jeder Art, Chauffeure, Autolackierer, Wäscherinnen, Stapelfahrer, Schreiner und sogar einen Maurer beschäftigte die Brauerei. Es gab eine Blechmusik und einen Kegelclub, und nach Schichtende traf sich die Cardinal-Familie im Stern, der Beiz beim Eingang, auf ein letztes Bier. Wobei: Was das denn für eine Familie sei, lauter Männer, kritisierte eine Wäscherin die fröhliche Nostalgie – die Frauen seien jedenfalls nach der Arbeit, auch über Mittag, sofort nach Hause geeilt, um dort die hungrigen Mäuler zu stopfen. Der Rückblick verklärt vieles, ohne Frage. Aber die Berichte vom Stolz über die selbständige Arbeit, von der Freude über erfolgreiche Weiterbildungen begeisterten dennoch – und kontrastierten scharf mit den ernüchterten Erzählungen aus den letzten Jahren, die nur noch ein langsames Sterben waren, ohne Neueinstellungen, ohne Lehrlinge, ohne Perspektive. Was die Sibra Holding in den siebziger Jahren vielen Kleinbrauereien angetan hatte, Aufkauf und Schliessung, das widerfuhr nun Cardinal selber.

Die Bearbeitung und Inszenierung dieser Lebensgeschichten überzeugte in nie erwarteter Weise. Das waren kraftvolle, kernige Texte ohne Längen oder Peinlichkeiten, da stimmten Rhythmus und Dramaturgie, da nahmen in Gestalt von Jean-Luc Borgeat, Olivier Havran (der Oedipus in Jocaste Reine), Luc Spori und Niklaus Talman namenlose Arbeiter ein letztes Mal Fleisch und Blut an, und es hätte niemanden erstaunt, wenn die vier am Schluss ein Glas Selbstgebrautes aufgetischt hätten, so lebensnah verkörperten sie die altgedienten Charakterköpfe von Brauern, Mechanikern und Chauffeuren. Wir sahen einen seelenvollen Tribut an ein wichtiges Stück Freiburger Industriegeschichte und ein Abschiedsritual im besten Sinn des Wortes. Das Fabrikgelände an bester Innenstadtlage wurde von Stadt und Kanton übernommen; dort soll in den nächsten Jahren ein Technologiepark entstehen, wie das halt so geht bei der Gentrifizierung. Wer Bier trinkt, weicht am besten aus auf die überall florierenden Mikrobrauereien.

Technisches: Wegen grossen Erfolges gibt es eine kurze Verlängerung: Heute und morgen abend sowie nächste Woche vom vierten bis zum sechsten wird Je suis à Cardinal nochmals gespielt. Ich empfehle den Besuch mit Nachdruck jedem, der es sich einrichten kann. Karten (bzw. Bierdeckel) zu 25 Franken gibt es bei Fribourg Tourisme (026 350 11 00) und mit etwas Glück gewiss auch an der Abendkasse im Empfangshäuschen am Passage du Cardinal.

Sonntag, 24. Juni 2012

Klischee essen Stück auf

Schon vor einigen Jahren hat Direktor Ernst Gosteli ernüchtert festgehalten, das Theater an der Effingerstrasse habe inzwischen wohl den gesamten weltweiten Vorrat an Einpersonenstücken durchgespielt. Für die kleine, knapp kalkulierende Bühne kann jeder zusätzliche Schauspieler potentiell das Budget ins Minus kippen lassen. Umso mehr Kreativität fliesst alljährlich in die Gestaltung des Spielplans, der Klassiker des Repertoires mit neu geschriebenen Stücken kombiniert und sich mit sicherer Hand in der Literatur und beim Film bedient. Zum Saisonschluss gabs einen (grosszügig besetzten) Rückblick ins deutsche Kino der Siebziger: Angst essen Seele auf, Rainer Werner Fassbinders Geschichte über die unmögliche Liebe zwischen einer deutschen Witwe und einem zwanzig Jahre jüngeren Marokkaner.

Das war nun nicht nur episches Theater, sondern geradezu Anti-Theater. Auf der Bühne agierten wandelnde Klischees, mit gröbstmöglichem Meissel geformte Figuren. Keinen Moment konnte man sich dem Fluss der Geschichte überlassen, jede Geste, jeder Satz war über- und zugespitzt. Martin Helstone als Ali musste jenes guttural akzentuierte Infinitiv-Deutsch sprechen, das in Film und Theater den Ausländer markiert. Die bedauernswerte Karo Guthke verkörperte die Kneipenwirtin Barbara als menschgewordenen Fettfleck. Emmis Kinder, Nachbarinnen und Kolleginnen zeigten einen durch keine Konventionen abgemilderten Rassismus: „Schweine sind das, Schweine“ war die typische Reaktion auf die geringste Erwähnung eines Ausländers. So entwickelte sich bedeutungsschwanger, sehr didaktisch und etwas langweilig die zunehmende, brutale Isolation des Liebespaares Emmi und Ali von seiner gesamten Umwelt.

Nach der Pause wurde das Stück vielschichtiger. Als wäre Emmis verzweifelt-utopischer Wunsch wunderbarerweise in Erfüllung gegangen, fanden die beiden Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsreise, die eher eine Flucht war, ein überraschend verändertes Umfeld vor. Noch reserviert, aber durchaus freundlich knüpften die vormals schneidend Feindseligen wieder Kontakte. Doch die Annäherung hatte ihren doppelten Preis: Die meisten suchten Emmis Nähe aus schierem Eigennutz, und sie erkaufte die wieder entstehenden Beziehungen damit, dass sie sich ihrerseits distanzierte – von ihrer neuen jugoslawischen Kollegin beispielsweise, aber auch (andeutungsweise) von ihrem Mann. Mit dem Ende des gegnerischen Sperrfeuers erstarb auch die Schicksalsgemeinschaft zwischen Ali und Emmi. Das Stück schloss jedoch völlig offen – illusionslos und dennoch hoffnungsvoll.

Dass die Geschichte so klischiert erzählt wurde, erschwert ihre Würdigung. Kaum ein Akteur konnte den Holzschnitt seiner Figur nuancieren, aber das schien auch nicht gewollt zu sein. Erwähnung verdienen immerhin Giulietta S. Odermatt, die unter der betulich-naiven Oberfläche ihrer Emmi der schleichenden Entsolidarisierung beklemmenden Ausdruck verlieh, und Robert Runer, der den Kolonialwarenhändler Angermayer als erschreckend lebensnahen Alltagsrassisten porträtierte. Ein Meisterwerk war die Bühne von Peter Aeschbacher, auf der einige wenige Requisiten einzig durch die Lichtregie und das Ziehen eines Vorhangs von der Kneipe zum Treppenhaus, vom Wohnzimmer zum Laden wurden. Die Inszenierung von Regisseur Stefan Meier jedoch war ein sperriges Stück politisch-engagiertes Theater, das wie aus einer fernen Zeit gefallen schien.

Technisches: Angst essen Seele auf wird am Theater an der Effingerstrasse noch die kommende Woche gespielt. Dann ist Saisonschluss, und wir können uns eine Sommerpause lang auf das spannendste Programm freuen, das an der Effingerstrasse in den letzten Jahren angekündigt war. Der Film von Rainer Werner Fassbinder lief vor ein paar Tagen bei arte und ist deshalb noch bis am Mittwoch in der arte-Videothek abrufbar.

Freitag, 15. Juni 2012

Lions, Tigers, and Women

Ich kann nicht über den letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater Bern berichten, ohne zuvor eine kurze kulturpolitische Anmerkung zu machen. Auf diesen Sommer fusionieren Stadttheater und Berner Sinfonieorchester zu Konzert Theater Bern. Bereits über diese Fusion wie über den wahnsinnig originellen neuen Namen liesse sich trefflich debattieren; mir geht es aber um die Personalpolitik. Ein neuer Direktor wurde engagiert, Stephan Märki, Generalintendant des renommierten Deutschen Nationaltheaters in Weimar, und wie üblich und wohl unvermeidlich in solchen Fällen folgten weitere Rochaden auf den leitenden Posten. Anfang Mai erfuhr man, dass der Vertrag mit Ballettchefin Cathy Marston, die gerne in Bern geblieben wäre, nach Ablauf der nächsten Saison nicht verlängert wird.

Nun stelle ich nicht in Frage, dass es bei unterschiedlichen Ansichten in dieser Konstellation natürlich der (neu verpflichtete) Chef ist, welcher bleibt, seine Untergebene, die gehen muss. Enttäuscht hat mich hingegen, wie sang-, klang- und stillos die Ballettchefin abserviert wurde. Der neue Intendant wird mit ein paar formelhaften Worten des Bedauerns zitiert, um dann spitz anzumerken, die Sparte Tanz müsse mutiger werden. Mutiger, aha. Und das lässt ihm der Stiftungsrat widerspruchslos durchgehen? Hat denn niemand der am Entscheid Beteiligten Marstons Arbeit in den letzten Jahren verfolgt? Hat keiner darauf hingewiesen, oder mindestens begriffen, was sie Bern alles gebracht hat? Dabei ist die Liste doch lang: ihr zugänglicher, komplexlos ästhetischer Stil (eine Wohltat nach dem bemüht intellektuellen Tanz unter Stijn Celis); ihre Fähigkeit, Geschichten – wahre und erfundene – auf die Tanzbühne zu bringen, die man dort nicht erwartet hätte; ihre präzise Analyse der Figuren, ihr intensives, aber nie plakatives Sezieren von Gedanken und Gefühlen; ihr freudiges Zugehen aufs Publikum mit öffentlichen Proben und Tryouts; ihre schrankenlose Offenheit gegenüber der restlichen Berner und weiteren Kulturszene, die sich insbesondere in der kreativen, respektvollen musikalischen Zusammenarbeit gezeigt hat.

Geradezu exemplarisch war dies alles im letzten, eindrücklichen Ballettabend der Saison zu besichtigen, Lions, Tigers,and Women. Nach For Play, einem athletischen, rasanten, farbenfrohen Stück der New Yorker Choreografin Andrea Miller zu Musik von Bach und Moderneren, stellt Cathy Marston im zweiten Teil, Hunting Me, die Grosswildjägerin Vivienne von Wattenwyl ins Zentrum. Die Geschichte ist bekannt von Lukas Hartmann und aus dem Naturhistorischen Museum: Die englisch-bernische Burgerstochter begleitete ihren Vater, den Abenteurer Bernhard Perceval von Wattenwyl, auf Safari nach Afrika; nachdem er durch einen Löwen zu Tode gekommen war, übernahm die Dreiundzwanzigjährige die Leitung der Expedition und schoss die restlichen geplanten Grosswildeinheiten. Auf der Bühne des Stadttheaters sind aber kaum Jagd- oder Heldengeschichten zu sehen. Der Fokus liegt fast durchgehend auf dem Innenleben der seltsamen Jägerin, die dem nervösen, safaribeigen Umfeld im langen blauen Kleid fast entrückt scheint. Die Musik kommt live von der Pamela Méndez Band, ein jazziger Pop in düsterer Clubatmosphäre; Band und Tänzer teilen sich die Bühne. Die Bund-Kritikerin bemängelte dies als letztlich unsinnigen Wettstreit zwischen Tanz und Musik; für mich ist es eher ein Beleg für die Absenz jeglicher Eitelkeit bei der Ballettchefin, die sich auf eine gleichwertige Partnerschaft mit der Sängerin eingelassen hat, weit entfernt davon, einfach eine Begleitmusik für ihr Ballett einzukaufen. Allerdings war die Musik der schwächere Part in diesem Duett; besonders im schlichten Solostück am Schluss stiess Pamela Méndez‘ Stimme hörbar an ihre Limiten.

Eine Saison des Bern:Balletts mit Cathy Marston bekommen wir noch, immerhin, und die werde ich als kostbares Erlebnis geniessen. Spannend tönt alles, ganz besonders freue ich mich aber auf die erneute Zusammenarbeit mit der Camerata Bern in einem Stück über Anna Göldi.

Technisches: Die Dernière geht in diesen Minuten über die Bühne. Weiter nachgelesen werden kann das Social-Media-Experiment zur Begleitung des Stücks, nämlich Vivienne von Wattenwyls Blogeinträge und Twitter-Posts; Bewegtbilder gibts bei art-tv.ch. Zu einer völlig gegenteiligen, vernichtenden Kritik – soweit ich seine überladen-selbstverliebte Prosa richtig entschlüsselt habe – kommt poltron auf tanznetz.de.

Montag, 4. Juni 2012

Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart

Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs, zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen, christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen; bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.

Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete). Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen Menschen niederzureissen versuchten.

Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete, durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende Religion.

Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor erschienene Monumentalwerk Der Glaube. Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980 Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.

Technisches: Hubertus Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss. Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.

Montag, 28. Mai 2012

Kleiner Grenzverkehr

Eine gute Komödie braucht vor allem etwas: genügend Reibungsflächen, an denen sich das Komische entflammen kann. Der französische Regisseur und Schauspieler Dany Boon lässt Rien à déclarer, den Nachfolger seiner Erfolgskomödie Bienvenue chez les Ch’tis, an einer Reibungsfläche par excellence spielen, an einer Landesgrenze. Zwar handelt es sich „nur“ um diejenige zwischen Frankreich und Belgien, ist man versucht zu sagen – aber die zur Bekräftigung der eigenen Identität notwendige Abgrenzung gegenüber dem anderen speist sich ja bekanntlich auch aus geringfügigen Unterschieden. An dieser Grenze tummelt sich das gesamte zugehörige Personal: die Grenzbeamten zu beiden Seiten, darunter die eigentlichen Protagonisten, der Franzose Mathias (Boon selber) und der heissblütige belgische Nationalist Ruben (Benoît Poelevoorde, den wir bereits in Les émotifs anonymes gesehen hatten, und dessen zwischen Verzweiflung, innerer Bestimmung und latentem Wahnsinn schwankender Blick ausgezeichnet zum extremistischen Zöllner passt); das ungleiche Wirtepaar aus dem sinnvoll benannten Bistro No Man’s Land, der eigentlichen neutralen Zone in diesem emotional aufgeladenen Fleck Land; die Schmugglerbande mit ihrem schmierigen Boss und seinem tölpelhaften Personal. Da eine Komödie ohne amouröse Verwicklungen nur eine halbe Komödie ist, lässt Boon seinen Mathias seit einem Jahr eine heimliche Beziehung mit Rubens Schwester Louise unterhalten (Romeo und Julia an der Grenze, sozusagen). Dann schlägt er gewissermassen die Hauptstütze dieses Geschichtenkonstrukts weg, die Grenze (die im Zuge von Schengen de facto aufgehoben wird) – und schaut vergnügt zu, was sich in dieser in sich zusammenfallenden kleinen Welt an absurdem Chaos abspielt.

Das ergibt einen etwas vorhersehbaren Film, der vor allem in der ersten Hälfte hauptsächlich aus reichlich plakativen Einzelszenen besteht. Routiniert werden sämtliche potenziellen Gags durchgespielt: Rubens nationalistischer Fervor darf sich in aller Breite entfalten, was zur unvermeidlichen Konfrontation mit den Grenzern von vis-à-vis führt; der grenzdebile Schmuggler fliegt nach allen Regeln der Kunst auf; die skrupellose Wirtin ihrerseits wird zur Informantin des lokalen Bandenbosses, dabei effizient behindert von ihrem trotteligen Mann. Und natürlich wird der Infight zwischen Ruben und Mathias gekonnt zugespitzt, indem die beiden in der ersten gemischten Grenzbrigade in einem alten, dann aufgemotzten Renault 4L über die Landstrassen geschickt werden. Das bewirkt viele herzliche Lacher, aber ergibt noch keine Geschichte. Nur allmählich beginnt diese, Form anzunehmen, bekommen die karikaturalen Figuren Fleisch, Blut und eine Seele. Gleichzeitig fangen die schwelenden Konflikte an zu eskalieren, und in einem schön komponierten Finale gipfeln die Handlungsstränge im klassischen Happy End.

Rien à déclarer ist gewiss kein besonders ernsthafter Beitrag zur europäischen Frage. Von anderen gegenwärtig zirkulierenden, nicht besonders ernsthaften Beiträgen zur europäischen Frage unterscheidet er sich immerhin darin, dass er eineinhalb Stunden unbeschwertes Amüsement verschafft.

Technisches: Rien à déclarer war 2010 in den Kino; ich verweise deshalb pauschal auf die Händler, Ausleiher und Downloadanbieter Ihres Vertrauens. Wenn immer möglich empfehle ich, zur Originalversion zu greifen: Für Nicht-Frankophone sind zwar die unterschiedlichen Akzente nicht immer deutlich auseinanderzuhalten, aber spätestens wenn Dany Boons Mathias den accent belge veräppelt, merken es sogar wir…

Freitag, 18. Mai 2012

Bauanleitung für Tanz

In der Regel bringe ich es nicht fertig, bei den mehrteiligen Tanzabenden im Stadttheater Bern den roten Faden zu sehen. Zu disparat, zu unverbunden scheinen mir die einzelnen Stücke meistens. Das ist ja auch gar kein Problem, wenn das Programmheft nicht ein gemeinsames Thema behaupten oder nahelegen würde. Dieses Mal war es anders: V:dance everywhere lautete der reichlich neutrale Titel des zweiten Ballettabends der Saison, seine drei Teile wurden fein säuberlich jeder für sich selbst vorgestellt – und ich fand einen spannenden roten Faden: Was wir zu sehen bekamen, war so etwas wie eine mehrstufige Bauanleitung für Tanz.
 Die quadratische weisse Spielfläche vor den nackten, schwarzen Mauern von Vidmar:1 im Stück Speakers der israelischen Choreografin Noa Zuk evozierte entfernt eine Meisterschaft im Bodenturnen. Mit dem Gebotenen hatte diese Anspielung gemein, dass in beiden Settings nacktes, schnörkelloses Können gezeigt wird. Zu einer Klangkulisse von elektronischen Tönen und Rhythmen sahen wir so etwas wie einen Katalog aller möglichen Bewegungen. Mit niemals zögernder, höchster Präzision schnellten die Glieder in eine nicht enden wollende Serie Positionen. Das hatte etwas mechanisch-wissenschaftliches und war so etwas wie eine Auslegeordnung: Diese Bewegungen, diese Körperhaltungen sind möglich; dazu diese Geräusche und Töne. Bedient euch, gebraucht dieses Material, macht daraus etwas Neues.
Nach der ersten Pause war der weisse Boden durch einen roten Teppich ersetzt, von dürren Ästen umstanden und daraus heraus beleuchtet; als Musik erklang ein eigenwilliges, aber faszinierendes Gemisch von Flamenco und Vokalschönheit. Zwei Tänzer loteten die Möglichkeiten aus, Bewegungen zu koordinieren. Sie taten dies zunächst synchron, exerzierten parallele Perfektion durch; dann entstanden Abweichungen, Komplementarität. Hier ist das zweite, wesentliche Element in der Bauanleitung: Tanz ist Bewegung in Beziehung, wo eins plus eins mehr als zwei gibt. Das Stück hiess Digital Duende, ein „Klassiker der Moderne“ (so das Programmheft) von Jyrki Karttunen.
In der zweiten Pause konnten sich die Eindrücke etwas setzen, zu einem Interpretationsraum vereinen. Und dann: Ultima Thule von Erick Guillard, ehemaliger Tänzer des Bern:Ballett. Es war, wie wenn der ganze Abend auf das hier hingearbeitet hätte. Ein grandioses, dichtes Stück mit der gesamten Compagnie, von beeindruckender Geschlossenheit und Intensität. Vorhänge in hellem Beige-grau, der unfarbigsten aller Farben, umgaben die Spielfläche, evozierten eine Atmosphäre von Nervenheilanstalt; und einigen der Figuren war ihr Leiden anzusehen. Ganz nahe beieinander standen sie zu Beginn, gemeinsam, aber dennoch verloren; dann nahmen sie den Raum in Anspruch, oft ziellos und doch in stiller Harmonie. Einzelne wurden von Panikattacken befallen, rannten los, brachen in unkontrolliertes Zucken aus; in starken Szenen von grösster Behutsamkeit nahm sie ein anderer in den Arm, versuchte sie zu trösten. Trotz dieser Zärtlichkeit herrschten vorwiegend Melancholie und Ausweglosigkeit; und als am Schluss wieder das Bild des Anfangs entstand, schwang Verzweiflung mit. Ein grosses Stück – und ein reicher (und reichhaltiger) Abend.

Technisches: Wie üblich bei meinen Ballettrezensionen hat auch diese hier unglaublich lange reifen müssen. V:dance everywhere ist schon seit einiger Zeit vom Spielplan verschwunden… Eine andere Perspektive auf den Abend bieten die Besprechungen von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung und von Poltron auf tanznetz.de.