Freitag, 27. Juli 2012

Kein Applaus für Scheisse

In meiner ganzen Studienzeit in Freiburg war ich genau ein einziges Mal am Bollwerk-Festival. (Es muss im Jahr 2000 gewesen sein, aber der Archiv-Server des Belluard ist leider heillos zerschossen.) Da traten zwei Männer auf die Bühne, zogen sich nackt aus und gingen dann im Wesentlichen eine Stunde lang in exakten geometrischen Formen kreuz und quer über die Bühne – so jedenfalls meine Erinnerung. Das ist jetzt also diese zeitgenössische Performance-Kunst, dachte ich mir, und hielt mich in den kommenden Jahren vom Belluard fern. In der Zwischenzeit habe ich, wieder mutiger geworden, entdeckt, dass sich dieses Festival durch eine enorme thematische Breite auszeichnet, und war oft begeistert von zugänglicheren, intelligenten und vielschichtigen Stücken: Filmen, Vorträgen, Installationen. Dieses Jahr nun, als ich zusammen mit S. das Programm durchforstete, fühlten wir beide einen gewissen Übermut, uns wieder einmal konzeptkünstlerisch die Kante zu geben, und stiessen auf eine Performance, die folgendermassen angekündigt wurde: „Florentina Holzinger und Vincent Riebeek loten in Kein Applaus fürScheisse unerbittlich die Grenzen dessen aus, was auf der Bühne möglich ist.“

Das tönt doch vielversprechend, sagten wir uns, und buchten gleich einen ganzen Abend am Festival. Nach der Lügendetektor-Performance As It Is, von der noch zu reden sein wird, stiegen wir zum Bollwerk hoch, während sich der Himmel über der Stadt, passend zum apokalyptischen Spektakel, das uns erwartete, dunkelschwarz färbte. Die ersten Tropfen fielen, als das Tor sich öffnete, und als wir in den Laubengängen des Bollwerks Zuflucht gefunden hatten, prasselte die Sintflut nieder. Und was sind nun die Grenzen dessen, was auf der Bühne möglich ist? Für möglich erachtete das Künstlerpaar an diesem Abend unter anderem folgendes: Vincent Riebeek kotzte eine blaue Flüssigkeit auf seine Partnerin, pinkelte auf sie und zog ihr mit dem Mund einen Bindfaden aus der Vagina. Dazwischen zeigte Flo Holzinger hochstehende Akrobatik am Vertikaltuch, feuerte eine Paintball-Gun ab, und die beiden sangen reichlich falsch einige Lieder.

Dazu zwei Bemerkungen. Zum einen ist es faszinierend, wie die simpelste Provokation auch im Jahr 2012 noch narrensicher funktioniert. Ich konnte mir jedenfalls bisher nichts vorstellen, was den Blick am Abend dazu hätte bringen können, über das Belluard-Festival zu berichten. Jetzt weiss ich: Einmal Kotzen reicht, um in der Zeitung zu kommen – die genau dann den Ernst und den Anstand raushängt, um die sie sich das übrige Jahr weitgehend foutiert. Und zum zweiten: Wenn uns passagenweise nur der Dauerregen davon abgehalten hat, das Bollwerk zu verlassen, dann lag das weniger am Schock als vielmehr an der Langeweile. Über weite Strecken war das Spektakel einfach nur langfädig und öde. Und vielleicht liegt hier der Schlüssel zum Verständnis: Vielleicht war der eigentliche Inhalt von Kein Applaus für Scheisse die Reaktion, die das Gesehene bei den Zuschauern auslöste. Holzinger und Riebeek haben ohne Rücksicht auf eigene Verluste beim Publikum Verwunderung, Staunen, Ekel, Entsetzen und eben Langeweile produziert. Und wir waren die ganze Zeit auf einer Meta-Ebene mit der Analyse unserer Emotionen beschäftigt – und haben dabei unbewusst gespürt, worauf es beim Theater wirklich ankommt: nicht auf das, was auf der Bühne, sondern auf das, was in unseren Köpfen passiert.

Technisches: Das Belluard Bollwerk International 2012 ist natürlich längst Geschichte; nächstes Jahr geht es um die gleiche Zeit weiter. Florentina Holzinger und Vincent Riebeek sind mit dieser und anderen Performances regelmässige Gäste an Festivals in ganz Europa.

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