Freitag, 19. Dezember 2008

Kylián / Armitage / Marston

Tänzerinnen und Tänzer arbeiten gewissermassen multilingual, beherrschen mehrere Tanzsprachen und müssen sich neben den vertrauten Dialekten auch regelmässig auf andere Ausdrucksweisen einstellen können. Es ist immer besonders reizvoll, diese Wandlungsfähigkeit am gleichen Abend erleben, die verschiedenen Sprachen direkt vergleichen zu können. So hat Cathy Marston für den ersten Ballettabend der neuen Saison am Stadttheater Bern einer eigenen Kreation zwei Stücke von Jiří Kylián und Carole Armitage vorangestellt.

No More Play des tschechischen Choreografen Jiří Kylián ist fast naturwissenschaftlich zu nennen. Zur sehr konstruierten, dem Kopf besser als dem Ohr zugänglichen Musik von Anton von Webern (Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 in der Aufnahme des Quartetto Italiano) schneiden die Scheinwerfer scharfe Kreise und Rechtecke aus dem Bühnenboden. Darin bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer wie gut geölte Präzisionsmaschinen, ihre fliessenden Bewegungen gehen mit der Zuverlässigkeit perfekt eingestellter Zahnräder ineinander über. Geometrische Muster von Licht und Schatten verstärken noch den Eindruck der strengen Konstruiertheit. Ganz anders Between the Clock and the Bed, eine Uraufführung von Karole Armitage. Die Suite für Streichorchester von Leoš Janáček (jetzt live vom Berner Symphonieorchester) ist von äusserstem spätromantischen Ausdruck und Innigkeit. Dem Auge bietet sich das perfekte Pendant: Jede Bewegung wird intensiv und kraftvoll durchgestaltet und schwelgerisch bis zur Neige ausgekostet.

Nach der zweiten Pause dann düstere Töne und hektische Bewegungen in Libera Me von Cathy Marston. Das Thema ist der Tod. Auf der bis an die Rückwand vollständig kahlen Bühne sehen wir einen modernen Orpheus sitzen, der seine Schnürstiefel ablegt und sich barfuss und mit nacktem Oberkörper auf die Suche nach seiner Eurydike macht. Das vergebliche Suchen, die täuschende Nähe prägen dieses Stück. Im grellen seitlichen Scheinwerferlicht jagen immer wieder die Geister der Unterwelt über die Bühne, greifen sich die Tote, trennen die Liebenden: der Tod als Gefängnis, als geschlossene Gesellschaft, und der Kampf gegen den Tod als vergeblicher Versuch der Befreiung. Unterstrichen wird diese Interpretation durch die betörende und verstörende Musik, die Requiem Canticles von Igor Strawinski. Im Orchestergraben drängen sich hinter dem breit besetzten Orchester der Chor des Stadttheaters mit den SolistInnen Vesela Lepidu und Ivaylo Ivanov. Den ausgewählten Texten aus der lateinischen Totenmesse (sechs Strophen aus der Sequenz Dies irae und das Responsorium Libera me) verleiht der greise Komponist verschiedenartige Gestalt, von gregorianischen Anklängen über gesprochene Partien bis zu sehr sperrigen Klangfolgen. Eindrücklich ist es zu wissen, dass die Requiem Canticles fünf Jahre nach ihrer Entstehung an Strawinskis eigener Beerdigung gespielt wurden.

Mit diesen ernsten Tönen und diesen Bildern der Trennung endet der Abend. Das nicht besonders zahlreich erschienene Publikum spendet lang anhaltenden, warmen Applaus. Ich kann mich nur wiederholen: Es ist ein Glück, Cathy Marston in Bern zu haben, und ein Vergnügen, ihre Compagnie zu sehen.


Technisches: Der besprochene Abend wird im Dezember noch einmal und im Januar noch zweimal gespielt.

Samstag, 13. Dezember 2008

Not des Erkennens

Vor 46 Jahren kam der erste James-Bond-Film in die Kinos, und immer noch bewirkt jede Regung, jedes Zucken der dienstältesten Hauptfigur des internationalen Films ein Echo ohnegleichen: Das nächste Bond-Girl, der nächste Bösewicht, der Bond-Darsteller selber, Drehorte, Pannen und Anekdoten werden von der Produktionsfirma gekonnt ausgebreitet und von einer Heerschar etablierter und weniger etablierter, ernsthafter und weniger ernsthafter Medien seziert und analysiert. Für Bond gilt das gleiche wie für den Fussball: Jeder ist ein Experte. Und mitunter gemahnt das repetitive „früher war alles besser“ an eine Altersheim-Cafeteria. Bin ich boshaft? Gewiss, Daniel Craig und sein Debütfilm Casino Royale hatten weit herum Bestnoten erzielt. Aber als kürzlich Quantum of Solace in die Kinos kam, ging durch die Presse oft das altbekannte Greinen: Das ist nicht mehr der Bond, den wir lieben – zu brutal, zu wenig ironisch, und vor allem nicht genügend glamourös.

Dazu ist verschiedenes zu sagen, zum Beispiel, dass Quantum of Solace 21 Vorgänger hat und dass nur schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit einer oder zwei davon wohl besser sein werden als der aktuelle. Jede Generation, so der durchaus zutreffende Gemeinplatz, hat ihren Bond; politische und gesellschaftliche Realitäten, technische Entwicklungen, andere Filme waren immer eine wichtige Inspiration; ihre Entstehungszeit und den entsprechenden Geschmack kann keine der Episoden verleugnen. Mehr als einmal hat sich die Entwicklung der Figur zwischenzeitlich in Klischees totgelaufen. Am wichtigsten jedoch ist, dass mit Casino Royale eine neue Zeitlinie begann; dass wir jetzt lernen, wie Bond zu dem etwas klischierten Playboy wurde, den wir kennen und lieben. Dieser elegante, ironisch-blasierte Alleskönner war einmal ein junger Agent, frisch von der Ausbildung, bereits schlagkräftig, taktisch geschult und ein Muskelpaket ohnegleichen, gewiss, aber auch etwas unbeherrscht, im Umgang ungehobelt und auf dem gesellschaftlichen Parkett noch wenig stilsicher. Im Moment können wir ihm dabei zuschauen, wie er sich die Erfahrungen und Narben holt, die ihn zu dem machen werden, den wir schon kennen – und wir entdecken statt der sonst leicht eindimensionalen Figur auf einmal eine facettenreiche Persönlichkeit.

Quantum of Solace beginnt mit irrwitzigen, rasend schnellen Schnitten, in der Autoverfolgungsjagd am Gardasee im Prolog und im Zweikampf durch die Gewölbe und über die Dächer von Siena. Tempo, Intensität, Hektik und Verwirrung setzen das Thema des Films: die Not des Erkennens (um es mit einem Begriff aus dem Literaturunterricht auszudrücken). In dieser unübersichtlichen und unentwirrbaren Geschichte ist wenig bekannt, nichts gewiss – und wem soll man da vertrauen? Das beginnt mit der erschütternden Einsicht von M, dass der Gegner, den sie eben am Rockzipfel erhascht zu haben meint, sich seit Jahren in ihrem innersten Kreis bewegte; und das zieht sich durch die ganze Handlung, die durch kleine, zufällige Details mühsam vorwärts gebracht wird. Bald wird Bond nicht nur von Quantum gejagt, diesem mysteriösen Verbrechersyndikat, sondern auch von der CIA, und überdies von seiner eigenen Vorgesetzten abgesägt. Die Not des Erkennens gipfelt in jener intensiven Szene, in der nicht nur Bonds letzter Strohhalm zum Erfolg, sondern sein nacktes Leben davon abhängt, dass sein CIA-Kollege Felix Leiter, hin- und hergerissen zwischen Auftrag und Freundschaft, den Freund letztlich nicht hängen lässt. Wenig verwunderlich, dass am Schluss Einsatz und Rache gelingen, aber viele Fragen offen bleiben.

Dieser zeitgemässe Bond kommt ohne überdreht-psychopathische Bösewichte in futuristischen Settings, ohne Gadgets und ohne finale Massenschiessereien aus. Stattdessen dominieren Szenen von Verlust, Versagen, Trauer – und ein durchaus realistischer, unauffälliger, aber deswegen nicht weniger gnadenloser Krimineller. Die lange Szene auf der imposanten Seebühne von Bregenz und die weiten Einstellungen in der bolivianischen Wüste unterstreichen dabei (neben Marc Forsters künstlerischen Anspruch) das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Nichtwissens. Erinnerungen drängen sich auf an andere, ähnlich minimalistische und intensive Filme der Serie, die von persönlicher Betroffenheit und Rache Bonds geprägt sind: On Her Majesty’s Secret Service und vor allem Licence to Kill. In seinen nächsten Auftritten wird der junge Agent zweifellos an Eleganz, Ironie und weltmännischem Gehabe gewinnen; angedeutet ist dies schon in einigen wenigen Szenen, beispielsweise in der Hotelsuche mit Strawberry Fields in Bolivien. Vorerst aber ist er ein Getriebener, Bedrückter, Verletzter auf der Suche nach seiner Rolle. Darin liegt das Beeindruckende und Packende von Quantum of Solace.


Technisches: Quantum of Solace läuft noch mehr oder weniger überall in Kinos Ihres Vertrauens. Wer den Film dort verpasst, wird ihn in wenigen Jahren auf allen möglichen Kanälen wieder und wieder antreffen. Und wer meine Besprechung zu ehrfürchtig findet, dem wird vielleicht die satirische Version des Drehbuchs von Diego Doval besser gefallen.

Donnerstag, 4. Dezember 2008

Ansichten eines Kellners

Waiter Rant war das erste Blog, das ich von vorne bis hinten komplett und mit wachsender Begeisterung durchlas – und das noch bevor ich wusste, was ein Blog überhaupt ist (in grauer Vorzeit, so um 2005). Ein anonymer Kellner in einem Upperclass-Italiener in New York schreibt da über seine leidvollen Erfahrungen mit schwierigen Kunden, zickigen Kolleginnen und einem cholerischen Chef. Als Europäer muss man wissen: In den USA hat das Servierpersonal einen mehr symbolischen Grundlohn, lebt aber zur Hauptsache vom Trinkgeld, ist also dem Anstand und dem Goodwill seiner Kundschaft auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Wer nicht mindestens 15% gibt, betrügt den Kellner, ohne dass dieser sich wehren kann. Zudem gilt jenseits des grossen Teichs nicht nur in der Gastroindustrie das Prinzip des Hire and Fire: Wenn der Chef schlecht geschlafen oder sonst miese Laune hat, kann er seinen Angestellten ohne Aufhebens und auf der Stelle die Tür weisen – und auch diese können ihre Schürze von einem Moment auf den anderen an den Nagel hängen. Reichlich Konfliktpotential also, und reichlich Potential für gepfefferte Geschichten auf des Kellners Blog. Doch dieser erschöpft sich nicht im Anekdotenerzählen. Seine Jahre im Priesterseminar haben sich in einer eleganten, besonnenen, eine kleine Spur altmodischen Sprache niedergeschlagen. Seine Erfahrungen als Psychiatriepfleger verhelfen ihm zu verblüffend enthüllenden Analysen des Geisteszustandes seiner jetzigen Klienten. Und seine Zeit als Kellner hat seiner Menschenkenntnis den letzten Schliff gegeben – denn nichts ist so aussagekräftig für den Charakter eines Menschen wie seine Art, mit Dienstpersonal umzugehen. So sind die kleinen, oft hässlichen Geschichten aus dem Nobelrestaurant nur ein Vorwand für allgemeingültige Betrachtungen zum Wesen der Menschen und zum Sinn des Lebens. Dass der Autor dabei das Abgleiten in Kitsch und Trivialitäten durch den gut dosierten Sarkasmus in der Rahmenhandlung gekonnt vermeidet, macht sein Blog so lesbar.

In der englischsprachigen Blogwelt gibt es so etwas zwischen Jackpot und Ritterschlag: den Book Deal. Wer einen Buchvertrag erhält, der hat es geschafft, der kann auf beträchtlichen finanziellen und emotionellen Lohn für hunderte Stunden einsames Bloggen hoffen. Als der Kellner seiner Leserschaft im Sommer 2006 mitteilte, er habe einen Book Deal abgeschlossen, war meine Vorfreude darauf, seine Schreibe bald auch in anderer Form und Aggregatszustand geniessen zu können, etwas gemischt mit Bedenken, ob sich ein lesenswertes Blog denn tatsächlich in ein lesenswertes Buch transformieren lassen würde. Das war freilich unnötig: Waiter Rant hat eine prägnante Struktur und einen roten Faden. Halb Autobiografie, halb Blick hinter die Kulissen eines Restaurants, nicht frei von Pathos, aber immer in der mir lieb gewordenen, leicht fliessenden Sprache des Kellnerpoeten, liest sich das Buch angenehm und spannend. Es ist, als würden dutzende von Facetten aus mehreren Jahren der punktuellen Lektüre aufs Mal mit sicherer Hand zu einem abgerundeten Ganzen zusammengefügt.

Für den anonymen Kellner war sein Buchvertrag tatsächlich das grosse Los. Zwar scheint das Schreiben eine Durststrecke gewesen zu sein – er verliess nach sieben Jahren zermürbt The Bistro, sein Restaurant, hatte mit anderen Stellen noch weniger Glück, und vor allem litt auch das Bloggen unter seiner Konzentration auf das Buch. Am Erscheinungstag jedoch liess er sich in der New York Post outen (sein wahrer Name ist Steve Dublanica), andere Artikel, Radio- und Fernsehbeiträge folgten, Waiter Rant wurde zum Bestseller, mehrere Übersetzungen sind in Vorbereitung, und auch das nächste Buch ist schon in Arbeit. Selten habe ich jemandem einen solchen Erfolg mehr gegönnt!


Technisches: Waiter Rant. Behind the Scenes of Eating Out, by A. Waiter. London, John Murray 2008. ISBN 978-1-84854-007-1. Die deutsche Übersetzung wird bei Droemer Knaur erscheinen.

Samstag, 29. November 2008

Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?

Die griechische und überhaupt die weltweite Theatergeschichte beginnt mit einem Donnerschlag: mit den Persern von Aischylos, einem Stück von archaischer Wucht. Es ist offensichtlich, dass diese Kunstgattung noch jung ist. Von dialogisch fortschreitender Handlung ist erst wenig zu sehen; vielmehr sind da einzelne, lange Reden aneinandergereiht, von wenig Austausch mit dem Chorführer aufgelockert, aber durch ausführliche, reflektierende und vorbereitende Chorlieder verbunden. Gleichzeitig hat Aischylos in schöpferischer Kühnheit die bereits etablierte Tradition verletzt, dass Tragödien einen mythologischen Inhalt haben sollen, um ein zeitgeschichtliches Ereignis darzustellen: die Niederlage des persischen Heeres in Salamis und Plataiai – das zeitgeschichtliche Ereignis ohne Zweifel, noch frisch in der Erinnerung und durchaus von mythischer Grösse. Das grandiose Scheitern des mächtigsten Mannes seiner Zeit, des Perserkönigs Xerxes, interpretiert Aischylos in der Optik der Tragödie als Resultat von Hybris. Der für die griechische Weltanschauung so charakteristische Begriff meint eine Kombination von Übermut und Verblendung: Xerxes dient also, einem Sagenkönig ähnlich, als Modell für menschlichen Wahn und göttlich bedingtes Scheitern.

Am Zürcher Schauspielhaus bringt Stefan Pucher dieses Monument auf die Bühne, und er gibt ihm eine zusätzliche Schärfe. Nicht nur wird der Besiegte von Salamis als Mensch gezeichnet, der sich über den ihm zustehenden Rahmen erhoben hat und darob gestürzt ist, sondern das Geschehen am persischen Hof wird als zeitloses Muster dafür präsentiert, wie eine erstarrte Grossmacht auf eine existenzielle Krise reagiert – nämlich fahrig und realitätsblind. Angelegt ist das schon bei Aischylos: Gefühlt die Hälfte des Textes besteht aus ausführlichen Aufzählungen der persischen Gebiete, Untertanen, Heerführer, Dynasten. Wir sind, erklärt der chefbeamtenhafte Chorführer in gesetztem Ton, wir haben, wir können, wir, wir... Charakteristisch für diesen vollständig auf sich selber gerichteten und mit sich selber beschäftigen Staat ist Königin Atossas schon fast hilflose Frage: „Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?“ – und ihr arrogantes Gelächter, als sie erfährt, dass es sich bei dem ihr unbekannten Gegner absurderweise um eine Demokratie handelt. Als dann die Katastrophe, die in dichter, gespannter Befürchtung schon erahnbar war, zur Gewissheit wird, schalten die Spitzen des Reiches nach nur kurzer, wenn auch intensiver Betroffenheit übergangslos zur Schadensbegrenzung. Und es ist erschreckend zu sehen, dass sie dazu die gleichen Methoden verwenden, die uns Heutigen bestens vertraut sind: Beschwörung der guten alten Zeit, möglichst schnelle Schuldzuweisungen, sofortige Herrschaftssicherung um jeden Preis. Als Tröster und Erklärer aus der Unterwelt zurückgebeten wird der verstorbene König Dareios, der Vater des Xerxes. Ausgerechnet er, der vor gerade mal zehn Jahren selber jämmerlich auf einem Feldzug nach Griechenland gescheitert ist, darf jetzt mit fast genervt nonchalantem Gestus darlegen, was der Junior alles falsch gemacht hat; und der Hof hängt an seinen Lippen. Schnell sind so der einzig Schuldige und der wahre Fehler gefunden: Xerxes hat es gewagt, den Hellespont auf einer Schiffbrücke zu überqueren, hat also gewissermassen dem Meer Fesseln angelegt und sich mithin über die göttliche Ordnung hinweggesetzt. Doch wenn er nur, so das immer stringentere Mantra von Atossa, zwar verletzt und geschlagen, aber lebendig zurück kommt, dann bleibt er König, weil es nämlich gar nicht anders sein kann.

Dadurch, dass er dieses bestens eingespielte Vorgehen zur Bewältigung des Unvorstellbaren überdeutlich sichtbar macht, verlagert Pucher den Fokus des Stücks von der Hybris des Xerxes zur Hybris der persischen Führungsriege, zu ihrem Erstarren in der Selbstgenügsamkeit und zu ihrer absoluten Unfähigkeit zur Selbstkritik. Als Xerxes dann schliesslich, blutbefleckt und mit zerrissenem Mantel, tatsächlich eintrifft, verhallt sein Wehgeschrei praktisch echolos. Atossa ist schon weg, der Chefbeamte verstolpert sich zwischen Unterwürfigkeit, Jammer und unscharfer Kritik; die Trauer des geschlagenen Königs läuft sich in einer Art Endlosschlaufe zu Tode. Echte Trauer, Selbstanklage, Einsicht sind an diesem Hof nicht gefragt.

Wir sahen auf der Pfauenbühne eine dichte, überraschend kurze Inszenierung von Aischylos’ Meisterstück. Bühne und Kostüme evozierten den lächerlich-kitschigen Prunk moderner Potentaten, lenkten die Aufmerksamkeit auf die eitle Selbstbespiegelung der Machthaber. Ominöse Videoprojektionen durchzogen schwarzweiss den Hintergrund. Nicht erschlossen haben sich mir Sinn und Funktion der Popsongs, in welche der Botenbericht und die Reaktion der Königin ein bisschen überschäumend gemündet haben. Das hervorragende Schauspielensemble hingegen (Jean-Pierre Cornu als Chorführer, Catrin Striebeck als Atossa, Daniel Lommatzsch als Bote, Robert Hunger-Bühler als Dareios und Oliver Masucci als Xerxes) verdient höchstes Lob für die Konzentration, mit der es dieses ernste, archaische Stück durchdrungen und getragen hat.


Technisches: Die Perser stehen am Zürcher Schauspielhaus im Dezember noch viermal auf dem Programm, Billette können online bestellt werden.

Mittwoch, 26. November 2008

Kultur?

Philipp Gut, so entnehmen wir der aktuellen Jubiläums-Weltwoche, wird neuer Ressortleiter Kultur und Wissen des Blattes. Dazu qualifizieren ihn laut der Hausmitteilung unter anderem seine Erfahrung auf der Kulturredaktion des Tages-Anzeigers und seine preisgekrönte Dissertation über Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. So weit, so gut, denken wir, blättern ein paar Seiten weiter – und stolpern in einem Bericht Guts zu einer Studie, welche schweizweit die Leistungen der Maturandinnen und Maturanden in den Fächern Erstsprache, Mathematik und Biologie analysiert hat, über diesen Satz: „Besonders gut schneidet in allen geprüften Fächern das unzeitgemässe Schwerpunktfach Alte Sprachen ab.“ Schade, Herr Gut: Dass Ihnen zu dem Fach, dass sich mit den Grundlagen für einen schönen Teil der abendländischen Kultur auseinandersetzt, ausgerechnet das Adjektiv unzeitgemäss einfällt, disqualifiziert Sie noch vor Amtsantritt umgehend wieder als Kulturchef der Weltwoche.

Dienstag, 18. November 2008

Traktoren

Das Theater an der Effingerstrasse hat bei der Berner rot-grünen Mehrheit einen schweren Stand. Die Gründe sind offensichtlich: Der Altersdurchschnitt beim Publikum liegt in der Regel über Sechzig (ausser wenn gelegentlich die obligate Schulklasse mit drin sitzt), die Stücke haben Anfang und Ende und dazwischen einen nachvollziehbaren Ablauf, und eine nackte Brust gibts, wenns hoch kommt, einmal pro Saison. Damit lässt sich natürlich an internationalen Festivals kein Blumentopf gewinnen, das so begehrte junge und hippe Publikum bleibt fern, und wer Kulturpolitik als Apéropolitik missversteht, findet bessere Locations mit mehr Öffentlichkeitsresonanz. Deshalb hat der unverwüstliche und unermüdliche Theaterleiter Ernst Gosteli regelmässig Absagen einstecken müssen, wenn er um einen kleinen Unterstützungsbeitrag aus der (ansonsten in kulturellen Dingen grosszügigen) Stadtkasse bat; entsprechende, teils leicht absurde Stadtratsdebatten verliefen in der Regel ziemlich genau den politischen Gräben nach; und erst letztes Jahr honorierte Bern das grosse Engagement des kleinen Theaters mit einer Subvention.

Ich bin Gostelis Haus – was sage ich, seinem Keller – seit Studienzeiten mit Zuneigung verbunden. Das liegt daran, dass ich an der Effingerstrasse wesentliche Teile meiner Theaterbildung genossen habe. Die paar wenigen obligaten dramatischen Exkursionen als Schüler eines humanistischen Gymnasiums hatten mich noch nicht zum Adepten gemacht. Den Vorschlag von T. ein paar Jahre danach, man könnte doch gelegentlich zusammen ins Theater gehen, fand ich aber dennoch reizvoll, und wir gesellten uns zum grossen, treuen Abonnementspublikum, das die Effingerstrasse zum meistbesuchten Sprechtheater der Schweiz macht. Das hatte zunächst den Vorteil der Regelmässigkeit: Wir sahen das gesamte Spektrum der Stücke, lernten die Schauspielerinnen und Schauspieler des erweiterten Ensembles kennen und schärften so unsere Augen und unser Verständnis. Dazu kam die Begeisterung für das, was Theater ausmacht: Dass da immer nur das ist, was live passiert, wenige Meter vor unseren Augen, ohne Netz und doppelten Boden, jeden Abend wieder frisch und von vorne.

Mein Abonnement habe ich vor drei Jahren nicht mehr erneuert, aber ich gehe weiterhin gerne an die Effingerstrasse. Diesen Monat wird, der Haustradition der Dramatisierungen von Prosawerken folgend, die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ gegeben, der internationale Bestseller von Marina Lewycka in der Bühnenfassung von Tanja Geier. Die Story vom achtzigjährigen, nach dem Zweiten Weltkrieg nach England emigrierten pensionierten Ingenieur und Traktor-Aficionado, der plötzlich von tiefster Liebe zu einer sechsunddreissigjährigen Ukrainerin befallen wird, und von seinen zerstrittenen Töchtern, die diesem dritten Frühling und seiner Ursache zu Recht misstrauen, da die Schöne den liebestollen Alten gewissermassen mit dessen eigenem Einverständnis nach Strich und Faden ausnimmt, hat reichlich komisches, ja tragikomisches Potential. Leider geht das meiste davon beim Transfer auf die Bühne verloren: Die Geschichte wirkt unrealistisch überzeichnet und durchwegs vorhersehbar; die (durchwegs guten) Schauspieler haben trotz der Länge des Abends kaum Möglichkeiten, ihren scherenschnittartigen Figuren irgendwelche Tiefe zu verleihen; der Schluss ist nicht nur banal-kitschig, sondern auch völlig unmotiviert.

Tags darauf entdecke ich in der Bahnhofsbuchhandlung zufällig die Romanvorlage von Marina Lewycka. Nach kurzem Blättern ist mir klar, warum dieser Traktor als Buch funktioniert: Da ist die älteste Tochter die Erzählerin, und ihre ironisch-witzigen Invektiven kommen immer leicht schräg, nie ganz ernst daher. Der Text hat Schwung und genügend Raum, um sich auszubreiten. Aus dieser Vorlage ein Bühnenstück zu machen, erscheint mir aber so gut wie hoffnungslos – es sei denn als überdrehte Komödie, und das war es nicht.

So bestätigt sich mir eine alte Binsenweisheit aus Abonnementszeiten: Die wahren Perlen einer Spielzeit kommen oft überraschend. Wer sich nur herauspickt, was ihm im Programm gefällt, kann enttäuscht werden. Tröstlich ist bei allem, dass die Faszination der Bühne auch an einem schwächeren Abend wirkt.


Technisches: Der Traktor wird an der Effingerstrasse noch bis am 5.12. gegeben. Die Preise sind fair und Herr Gosteli am Telefon freundlich und speditiv. Wer das Buch vorzieht, findet es bei dtv.

Freitag, 14. November 2008

Vicky Cristina Barcelona

Filme von Woody Allen lassen sich in den letzten Jahren etwas bösartig auf die Formel „schöne Menschen an schönen Orten“ bringen. Die schönen Orte sind dieses Mal Barcelona und Umgebung; die schönen Menschen Scarlett Johansson (natürlich), Penélope Cruz, Javier Bardem und Rebecca Hall. „Vicky Cristina Barcelona“ erzählt vom Sommer in Europa zweier ungleicher Freundinnen aus Amerika und dekliniert anhand ihrer Erlebnisse die Spielarten von Liebe und Beziehung durch. Die verlobte Vicky, deren zukünftiges Leben auf beängstigende Art festgeschrieben scheint, wird trotz massivem Widerstand vom draufgängerischen Charmeur Juan Antonio aus der Bahn geworfen. Die experimentierfreudige Cristina ihrerseits reisst sich geradezu darum, aus jeglichem Ansatz festgeschriebener Bahnen geworfen zu werden, und findet sich ohne grosse Anstrengung in einer intensiven Dreiecksbeziehung mit Juan Antonio und seiner cholerischen Ex María Elena wieder. Mit dem Rückflug nach Amerika lassen die beiden Freundinnen ihr Sommerleben und ihre Sommerlieben in Spanien zurück; sie kommen – oh ironische Wendung – wieder fast genau dort an, von wo sie aufgebrochen waren.

Der Film ist etwas chaotisch, durchaus tiefsinnig, wenn auch leicht überspitzt. Die Möglichkeit und Unmöglichkeit(en) von Liebe und Beziehungen faszinieren und bedrücken. Dass ich dennoch nicht wirklich vom Hocker gerissen wurde, liegt hauptsächlich an Allens Entscheid, den Film durch einen Erzähler kommentieren zu lassen: Unmotiviert schwankend zwischen altklug und witzig, mit einem unnötig pseudo-dokumentarischen Effekt, hat dieser dem Film nichts gebracht, aber viel von seiner Leichtigkeit und Ironie genommen. Bleiben die schönen Menschen und Orte: So waren die anderthalb Stunden im Kino in erster Linie ein Vergnügen für die Augen – für einen Film von Woody Allen ein eher zweifelhaftes Kompliment.


Technisches: "Vicky Cristina Barcelona" läuft wahrscheinlich gerade noch knapp in einem Lichtspielhaus in Ihrer Nähe, und sonst warten Sie halt auf die DVD.

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Hohl ist der Boden unter den Tyrannen

Vom Hackbrett (Töbi Tobler) wehen ein paar Wellen her, und dann lacht es schrill los: Der Ton ist gesetzt. Dieser See lächelt nicht, er höhnt und verlacht, und aus zwei Dutzend Besenstielen schlägt das Donnergrollen auf die Pressspanbühne im Tellspielhaus Altdorf. Wie alle paar Jahre wird wieder Schillers Tell gegeben – aber das hier ist keine klassisch schöne Abendunterhaltung. Das hier ist ein Volk in äusserster Not, von einer brutalen Fremdherrschaft unterjocht. Wie hält es solche Willkür aus? Wie kann es seine Freiheit gewinnen? Welches sind seine Strategien, und wie einigt es sich auf diejenige, die Erfolg verspricht? Auf diese Fragen fokussiert Regisseur Volker Hesse das Stück, mit ähnlich grossem Gestus wie letztes Jahr beim Einsiedler Welttheater. Eindrücklich geschlossene Choreografien (Graham Smith) evozieren die Bilder der Unterdrückung, die wir aus dem Geschichtsbuch und den Medien kennen; die lange, laufstegartige Bühne (Hyun Chu) zwischen den zu beiden Seiten ansteigenden Tribünen unterstreicht noch die entmutigende Unausweichlichkeit der Situation. Drei kurze, essenzielle Szenen stechen heraus, in denen sich jeweils ein Mann und eine Frau, ganz in der Art der griechischen Tragödie, Red und Antwort stehen, Rechenschaft geben über ihre Gedanken, Ängste und Pläne, und sich damit zu einer Grösse und Entschlossenheit erheben, die sie ihr Schicksal in die Hände nehmen lässt – und klug rückt Hesse die heimlichen Heldinnen dieses an starken Charakteren nicht armen Stücks in den Mittelpunkt, die doppelt Unterdrückten, die Frauen. Rede und Gegenrede kulminieren auf dem Rütli. Da ist keine Spur von romantischer Verschwörung am Seegestade: Der Pfarrer sorgt für Missstimmung; Hitzköpfe und Besonnene geraten aneinander; man verdächtigt sich gegenseitig, vor allem den eigenen Vorteil zu suchen. Nur langsam einigen sich die Eidgenossen auf die Eckpunkte ihres Plans. Und es ist, wie andernorts in dem Stück, die Macht der Natur, die für die letzte Konzentration und Zuspitzung sorgt: Im Angesicht der ersten Morgenröte verfestigen sich das Leiden und Ringen, die Bedenken und die Entschlossenheit der kleinen Schar in den knappen und atemberaubenden Schlussworten des Schwurs:

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Dies ist es, was mich bei Schiller so fasziniert: dieser irreale, gleichsam naive Glaube an jenen günstigen Moment, in dem alles möglich ist, sowohl der Sieg der Freiheit gegen alle Hoffnung als auch die ultimative Versöhnung durch Vergebung. Im Tell unterstreicht er das Wissen um den Sieg der Freiheit mit so markigen Worten wie „Hohl ist der Boden unter den Tyrannen“. In der Bürgschaft lässt er den Gewaltherrscher – nur Augenblicke, nachdem er noch zum Justizmord entschlossen war – ohne weiteres und ganz selbstverständlich um die Freundschaft seiner Todfeinde werben. Und in der Ode an die Freude kann er in einer und derselben Strophe sowohl zum Freiheitskampf als auch zu allumspannender Versöhnung aufrufen:

Rettung von Tirannenketten
Großmut auch dem Bösewicht
Hoffnung auf den Sterbebetten
Gnade auf dem Hochgericht!

Für mich ist das eine wichtige Facette dessen, was wir Klassik nennen. Wir verwenden den Begriff ja im Rückblick auf eine Zeit und einen Ort, wo wie von Zauberhand alles zusammen kommt und sich mühelos zu fügen scheint. Ich würde zu gerne wissen, wie es sich anfühlt, in einer solchen Zeit, an einem solchen Ort zu leben und zu schaffen; aber wenigstens kenne ich das Resultat: Dieses Gefühl traumwandlerischer Sicherheit führt zur (literarischen) Aufhebung der Schranken, die den Alltag sonst definieren. Der grosse Gestus, der zu einer anderen Zeit Kitsch genannt würde und nicht nachvollziehbar wäre, ist hier echt und hat seinen natürlichen Platz. Volker Hesse spricht treffend von der „Mystik, Kraft und utopischen Energie der Sprache Schillers“.

Und so ist es höchst passend, wenn die Urnerinnen und Urner am Schluss, als der Vogt tot und die Burgen geschleift sind, als die Ketten der Tyrannei von ihnen abgefallen sind und auf ihren Gesichtern einem linden Frühlingsmorgen gleich die Freiheit aufleuchtet, zunächst zaghaft, dann von immer stärkerer Zuversicht erfüllt diese unsterblich-überschwängliche, eben klassische Melodie zu summen beginnen, Beethovens Ode an die Freude. Endlich frei, durch die eigene Hand, den eigenen Mut.

Der grosse Abwesende dabei ist – Willhelm Tell, der Namensgeber des Stückes. Bei Schiller ist er ein Waldschratt-artiger Eigenbrötler; er spricht wenig und fast nur in geflügelten Worten. Um eine gute Tat ist er nie verlegen, aber er sucht weder die Gemeinschaft der anderen noch die grosse Bühne. Vor der Pause sehen wir ihn ganze zwei-drei Mal; gerade genug, um seinen Ruf zu etablieren. Die eigentlichen Geschehnisse ziehen gleichsam an ihm vorbei; revolutionäre Pläne sind seine Sache nicht, auf dem Rütli fehlt er konsequenterweise, und zum Helden wird er wider Willen. Als es ums Feiern geht, ist er schon wieder weg, irgendwo den Gämsen nach.


Technisches: Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben hat leider übermässig Zeit beansprucht. Wir haben den Tell Ende September gesehen; inzwischen ist die Dernière schon längst vorbei. In ein paar Jahren können wir uns auf die nächste Ausgabe freuen!

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Dädalisches

Der Traum, die Welt aus der Sicht der Vögel zu betrachten, muss so alt sein wie die Menschheit. Im antiken Griechenland hat er im Mythos von Dädalus und Ikarus eine seiner schönsten Ausprägungen gefunden. So ist es denn sehr stimmig, wenn der Verlag Philipp von Zabern ein Buch mit Luftfotos griechischer archäologischer Stätten veröffentlicht. Zwar mag dies im Zeitalter von Google Maps und Google Earth nicht besonders spektakulär tönen. Aber die perfekt komponierten, scharfen und detailgenauen Bilder von Georg Gerster sind Googles (zugegebenermassen genialen) Orthofotos natürlich weit überlegen. Mit Sachverstand und grosser Erfahrung aufgenommen, ästhetisch und sehr didaktisch zugleich, zeigen und erläutern sie siebzig der wichtigsten archäologischen Stätten des griechischen Festlandes, von Philippi bis Monemvasia. Zu den Bildern treten die Texte von Johannes Nollé und Hertha Schwarz: In gebotener Kürze, aber ausführlich genug skizzieren sie die Geschichte und Geschichten der im Bild vorgestellten Orte und erklären die Ruinen. So erhält das Fotoalbum den Charakter eines Handbuchs, ja eines Nachschlagewerks. Allerdings: Jedes Mal, wenn sie sich mit Anspielungen auf die Gegenwart auf humoristisches Terrain wagen, rutschen die Autoren unglücklich aus. So erfahren wir zum Palast von Pella (p. 17) atemberaubenderweise: „In ihm räkelte sich, wie wir aus dem neuen monumentalen Alexanderfilm wissen, Angelina Joly (sic!) alias Olympias, mit ihren Pythonschlangen.“ Die Besprechung der Orakelpraxis in Dodona (p. 43) gibt Anlass zu einem Seitenhieb auf eine „kämpferische Justizministerin“, welche nichtdeutsche Leser weder nachvollziehen noch lustig finden können. Und der Tiefschlag gegen die „unfehlbaren Intellektuellen unserer Tage“ (p. 71) ist nicht nur deplaziert, sondern schlichtweg diffamierend. Wer von solchen Fehlversuchen sowie einigen Unsauberkeiten im Lektorat abstrahieren kann, liest diese historische Geografie Griechenlands allerdings mit grossem Gewinn. Die Auswahl der vorgestellten Orte ist umfassend und repräsentativ (wenngleich sich an der Gewichtung da und dort etwas rummäkeln liesse); besonders instruktiv fand ich die Einleitungen zu den Regionen.

Wenn man diesem schönen Buch einen Vorwurf machen kann, dann den, dass es sein Potential nicht wirklich ausschöpft. Der Artikel über das Heraion von Argos (p. 140 f., allerdings mit falscher Angabe der Himmelsrichtungen) zeigt auf, welchen Verständnisgewinn eine sinnvolle Bildauswahl (Übersicht und Detail) mit präzise darauf abgestimmtem Text bringen könnte. Solche instruktiven Querbezüge sind leider selten; allzu oft stehen Bilder und Text ohne grossen Zusammenhang nebeneinander; Pläne oder andere erläuternde Informationen fehlen gänzlich. So sind es eigentlich zwei Bücher in einem, ein Augenschmaus von Bilderbuch und eine historische Geografie Griechenlands, und der Gewinn, der in ihrer Vereinigung hätte liegen können, wurde nicht realisiert.

Was tun? In den Bildern zu versinken und mit Dädalus über Griechenland zu schweben ist bereits ein Vergnügen für sich. Wer mehr will, greift mit Vorteil zu zusätzlicher Literatur, beispielsweise zu Reclams grossartigem Führer zu den antiken Stätten – oder geht surfen. Denn das Potential von Webressourcen für antikes Sightseeing ist gewaltig. Alles ist da: Google Maps gibt den geografischen Kontext der Stätten, Sites wie Metis oder die Wikipedia haben oft gute Pläne, Flickr liefert häufig hervorragende Fotos. Wie ein archäologischer Führer aussehen könnte, der auf diesen Schatztruhen beruht, versuche ich seit ein paar Wochen auf meinem zweiten Blog Periegetes zu zeigen. Vielleicht bleibt es beim Versuch, aber das wäre nicht schlimm; entscheidend ist, dass das Web den archäologischen Entdeckungsgeist nicht nur stimuliert, sondern auch nähren kann.


TECHNISCHES: Johannes Nollé und Hertha Schwarz: Mit den Augen der Götter. Flugbilder des antiken und byzantinischen Griechenlands; das Festland. Mit Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Philipp von Zabern 2005. ISBN 978-3-8053-3379-5

Samstag, 4. Oktober 2008

Il était une fois

Noch ein Festival im festivalreichen Fribourg: Das Festival International du Conte de Fribourg, offenbar zusammen mit dem Storytellermuseum alias Swiss Institute of Intangible Heritage hier angekommen, erlebte soeben seine zweite Auflage, und dieses Mal haben auch wirs geschafft. Ich gestehe, dass ich ziemlich gespannt war: Das Geschichtenerzählen als Kunstform war mir nicht vertraut, auch hatte mir seit Jahren niemand mehr eine Geschichte erzählt, schon gar nicht im Theater. Wie also soll das gehen? Die Antwort ist simpel: Mit einer eindrücklichen, unmittelbar packenden Bühnenpräsenz, einer schönen, reichen Stimme und – natürlich – einer guten Geschichte. Catherine Gaillard erzählte von Amazonen, zwei zunächst offensichtlich unzusammenhängende Geschichten, die sich nach und nach mit mehr und mehr Parallelen immer stärker miteinander verbanden. Zur Geschichte vom Krieg der Athener unter Perimos gegen das Reich der Amazonen von Königin Antinea trat die Geschichte von Sara und Ariane im heutigen Genf. Geschichten von Liebe und Leid, vom Zweifeln und Entscheiden, vom Verlieren, Loslassen und Gewinnen. Mit nichts als sich selbst und ihrer Stimme liess Catherine Gaillard aus dem Nichts der leeren Bühne vergangene und gegenwärtige Welten entstehen, baute Städte, schuf Personen und liess sie aufeinander treffen. Und mit einem halben Auge schauten wir von Zeit zu Zeit auf die Simultanübersetzerin in Gebärdensprache, die diese parallelen Geschichten in einer anderen, ebenso magischen und ausdruckstarken Sprache noch einmal parallel erzählte.


Der Vollständigkeit halber noch ein paar Worte zum Ort des Geschehens. Ich war nämlich diesen Abend auch zum ersten Mal in Nuithonie, dem schon in die dritte Saison startenden Tanz- und Theaterzentrum an der Peripherie Fribourgs. Eigenwillige und mutige Kulturpolitik dieser gesegneten Stadt: Mitten im Zentrum an bester Lage wächst zur Zeit ein Theater für Gastspielproduktionen in die Höhe, und nicht etwa in einem Altbau im Industriequartier wie sonst so üblich, sondern im Mummenschanztheater der expo.02 mit Anhang am Rande von Cormanon, dem Neubauquartier für die Besserverdienenden, sind eben die beiden Säle von Nuithonie beheimatet. Ich muss mich sehr an der Nase nehmen dafür, dass ich das vielfältige Programm dieses neuen Kulturortes zwar bisher immer aufmerksam und interessiert studiert, aber nie selber ausprobiert habe, und gelobe Besserung. Wenn es denn noch eines Arguments bedurft hätte, hat es die Bar mit ihrer Preispolitik geliefert: 12 Franken für einen Ouzo (von der noch nicht ganz fertig geschulten Bedienung allerdings im Cognacglas ohne Eis serviert), ein Panaché und ein Schweppes – dafür gäbs im Schiffbau wohl grad mal ein Mineralwasser...


TECHNISCHES: Das 2. Internationale Geschichtenfestival ist vorbei; das dritte findet bereits im nächsten Frühling statt.

Sonntag, 21. September 2008

Novecento

Es sei ein Text irgendwo in der Schwebe zwischen einer tatsächlichen Inszenierung und einer Erzählung, die laut gelesen werden sollte, schreibt Alessandro Baricco über sein Stück „Novecento. Un monologo“. Wenn man das schmale Bändchen in den Zug mitnimmt, muss man sich beim lauten Lesen etwas zurückhalten – aber das schadet nicht unbedingt. Das Essenzielle spielt sich ohnehin im Kopf ab. Welche Inszenierung wäre denn in der Lage, in den kurzen Ragtime-Einspielungen die Faszination des besten Pianisten der Welt zu vermitteln, Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento? Und welches Theater könnte die leicht schwankenden Planken des Ozeandampfers Virginian spürbar machen? Die Virginian ist Novecentos Welt, und das ist keine Floskel: Auf diesem Schiff wurde er geboren, in der dritten Klasse, auf der Auswanderer-Überfahrt nach Amerika; dort wurde er in einer Zitronenkiste liegen gelassen und vom Matrosen Boodmann gefunden; und seiner Lebtag hat er das Schiff nie verlassen. Kein Bedürfnis: Wenn er reisen wollte, reiste er im Kopf. So wie ihm die Begrenzung des Klaviers auf 88 Tasten das Spiel überhaupt ermöglichte, war ihm die Begrenzung seiner Welt Vereinfachung. Novecentos Leben spielte sich ab im Rhythmus der Ozeanpassagen, der drei bis vier täglichen Auftritte mit der Band der Virginian, im Ballsaal der ersten Klasse, in der zweiten und von Zeit zu Zeit auch in den stickigen Quartieren der dritten.

Die LiteraturkritikerInnen gruppieren sich offensichtlich an den Extremen der Bewertungsskala. Während die einen sich beim Lesen „göttlich“ fühlten und in Novecento „eine der grossen europäischen Geschichten“ erkannten, hielten andere den Monolog für weltloses Prosa-Gespinst” oder „eben doch Kitsch“. Ich gestehe, dass ich das Buch bei Feltrinelli in Florenz in erster Linie deshalb gekauft habe, weil es mit seinem Umfang und seiner Sprache in meiner Reichweite bezüglich italienischer Literatur lag. Und ich füge gerne dazu, dass mir diese leidenschaftslose Lektüreauswahl ein grosses Lesevergnügen beschert hat. Die genialischen Begabungen, die Gewalt der Musik, die Begrenzungen und die Grenzenlosigkeit, die Welt der Ozeanriesen, das kennen wir alles schon, klar; die Fabel ist nicht wirklich überraschend. Aber dies ist kein Roman, kein austariertes Philosophiegebäude. Es ist ein Monolog, eine simple, fast spielerische Erzählung. Es ist die fantastische Geschichte von Novecento, und sie lebt von einzelnen Bildern – wie von dieser wunderbaren Szene: Als der Erzähler, Trompeter der Band, auf seiner ersten Traverse im rauen Seegang durch den Flur torkelt, liest ihn Novecento zusammen, führt ihn in den Ballsaal, lässt ihn die Bremsen des Flügels lösen, setzt ihn auf die Klavierbank, lässt den Flügel mit den Wellen tanzen und tanzt selber spielend mit durch den Saal.


Zwei Fussnoten: Das mit der Inszenierung scheint nicht unmöglich zu sein: 1998 wurde die Geschichte unter dem Titel La leggenda del pianista sull'oceano verfilmt, die Musik von (immerhin) Ennio Morricone erhielt begeisterte Kritiken.

Und die deutsche Übersetzung von Novecento war verwickelt in einen skurrilen Rechtsstreit: Nach dem unerwarteten Erfolg von Seta verlangte die Baricco-Übersetzerin Karin Krieger vom Piper-Verlag eine angemessene Erfolgsbeteiligung. Als Reaktion darauf wählte der Verlag für die zweite Auflage von Novecento eine andere Übersetzung und nahm Kriegers Version vom Markt. Erst vor Oberlandesgericht konnte die Übersetzerin durchsetzen, dass ihr Werk weiterhin zu erscheinen hatte und angemessen bezahlt wurde. Interessanter Nebeneffekt ist die seltene Situation, dass somit von einem zeitgenössischen Werk mehrere deutsche Übersetzungen verfügbar sind.


TECHNISCHES: Alessandro Baricco, Novecento. Un monologo. Universale Economica Feltrinelli 1994. ISBN 978-88-07-81302-3. Die deutsche Version ist zur Zeit unter dem Titel „Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten“ bei dtv erhältlich, ISBN 978-3423134576.

Samstag, 20. September 2008

Gruss aus Rimini

Eine neue CD von Patent Ochsner ist immer wie Weihnachten und Ostern zusammen. Zwei-drei Jahre lang hat Büne Huber wieder Sprachbilder gesammelt, Metaphern gehäuft, Melodien gefunden und erfunden; dann haben Ochsners all das zusammengesetzt, hier etwas Posaune eingefügt, da etwas Chorgesang, ab und zu einen kleinen Witz; Huber wieder hat eine Verpackung designt, ein Kunstwerk von eigenem Rang; und schliesslich ist das Resultat im Laden erhältlich: The Rimini Flashdown. Gekauft, geöffnet, in den Player geschoben, und da ist er, der Ochnser-Sound. Besprechungen von Ochsner-CDs heben normalerweise hervor, dass die Band gleich tönt wie immer. Stimmt. Eben deshalb kaufe ich jedes neue Album, sobald es in die Regale kommt. Weil ich genau diesen Sound liebe und sonst nirgends kriege. Weil es ein Glück ist, statt bisher hundert Lieder dieser Art plötzlich hundertzwanzig zu haben. Weil sich Patent Ochsner für mich nicht neu zu erfinden brauchen: Sie haben sich bereits erfunden, weitere Ansprüche habe ich nicht. Und dass der Untertitel „Part One“ heisst, dass mithin eine Trilogie geplant ist, lässt mich hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

The Rimini Flashdown gehört zu den besseren Ochsner-Scheiben. An die musikalische und inhaltliche Geschlossenheit und Stimmigkeit von Gmües (1994 – für mich weiterhin ihr Meisterwerk) kommt sie nicht ganz heran, aber die Perlendichte ist hoch: das fetzige „Chäuer“, das melancholische „Blue September“, das gemächlich schaukelnde „Rimini“ und natürlich das grossartige „Globetrotter“. Dieses Lied nistet sich schon nach Sekunden im Innenohr ein und schiesst dann via das Stammhirn in sämtliche Glieder. „d wäut isch es wunger / bi drüber & drunger / sie ... verschlat eim d schprach“, singt Büne Huber. Und das kurze Atemholen, dieser halbe Moment Pause vor der dritten Zeile, lässt mein Herz höher schlagen und mich zugleich sprach- und atemlos zurück.


TECHNISCHES: Patent Ochsner, The Rimini Flashdown. Universal Music 2008.

Freitag, 12. September 2008

Tais-toi!

Zunächst, als Vorgeschichte, ein paar Worte zum Zeitungswesen in Griechenland: Dort werden Tageszeitungen kaum (wie bei uns) im Abonnement, sondern vor allem am Kiosk verkauft. Entsprechend kreativ sind die Verlage, wenn es darum geht, die potentiellen Käufer mit Gadgets und Aktionen aller Art zum Kauf eines ihrer Produkte zu bewegen. Der Gipfel dieser Propaganda wird am Sonntag erreicht: Der Käufer einer Sonntagszeitung trägt in der Regel einen kiloschweren, in Plastikfolie eingeschweissten Stapel nach Hause, aus dem er neben der Zeitung als solcher allerlei gesonderte Faszikel zu Wirtschaft (in Financial-Times-Rosa, bitte sehr), Kultur und Wissenschaft, das Fernsehprogramm, ein farbiges Magazin auf Hochglanzpapier, gelegentlich ein Buch oder eine CD und jedes Mal eine oder mehrere Filme entnimmt. Und weil ich letztes Mal in Athen nach der Ankunft am Sonntag unbedingt das (absolut zu Recht) preisgekrönte Zeitungsdesign des Eleutheros Tipos begutachten wollte, trug ich auch drei DVDs nach Hause: Ein paar Episoden der griechischen Satiresendung Al-Tsandiri News, ein italienisches Familiendrama mit Monica Bellucci und eine französische Komödie. Als wir uns dann neulich eines Abends gerne vor dem Bildschirm etwas intelligent zerstreuen wollten, das Kabel aber nichts entsprechendes lieferte, besann ich mich dieses Geschenks; wir wählten französisch und kamen in den unerwarteten Genuss von Tais-toi.

Quentin, Einfaltspinsel, Nervensäge und Kleinkrimineller, und Ruby, schweigsamer Profi mit Rachedurst im Herzen und 200 Millionen im Versteck, begegnen sich in einer Knastzelle, und weil Ruby nicht wie alle anderen Quentins Logorrhoe nach zehn Minuten mit Fäusten beantwortet, erklärt ihn dieser umgehend zu seinem Freund. Der Rest – Verlegung in die Psychiatrie, Ausbruch, Katz-und-Maus-Spiel mit dem skrupellosen, arschgesichtigen Vorbesitzer der 200 Millionen, und alles in dieser infernalen Zweierbesetzung – ist eine durchaus konventionelle Krimikomödie. Aber die Gags kommen trocken und ohne Federlesens, die Wendungen und Zufälle der Story bleiben bei allem Irrsinn immer logisch und stringent, ja genial; Gérard Depardieu ist als minderbemittelter, herzensguter Gauner urkomisch und berührend zugleich, und mit Jean Reno hat er einen idealen hassliebenden Partner (« T’iras au paradis avant les autres, car plus simple d’esprit je connais pas ! »). Wir haben herzlich gelacht: Tais-toi war pures, kurzweiliges, unbeschwertes Amüsement.

Sonntag, 7. September 2008

Bei Grandson das Gut

Karl der Kühne ist, so lernten wir schon in der Schule, eine Schlüsselfigur der ausgehenden Mittelalters. Der militärische Sieg der Eidgenossen über das renommierte burgundische Heer war ein Ereignis von mythenbildender Kraft, und ebenso mythisch waren die Reichtümer, die den Eidgenossen bei Grandson mehr in die Hände fielen als tatsächlich erobert wurden. Dies gilt besonders für den Stand Bern, der in den Auseinandersetzungen mit Burgund eine führende Rolle gespielt hatte, der beim Zank um die Beute die geschicktesten Entscheidungen traf und der aus diesem Ereignis Renommee und Legitimation bezog. Und immer noch bezieht, ist man versucht anzumerken, wenn man die Ausstellung „Karl der Kühne“ im Bernischen Historischen Museum gesehen hat – eine Schau der Superlative, ein multimedialer Ausstellungsevent, eine jener Grossproduktionen, die im internationalen Ausstellungbusiness zurzeit den Standard darzustellen scheinen. Denn zuallererst ist diese Ausstellung eine Schatzkammer mit dem Berner Anteil der Burgunderbeute im Mittelpunkt. Die in jeder Hinsicht monumentalen Tapisserien werden natürlich gezeigt, daneben weitere Meisterwerke der burgundischen Hofkultur, wobei die tatsächlich beeindruckenden Berner Bestände klug ergänzt sind um gewichtige Leihgaben aus ganz Europa. Besonders Wert gelegt wird auf die gegenseitige Durchdringung von Malerei, Bildhauerei, Teppichweberei und Grafik, auf die in Burgund vereinigten Kunstuniversen von Flandern und Italien.

Geblendet von der schieren Pracht und Menge der Schätze, entdeckt man jedoch weitere, weniger offensiv vermittelbare Aspekte. Zu nennen sind hier zunächst die instruktiven Ausführungen zur Hofhaltung und zur modernen Verwaltungsbürokratie, für die Karl der Kühne wesentliche Geburtshilfe geleistet hat. Riesig ist die Zahl der Höflinge und unterhaltsam ist die Aufzählung ihrer Titel: Über tausend Leute standen auf der säuberlichen Lohnliste des burgundischen Hofes.

Zu besonderer Hochform läuft die Ausstellung da auf, wo sie den Prunk der Objekte zur Vergegenständlichung der politischen und psychologischen Bildersprache verwendet. Dargestellt ist dies in der grossen Eingangshalle der Ausstellung am Beispiel des Trierer Fürstentages von 1473, dem diplomatischen Treffen, welches Karl die Königskrone und seiner Tochter Maria den habsburgischen Thronerben Maximilian hätte verschaffen sollen. In Trier kamen dazu die mobilen Höfe des römischen Kaisers und des burgundischen Königs sowie mehrere Kurfürsten zusammen. Das diplomatische Protokoll jener Zeit regelte die Details eines solchen Rituals; jegliche Verstösse dagegen wurden aufmerksam registriert, positiv oder negativ interpretiert, und beeinflussten das weitere Vorgehen. So scheint sich Karl mit seiner massiven Prunkdemonstration keinen Dienst erwiesen zu haben; letztlich scheiterten seine Ambitionen auf den Königsthron, wenn er auch seine Tochter tatsächlich mit Maximilian verheiraten konnte. (Einige berührende Briefe aus der privaten Korrespondenz des Paares sind ebenfalls ausgestellt.)

Im letzten Teil der Ausstellung liegt der Fokus dann auf den Kriegen. Das ist weniger traditionelle Schlachtengeschichtsschreibung als vielmehr Erinnerung daran, dass während des Grossteils der menschlichen Geschichte Kriege und Schlachten eine dauernde Realität waren und dass die überschüssigen Hormone des männlichen Jungvolks ohne Umstände in Freischarenzüge und andere Scharmützel und Brutalitäten münden konnten. Erinnerung daran auch, dass ein Herrscher gewaltigen Prunk als mobile Palastausstattung mit sich führte, damit er zu jedem Zeitpunkt seine Herrschaft demonstrieren konnte. Und damit schliesst sich der Kreis zu jener mythischen Kriegsbeute, die nicht nur die Eidgenossen des 15. Jahrhunderts, sondern auch uns heutige noch blendet.


TECHNISCHES: Die Ausstellung ist in Bern bereits wieder vorbei. Sie lässt sich jedoch vom 27.3. bis am 21.7.2007 im Groeningemuseum in Brügge bewundern; danach reist sie weiter ins Kunsthistorische Museum Wien. Der reichhaltige Katalog ist im Verlag Neue Zürcher Zeitung erschienen.

Sonntag, 24. August 2008

Windelwechsel

„Wer Kinder kriegt, ohne vorher dieses Buch gelesen zu haben, ist selber schuld!“ Das steht auf dem Umschlag von „Schief gewickelt“, dem Paparoman von Matthias Sachau. Und ehrlich gesagt: Wer dieses Buch gelesen hat und immer noch Kinder will, muss gute Nerven haben. Denn was Markus Heisenkamp, dem Papa, Hausmann und Held des Buches von der ersten Seite an widerfährt, ist nichts für schwache Gemüter. Sein Sohn Daniel ist ein wahres Prachtsexemplar von Kind: Alles was er sagt oder tut, ist gnadenlos süss, aber das meiste kommt im genau falschesten Moment – und wird dickköpfig und eigensinnig durchgesetzt. Markus Heisenkamp schlägt sich mit der optimistischen Resignation desjenigen, der weiss, dass er keine Wahl hat. Seine Freundin macht Karriere, er macht den Superpapa, und Übung macht den Meister. Aber neben der Sorge um das grenzenlos kreative Kind muss dieser sich auch noch um die subtilen diplomatischen Beziehungen zu den Superpapakollegen kümmern, deren Kinder natürlich schon mit zwei Wochen durchschliefen und auch sonst mit dem Adjektiv „genial“ nur unzulässig beschrieben sind. Wer mit solchen Kollegen ein (natürlich total ironisches) Bobby-Car-Rennen fahren muss und gleichzeitig seine eigenen zaghaften beruflichen Pläne im Kakao des Kleinen ertränkt sieht, der braucht schon Scarlett Johansson, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Aber nur Mut: Zum Schluss werden die ganzen offenen Fäden liebevoll zu einem richtig schönen Happy End verknüpft – inkl. zweites Kind.

Zusammengefasst: „Schief gewickelt“ war eine fröhliche Ferienlektüre, und zum Glück ist das alles ja gnadenlos übertrieben und hemmungslos ironisch zugespitzt. Oder?


Technisches: Matthias Sachau, Schief gewickelt. Ein Paparoman. Ullstein 2007. ISBN 978-3-550-08696-0.

Freitag, 15. August 2008

Le scaphandre et le papillon

Dass auf diesem Blog seit über einem Monat gähnende Leere herrscht, liegt natürlich in erster und zweiter Linie an den Ferien – ich war drei Wochen fern von Computern und vor- und nachher nur selten in Sichtweite von Kinos und Theatern. Doch es liegt in dritter Linie auch an meiner Schreibdisziplin: am Willen, auch aus einem wenig ergiebigen oder störrischen Thema einen Blogpost zu machen, am konzentrierten Dransitzen, am Bündeln der Aufmerksamkeit auf die knappe Zeit. Genau dazu passt nun der Bericht von einem Film, der mich zugleich gerührt und bedrückt, traurig und gelassen gemacht hat: Schmetterling und Taucherglocke.

Als die Kamera aufblendet, sehen wir durch ein Auge hindurch, verschwommen und flackernd, offenbar sehr angestrengt, und hören die Gedanken aus dem Kopf dahinter. Der Kopf weiss nicht, woran er ist, er sieht weisse Kittel rundherum, Ärzte, Pflegerinnen; sie sprechen auf ihn ein, erfreut, endlich eine Reaktion zu sehen, zugleich leicht verlegen und bedrückt durch die schlechte Nachricht, die allen auf der Zunge liegt, aber niemandem über die Lippen kommt. Der Chefarzt fasst sich ein Herz; er erklärt geradeheraus, was der Person in dem Kopf zugestossen ist: Schlaganfall, fast tödlicher Verlauf, zwei Wochen im Koma, früher wäre sie wohl gestorben, jetzt hat sie überlebt, höchst seltenes Syndrom: Locked-In. Die Person ist in ihrem Kopf, in ihrem Körper gefangen; keine Nachricht kann aus dieser Taucherglocke mehr hinaus, kein Wort kann der aktive, ironische, spöttische Geist mehr hörbar formulieren, einziger Kanal zur Aussenwelt ist sein Augenlid, welches er bitte bewegen möge: Wunderbar, das funktioniert noch. Eine ganze Equipe von Ärzten, Therapeutinnen, Pflegern wird sich um ihn kümmern, wird daran arbeiten, weitere Löcher in die Taucherglocke zu bohren. Doch dann wird er durch den Flur gestossen, und wir sehen durch das Auge im Spiegel eine Gestalt im Rollstuhl, wie hineingeschmissen, der Blick starr, der Mund verzerrt, Speichel rinnt aus dem Mundwinkel: Jean-Dominique Bauby, einst Schönling, Dandy, Lebemann, Chefredaktor von Elle, jetzt un légume (wie das auf Französisch anschaulich-brutal heisst).

Zehn Minuten Film waren dies bis hierhin, und es gab alle paar Sekunden einen neuen Grund zum Verzweifeln. Und als die Logopädin Bauby die Methode vorstellt, mit der er mehr als nur binär kommunizieren lernen soll, verzweifelt er gleich nochmals: Sie liest ihm die Buchstaben in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit im Französischen vor, und beim richtigen zwinkert er. ESARINTULOMDPCFBVHGJQZYXKW . Und wieder von vorne, für den zweiten Buchstaben. Zwei Minuten für ein kurzes Wort. Und weiter, ESARINT.... Die Langsamkeit ist kaum auszuhalten. Aber man kann dieses spezielle Alphabet als Kinozuschauer schon bald auswendig mitsprechen. Und Bauby gewinnt erst recht an Übung, natürlich. Und er hat eine verrückte, eine grosse Idee: Kurz vor seinem Schlaganfall hat er einen Vertrag für ein Buch unterzeichnet. Dieses Buch will er jetzt schreiben, mittels seines Alphabets diktieren. Er will aus seiner Taucherglocke hinaus eine Nachricht senden, ein einmaliges Zeugnis aus dem Inneren eines Locked-In-Syndroms. Der Rest ist Geschichte, erstaunliche, ergreifende, bewegende Geschichte. Zwei Monate lang diktiert Bauby sein Buch der Journalistin Claude Mendibil. Es erscheint im März 1997. Jean-Dominique Bauby erfährt noch, dass in der ersten Woche 150'000 Exemplare verkauft wurden, dann stirbt er an einer Lungenentzündung.

Der Film von Julian Schnabel mit einem beeindruckenden Mathieu Amalric in der Titelrolle lässt die Zuschauer die ganze Brutalität der Taucherglocke mitfühlen, in der Jean-Dominique Bauby gefangen war. Aber er verschweigt zum Glück auch nicht, dass sich Bauby, Schmetterlingen gleich, mit dem einzigen Mittel bewegen konnte, das ihm blieb: mit seinem Geist. Er fliegt, in die Vergangenheit zurück, in die Arme der Kaiserin Eugénie, der Stifterin des Spitals. So flattern Momente bittersüsser Freude auf.

Es gibt wenig, was an diesem Film nicht beeindruckt. Besonders hängen bleibe ich – und so schliesst sich der Kreis – bei der Schreibdisziplin. Bauby musste sein Buch nicht nur ohne jegliche Notizen und Hilfsmittel entwerfen. Er musste auch jedes einzelne Kapitel im Kopf ausarbeiten, formulieren und auswendig lernen, um es danach jeweils in Tagesportionen seiner Ghostwriterin zu diktieren. Einzelne haben (nachvollziehbarerweise) die offizielle Version von Claude Mendibil und des Verlags angezweifelt, dass das Buch exakt so gedruckt wurde, wie Bauby es diktiert hatte. Ob und in welchem Umfang der Text lektoriert wurde, ändert jedoch nichts an der Leistung. Bauby hatte kaum Ablenkung, gewiss. Aber in den endlosen, hilflosen Stunden nicht zu verzweifeln, sondern sich am entstehenden Text gleichsam festzuhalten und aufzurichten, ist eindrückliches Zeugnis einer grossen Selbstdisziplin – und Beweis dafür, was diese vermag.


P.S.: Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der Film von Baubys Buch inspiriert, aber keine exakte Verfilmung seines Lebens ist. Unrecht getan wurde dabei offenbar vor allem seiner Freundin, die im Spital an seiner Seite stand, im Film aber die grosse Abwesende ist.


[UPDATE: Die offizielle Website des Films gibt es nicht mehr; der Link wurde entfernt.]

Samstag, 5. Juli 2008

Tanzende Nachlese

Die Theatersaison ist vorbei. Nachzutragen ist der Bericht zur Dernière von Bern:Ballett, einem Abend, zu dem Cathy Marston unter dem Namen Tanz4 drei ChoreografInnen eingeladen hat, mit ihr zusammen je ein Stück beizusteuern. Ich schreibe mit Verspätung, und all die spannenden Details, über die ich hätte berichten wollen, sind mir längst entschwunden. Geblieben ist der Gesamteindruck eines reichhaltigen Abends: reich an Tanzsprachen, reich an Fertigkeiten, reich aber auch an Einblick und Verständnis des tänzerischen Schaffensprozesses.

Man muss sich das so vorstellen: Teresa Rotemberg, Hofesh Schechter und Alexander Ekman kommen nach Bern, lernen die dortige Compagnie kennen und vermählen dann, unvoreingenommen, offen und sensibel, dieses "Rohmaterial", dieses Reservoir von Typen und Talenten, mit ihren eigenen Vorstellungen jeweils zu einem charakteristischen dreissigminütigen Ganzen. Das Ergebnis sehen wir auf der Bühne, und wir bewundern die Vielfalt der tänzerischen Formen, der Tanzdialekte, um es so zu sagen, das technische Können und die Athletik des Bern:Ballett. Zudem sehen wir vier Videos: Interviews mit den ChoreografInnen, in denen sie über Gott und die Welt und die gute Berner Luft reden, aber auch über ihre Arbeit mit der Truppe und die Ideen und Vorstellungen, die sie in Tanz giessen wollten und gegossen haben. Das ist teils amüsant und vor allem hilfreich, verhilft zu einer zusätzlichen Ebene hinter derjenigen, die sich vor unseren Augen abspielt. Das Ganze findet statt auf der grossen Bühne der Vidmarhallen, in diesem breiten, neutralen und dadurch anpassungsfähigen und ideal geeigneten Theaterraum. Die Zuschauerränge waren, erfreulich, praktisch vollbesetzt; ganz anders als noch zwei Wochen zuvor bei den "Gespenstern".

Da ist viel Leben drin, Neugier, Engagement, Kreativität, Unvoreingenommenheit. Cathy Marston tut Bern gut. Für die nächsten Saison sind wiederum drei Ballettabende geplant, literarische Interpretationen (The Tempest, Wuthering Heights) und freiere Stücke (siehe das Spielzeitheft [PDF, 4 MB]). Es gibt allen Grund, sich darauf zu freuen.


Und all denen, die jetzt doch noch ein bisschen inhaltlich was wissen möchten, empfehle ich die Lektüre der Besprechungen im Bund und bei tanznetz.de sowie die Interviews mit den ChoreografInnen des Abends auf tanzkritik.net.

Freitag, 4. Juli 2008

Gurkophon und Melanzaniklappe

Im Dämmerlicht treten elf Männer und Frauen auf die Bühne des Belluard-Festivals, schwarz gekleidet, stellen sich ruhig im Halbkreis auf, die Stimmung ist fast feierlich. Dann blendet das Licht auf - und plötzlich sieht man das Grünzeug, das sie in den Händen halten: Karotten, Stangensellerie, Rettiche, Bohnen, Petersilie, eine Wassermelone. Lacher im Publikum: Das Erste Wiener Gemüseorchester ist bereit zum Konzert.

Welche Töne kann man Gemüse entlocken? Unzählige. Einige sind nicht übermässig spektakulär: das Knacken von Stangensellerie, das Runterrieseln von weissen Bohnen, das Flappen der Melanzani-Klappe. Aber dann wirds schon grooviger: Das dumpfe Geräusch eines Faustschlages auf eine Wassermelone, von einem Mikrofon am geeigneten Ort platziert aufgenommen, wird zum pulsierenden Bass. Petersilienstiele, mit etwas Spucke befeuchtet und aufeinander gerieben, bringen das sanfte Säuseln von Geigen hervor. In einen ausgehöhlten Rettich wird Wasser gefüllt und mit gefühlvollem Blasen zum Blubbern gebracht. Und dann die veritablen Instrumente! Ausgebohrte Karotten sind ein besonders dankbares Ausgangsmaterial: Sie werden mit Löchern versehen zur Flöte (alternativ mit Peperoni als Schalltrichter), sie dienen als Klangstäbe für ein Xylophon oder als Mundstück für eine Rettichtrompete. Ähnlich vielseitig sind Gurken. Aber auch die Lauchgeige verdient Erwähnung und besonders die sehr solistische Art, wie ihr Interpret sie spielte.

Diese Klangvielfalt setzt das Gemüseorchester zu kurzen, von elektronischer Musik inspirierten Stücken zusammen. Rhythmus- und bassdominiert sind die meisten, einige hauptsächlich schrill, andere melodisch und erstaunlich komplex. Genaues Zuschauen und -hören sind angesagt, wenn man den optischen mit dem akustischen Eindruck abgleichen will; entsprechend sind die Aha-Effekte von Strahlen und Lachen begleitet. Die trockenen Anmoderationen sowie das Ausprobieren, Abstimmen und Reparieren der Instrumente (alte Karotte raus, neue rein) im laufenden Betrieb machen das Konzert vollends zur Performance.

Zum Schluss werden dem Publikum die Reste vom Rüsten in Form einer Gemüsesuppe serviert. Trotzdem sind wir nach dem Konzert leicht beklemmt: Geht das wirklich, mit Esswaren zu spielen, ja sie lustvoll und performativ zu zerstören wie die Tomaten in der Zugabe? Das ungute Gefühl nehme ich ernst, aber es zielt ins Leere. Das Gemüseorchester führt uns nur besonders drastisch und sinnlich vor Augen, dass Kultur per se ein Luxus ist - und damit in höchstem Masse verschwenderisch. Was bedeutet das denn beispielsweise, zu Festivalzwecken elf Leute samt technischem Personal für einen Abend von Wien nach Fribourg und wieder zurück zu transportieren? Da die aktuelle Biosprit-Diskussion den direkten Vergleich von Fahrdistanz und Nahrungsmenge erlaubt, rechnen wir: Um biogetrieben die 1400 Kilometer von Wien nach Fribourg und zurück zu fahren, braucht man fast eine Tonne Mais. Davon lebt ein Mensch mehr als ein Jahr lang. Dieser ganz alltägliche Ressourcenverschleiss ist, wenn man von Skandal reden will, der eigentliche Skandal; ein Skandal, der natürlich nicht nur dem Konzert des Gemüseorchesters innewohnt, sondern unserer Lebensweise, unserer Zivilisation ganz fundamental.

Samstag, 28. Juni 2008

Vom allmählichen Fallen in die Verzweiflung

Noch ein italienischer Film, diesmal jedoch im Kino um die Ecke hier in Fribourg: „Giorni e nuvole“. Der Film beginnt mit Szenen des Glücks. Elsa und Michele sind auch nach zwei Jahrzehnten Ehe noch ein starkes Paar, von tiefer Liebe und absolutem Vertrauen zusammengehalten. Sie wohnen in einer eleganten Altbauwohnung in Genua. Michele ist Firmenpartner und Direktor, Elsa hat sich soeben den Traum eines Kunstgeschichtsstudiums erfüllt, glanzvoll übrigens, und arbeitet daneben als Restauratorin, die zwanzigjährige Tochter Alice ist am Ausfliegen, nicht konfliktfrei, aber im gegenseitigen Respekt. Ein grosser, fröhlicher Freundeskreis überrascht die frischgebackene Dottoressa mit einer rauschenden Party. Dann der Schlag: Michele gesteht seiner Frau, dass er schon seit zwei Monaten arbeitslos ist, von den Geschäftspartnern aus der Firma gemobbt, nur die Schulden haben sie ihm überlassen. Zwanzigtausend Euro auf der Bank, das ist alles, was ihnen bleibt; weit reicht das nicht, jedenfalls nicht bei ihrem bisherigen Lebensstil.

Im Rest des Films schaut Regisseur Silvio Soldini dem Traumpaar unerbittlich und regungslos beim Fallen zu. Stück für Stück bricht sich die brutale neue Realität ihre Bahn, verpuffen eine nach der anderen sämtliche Hoffnungen, scheitern alle Versuche, den Niedergang zu stoppen, sich aufzufangen, wieder Fuss zu fassen. Elsa gelingt das ein bisschen besser; sie ist entschlossener, schickt sich schnell und wie selbstverständlich ins Unvermeidliche, kann den Fall gewissermassen bremsen und verliert immerhin nicht ihren Mut. Michele lässt sich mehr und mehr gehen. Zunächst ist er nur traurig, erschöpft, dann zusehends genervt, schliesslich versinkt er widerstandslos im eigenen Elend. Erst als die beiden wirklich ganz unten angelangt sind, als ihre Liebe schon fast in Trümmern zwischen ihnen liegt, klammern sie sich mit letzter Entschlossenheit nochmals und wieder aneinander fest. Vielleicht gibt es noch Hoffnungen; mindestens gibt es Ansätze dazu.

Schonungslos und ohne falschen Kitsch zeigt der Film den jähen Fall aus sämtlichen Sicherheiten des Lebens und den oft vergeblichen Kampf darum, diesen Fall zu bremsen, das Schicksal wieder in die Hand zu nehmen und das Unglück zu wenden. Das ist ernüchternd und auch ein bisschen mühsam. Der Film fühlte sich viel länger an als die zwei Stunden, die wir im Kino sassen. Damit hat er sein Ziel wohl erreicht, eine ungeschminkte Sozialstudie zu zeigen, nimmt aber gleichzeitig in Kauf, etwas langfädig und passagenweise langweilig zu wirken.

Bestnoten verdienen hingegen die Hauptdarsteller: Als Elsa brilliert Margherita Buy in ihrer Paraderolle als gutbürgerlich-elegante Mittvierzigerin, die emotional ins Schlingern gerät. Mit Glatze und Hundeblick gibt Antonio Albanese den Michele als herzensguten, liebenswerten Typen, der seine Güte und Liebenswürdigkeit im Angesicht der Tragödie nicht bewahren kann. Alle Nuancen der bröckelnden Beziehung, aber auch der zaghafte Versuch des Auf- und Wiederanfangens finden in der Kunst dieses Schauspielerpaares einen überzeugenden Ausdruck.


[UPDATE: Die offizielle Website des Films hat ihre Adresse gewechselt.]

Freitag, 20. Juni 2008

Lezioni di volo

Wenn auf diesem Blog im Mai etwas tote Hose war, dann liegt das daran, dass ich hauptsächlich an meinem Italienisch arbeitete; genauer: Ich besuchte in Florenz einen Sprachkurs im Centro Fiorenza (das ich hiermit herzlich weiterempfehle). Besonders spannend fand ich, dass das Centro stark auf Filme als didaktisches Material setzt. Einer längeren Geschichte mit den unterschiedlichsten Charakteren, Akzenten und Soziolekten zu folgen, assistiert entweder von italienischen Untertiteln oder erklärenden Unterbrüchen und Diskussionen, war für mich ein ausgezeichnetes Mittel, in die Sprache einzutauchen. Die paar hierzulande mehrheitlich unbekannten Filme, die ich gesehen habe, haben mir alle gefallen; einer aber stach heraus: Lezioni di volo von Francesca Archibugi.

Mögliche Etiketten für diesen Film gäbe es zuhauf: Coming-of-age-Film, Roadmovie, Liebesfilm, Generationendrama, Drittweltfilm, ... Da ihm keine davon gerecht wird, sag ichs lieber so: Lezioni di volo erzählt die Reise zweier Römer Jugendlicher nach Indien und hundert weitere Geschichten; vor allem aber erzählt er Personen. In seltener Weise lebt dieser Film von seinen Figuren, diesen markanten Gesichtern und starken Charakteren. Da ist Pollo (Andrea Miglio Risi), ein schöner junger Mann, auf jener Schwelle zum Erwachsenwerden, wo alles möglich und nichts gewiss ist; etwas naiv, mit dem Kopf in den Wolken, aber einem Jahrhunderte tiefen Blick. "Ich schaffe es nicht zu verstehen, ob du dumm bist oder hochintelligent", wird er zu hören bekommen. Und sein Freund Curry (Tom Angel Kharumaty), in Indien geboren und in Italien adoptiert, ähnlich unbeschwert und gedankenlos wie Pollo, zunächst betont cool und teilnahmslos, dann aber hineingesogen in das Interesse nach seinen Wurzeln. Nachdem ihre Hauptsorge bisher die Füllung des mittäglichen Panino gewesen war, erleben die beiden Träumer in Indien eine brutale Landung. Sie treffen auf das Leben. Und sie treffen auf Chiara (die wunderbare Giovanna Mezzogiorno), italienische Ärztin im humanitären Einsatz; ernst bis ins Innerste ihres Wesens, Realistin und Kämpferin, ihrem Beruf, ihrer Aufgabe eisern treu. Sie ist der Felsen, an dem die Unbekümmertheit der jungen Römer zerschellt, nicht jedoch ohne selber Risse zu verursachen. Chiaras Zuneigung zu Pollo und ihre Hassliebe zu Curry prägen die Geschichte, lösen die Katharsis aus. Alle drei sehen sich radikal in Frage gestellt, und was der Filmtitel verspricht, löst er ein: In diesen Tagen der indischen Wüste lernen alle drei fliegen.

Ich habe bisher nur von den Hauptdarstellern gesprochen. Die Besetzung ist aber eine Wucht bis in alle Nebenrollen hinein. Jede Figur hinterlässt auf Anhieb einen prägenden Eindruck; alle sind sie Persönlichkeiten, die ihre eigene Geschichte zu dieser Sammlung von Geschichten beitragen. Die wenigsten davon werden wirklich erzählt, die meisten nur angetippt, dann in der Schwebe gelassen: die Affäre von Currys Vater; die Chemie und Komplizenschaft im Feldspital in Kerala; Pollos schwierige Beziehung zu seinem sterbenden Vater; Currys indische Familie... Dieser grosszügige Überschwall an Gesichtern und Geschichten formt den Film und stellt im Grunde eine Frage: Ist das Leben, das ich lebe, das Leben, das ich leben will; ist es mein Leben, oder müsste mein Leben vielleicht anders aussehen? Mit sicherer Hand zeigt Francesca Archibugi ein paar Ansätze zu möglichen Antworten und ist zugleich klug genug, die Frage, die Fragen für sich selber sprechen zu lassen.


Technisches: Ich kann mich nicht erinnern, ob der Film seinerzeit auch in unseren Kinos lief; auf DVD sollte er jedoch zu finden sein, und einen Vorgeschmack gibt auch der Trailer auf Youtube.

Donnerstag, 12. Juni 2008

Gespenster

Cathy Marston mag Geschichten. In ihrem ersten Berner Ballettabend erzählte sie - zur Musik von Strawinskys Feuervogel - das unglaubliche Leben von Rasputin. Jetzt doppelt sie nach mit einer tänzerischen Umsetzung von Ibsens „Gespenstern“, die sie 2005 für das Royal Opera House in London erarbeitet hatte. Ibsens Stück ist die allmähliche und immer schrecklicher werdende Enthüllung der Verstrickungen in der Familie von Helena Alving. Die Gespenster der Vergangenheit verfolgen die unglückliche Witwe: die Erinnerung an ihren lieblosen, brutalen Schürzenjäger von Ehemann und an die nie realisierte Möglichkeit einer Flucht mit dem Pastor, der und den sie liebt; ihr Sohn Osvald, den sie als kleinen Knaben in die Fremde gegeben hat, um ihn dem häuslichen Elend zu entziehen, und ihre Bedienstete Regina, uneheliche Tochter des treulosen Gatten mit dem Dienstmädchen, jetzt gefangen im Loyalitätskonflikt mit dem Stiefvater, dem Tischler Engstrand, und fasziniert vom zurückgekehrten Osvald. Die Katastrophe ist, natürlich, unausweichlich. Um die vertrackte, verflochtene Geschichte überhaupt tanzbar zu machen, folgt Cathy Marston der chronologischen Zusammenfassung von George Bernard Shaw, beginnt also mit dem Kapitän und dem Dienstmädchen, lässt dafür den Tischler weg und fokussiert auf Helena Alving. Sie dekliniert die Handlung als eine Folge von in sich geschlossenen, präzise charakterisierten Paarbeziehungen, beginnend mit der Ehe der Alvings: Weniger ein pas de deux als eine bataille de deux, in der gestossen und gezogen, gepackt und gezwungen wird. Von Liebe ist hier nichts mehr zu sehen, dafür Kleinkrieg und Bitterkeit. Welches Versprechen von Freiheit durchweht hingegen den Tanz von Helena mit Pastor Manders: Weite, ausgreifende Bewegungen erobern sich grosszügige Freiräume, zwei Individuen erträumen sich eine gemeinsame Zukunft - nicht im Gleichschritt, aber in vergleichbarem Schwung. In hastiger Opferbereitschaft macht sich jedoch der Pastor aus dem Staub; er will die Ehe nicht brechen und bricht stattdessen seine Geliebte, die fortan nur noch als Geist, als Erinnerung an glücklichere Tage weiterlebt. Zerdrückt und schmierig macht sich der Kapitän an das Dienstmädchen heran; schlangengleich von unten schmiegt er sich um sie herum, am und unter dem Tisch spielt sich ihre Geschichte ab. Ein neckisches Intermezzo ist das gemeinsame Teigkneten und Mehlstäuben von Regine und ihrer Mutter. Von vollendeter Innigkeit ist schliesslich die Anziehung zwischen Osvald und Regine gezeichnet. Ihre Bewegungen gehen nahtlos und sicher ineinander über, sind wie diejenigen eines einzigen Leibes; die beiden, oder besser ihre Körper, verstehen sich blind. Ihr Tanz ist ein Genuss. Aber was nicht sein darf, kann nicht sein.

In einem sparsam, aber klug beleuchteten Raum, der durch einzelne Türen und Tische sowie durch einen Videoschirm als Decke knapp umrissen ist, haben die Figuren viel Platz für ihre Kommunikation, die dennoch immer im Setting der Geschichte verankert bleibt. Die Musik wurde komponiert von Dave Maric, der elektronische Sounds mit einem Kammerorchester (Violine, Cello, Bassklarinette, Harfe, Marimbafon) kombiniert. Hier mache ich den einzigen Abstrich des Abends: Mich liess die Musik weitgehend kalt, zu dissonant und unzusammenhängend waren die Töne. Als ganzes war das jedoch der eindrücklichste Ballettabend, den ich in den letzten Jahren am Stadttheater Bern gesehen habe.


Technisches: Leider sind alle Aufführungen schon vorbei. Ein optischer und akustischer Eindruck vom Stück lässt sich immerhin auf Cathy Marstons Website gewinnen.
Ähnlich begeistert wie ich waren Lilo Weber in der NZZ und Kristina Soldati auf tanzkritik.net, leicht enttäuscht Marlies Strech auf tanznetz.de und (etwas oberflächlich) Marianne Mühlemann im Bund. Bei letzteren beiden verraten die Kommentare, dass es sich über das Bern:Ballett ziemlich agitiert streiten lässt. Zu hoffen bleibt, dass die von einigen Kommentierenden angedeuteten dunklen Wolken über dem Bern:Ballett von dieser und ähnlich luziden und hochstehenden Produktionen zerstreut werden.

Montag, 9. Juni 2008

Lenz

Ein Blick auf die Spielpläne von Theatern in der Schweiz (offenbar besonders in Bern) und auch anderswo zeigt: Dramatisierungen von Prosatexten sind in Mode. Der Trend ist nicht neu, scheint aber stabil zu sein. Nun gibt es literarische Texte, die sich besonders für die Bühne eignen: dialogische, handlungsreiche Texte, eigentlich verkappte Dramen, die nur darauf gewartet haben, dass jemand sie aus dem Korsett des Romans befreit und ihre Bühnenqualitäten entfaltet. Und es gibt Texte, die auf den ersten Blick auf einer Bühne nichts verloren haben. Einen solchen Text hat sich das Stadttheater Bern vorgenommen: Büchners Lenz. Die kurze Erzählung Georg Büchners über den Sturm-und-Drang-Dichter Lenz, genauer über dessen allmähliches Versinken im Wahnsinn, lebt von den ausführlichen Beschreibungen von Lenz’ Handeln, die Büchner (auch in dieser Hinsicht genial) in mächtige Parallelen setzt zur Aussenwelt, zur Landschaft und zum Wetter. Ein gewaltiger Drive im Text lässt den steigenden Wahnsinn erfahrbar werden. Aber da ist wenig Dialog, wenig bühnenwirksame Handlung. Wie also diesen Text spielbar machen?

Philipp Becker stellt zwei Männer auf die kleine Bühne der Vidmarhallen: einen dunkelhaarigen, etwas ostentativ zwischen Überschwang und Nervosität schwankenden, und einen blonden, ruhigen, mit gewaltiger Schlagseite zu Melancholie und Verzweiflung. Lenz, dieser vielschichtige Dichter, aufgespalten also in zwei Figuren, die Facetten seines Wesens verdeutlicht. Die Inszenierung ist sehr textlastig. Die schwierigen, theoretischen Passagen zur Ästhetik aus dem Gespräch von Lenz mit Kaufmann werden vorgetragen, auch andere Monologe; zu Beginn skizzieren Substantive und Verben vom Anfang der Erzählung Landschaft und Handlung. Ein paar wenige Szenen (zwischen Lenz und Pfarrer Oberlin hauptsächlich) punktuieren das Stück. Und dann der gestalterische Einfall, der massive Eisklotz, der an einer Kette von der Decke hängt, einzige Dekoration des schwarzen Fabrikraums; der zunächst nur vor sich hintropft, dann aber von den Schauspielern erklettert, umfangen und mit der Feueraxt spektakulär zu Trümmern zerhauen wird. Das Herz, das schmelzen möchte und brutalisiert wird? Die Natur, der der Mensch ihren Lauf nicht lässt, sondern sie seinen Launen unterwirft?

Ich schaffe es nicht, hinter dem dekorativen Einfall die weiteren Bedeutungsebenen zu entschlüsseln. Und in gleicher Weise lässt mich auch die restliche Inszenierung seltsam kalt. Zwar leuchten einzelne Worte, Sätze, Szenen hell auf und beleuchten diese eindrückliche Gestalt Lenz. Allzu vieles aber steht unverbunden nebeneinander; gewisse textlastige Passagen wirken unglaublich lang (obwohl das ganze Stück kaum mehr als fünfzig Minuten dauert). Dies immerhin muss ich sagen: Ich habe Lust bekommen, Büchners Original wieder einmal zu lesen.

Und noch etwas zum Ort der Handlung: Lenz hat mich zum ersten Mal in die Vidmar-Hallen gelockt, die neue Spielstätte des Berner Stadttheaters. Das Konzept - Industriebau wird zur hippen Theaterlocation umgenutzt - ist bekannt, aus Bern selber, aber natürlich auch aus Zürich und anderswoher. Ein paar Abstriche sind noch zu machen (Köniz ist verglichen mit Zürich-West eher Niemandsland, und wer mit dem Zehner-Bus anreisen zu müssen meint, sollte mit einem langen Marsch durchs Quartier rechnen), aber der neue Aufbruch ist spannend. Die kleine Bühne funktioniert als intimer Spielraum; und das Restaurant Le Beizli hat zwar einen auf Teufel komm raus originellen Namen, war aber vor und nach der Aufführung ein sehr angenehmer Ort zum Sein. Natürlich kann man sich fragen (und habe ich mich auch gefragt), warum das Stadttheater unbedingt auch noch im Themen- und Publikumssegment der freien Szene wildern muss. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Dass Impulse, Ideen und Innovationen aus der freien Szene auf den etablierten städtischen Bühnen ankommen, ist ein Zeichen für deren Lebendigkeit. Theater darf nie stillstehen, Blutauffrischungen sind jederzeit essentiell.


Technisches: Wir waren bereits im Mai an der letzten Aufführung, deshalb hier kein Link zur Ticketbestellung (die für Vidmar:2 diese Saison noch etwas archaisch ablief – im Herbst solls besser werden). Wer aber ein anderes Spektakel in den Vidmarhallen besuchen will, dem sei ans Herz gelegt, vom Bahnhof den Bus 17 bis Neumattweg zu benützen.

Donnerstag, 8. Mai 2008

Homerische Highlights

Ohne Grossproduktionen scheint in der Museumswelt zurzeit nichts mehr zu gehen. Multimediale Ausstellungsereignisse, durch ihre schiere Grösse oder die Auserlesenheit ihrer Objekte zum Spektakel geadelt, mit Hilfe potenter Sponsoren schweizweit flächendeckend beworben, sind inzwischen mindestens für die wichtigen Museen im Land eher die Regel als die Ausnahme. Man verstehe mich nicht falsch: Ich will hier für einmal nicht in Kulturpessimismus machen. Der Trend zur Grösse bringt nämlich zwei wesentliche Vorteile mit sich. Einerseits erleichtert er es, ein bestimmtes (zugegebenermassen meistens bereits relativ populäres) Thema in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken; anderseits bringen Grossausstellungen häufig das nötige Gewicht auf, um potentiellen Leihgebern auch zentrale Stücke ihrer Sammlungen abzuluchsen; sie ermöglichen dem interessierten Laien mithin Begegnungen mit Werken, für die er ansonsten hunderte von Kilometern zurücklegen müsste, oder Gegenüberstellungen, die einzigartig sind und es lange bleiben werden.

Beides trifft in besonderer Weise zu auf die grosse Homer-Ausstellung, die zur Zeit im Basler Antikenmuseum gezeigt wird. Ort und Zeit sind nicht ganz zufällig. Die letzten Jahre brachten, unter anderem mit den neuen Tübinger Grabungen in Hisarlik und durch ein enges Zusammenwirken von Philologie, Archäologie, Hethitologie und anderen Wissenschaften wesentliche Fortschritte bei der Klärung unseres Verständnisses von der Stadt am Hellespont als Kulisse für die Epen Homers. Und das Basler Seminar für Klassische Philologie spielt in diesen Forschungen einen wichtigen Part, besonders durch das monumentale Vorhaben der Neuerarbeitung eines wissenschaftlichen Ilias-Kommentars, des Neuen Ameis-Hentze. Spiritus Rector dieses Unternehmens und auch der Ausstellung ist der emeritierte Basler Gräzist Joachim Latacz, nicht nur ein massgebender Homer-Forscher, sondern zugleich ein exzellenter Didaktiker, der mit schwungvollem Stil und präziser Argumentation die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfasst und verständlich macht. Seine Handschrift prägt auch die Texte der Ausstellung, welche somit wie aus einem Guss durch Homers Welt und Werk führt. Homers Welt muss natürlich in doppeltem Sinn verstanden werden: die Welt (und Zeit), in der Ilias und Odyssee entstanden sind, und die Welt (und Zeit), auf die sie inhaltlich verweisen. Diese beiden Welten bilden den Ausgangspunkt und ersten Teil der Ausstellung. Der zweite, ausführlichere Teil ist den beiden Epen selber gewidmet: ihrer Handlung und Rahmenhandlung, wie sie aus den Zeugnissen der antiken Kunst aufscheinen, und ihrem Nachleben in römischer, mittelalterlicher und moderner Zeit. Hier brilliert die Ausstellung mit ihrem Renommee: Um die Kampfhandlungen vor Troja zu illustrieren, hätte man in Basel nur ins Museumsdepot hinuntersteigen müssen und etliche geeignete Objekte gefunden – aber wenn man die meisterhafte Berliner Schale mit Achilleus und Patroklos kriegt, sagt man gewiss nicht nein. Ebenso existieren zweifellos unzählige Darstellungen von Sirenen – aber wenn das British Museum seinen berühmten Stamnos rausrückt, lässt man sich nicht zweimal bitten. Diese und ähnliche Meisterwerke werden mit souveränem Understatement präsentiert, zum allerhöchsten Vergnügen des Archäologen und jedes anderen Besuchers mit sicherem Auge für das Schöne.

Und damit zurück zu meiner Anfangsbemerkung. Eine Ausstellung zum einflussreichsten Dichter des alten Griechenlands ist per se keine besonders originelle Idee. Aus diesem Aufhänger jedoch eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu entwickeln, diese nach allen Regeln der Kunst zu illustrieren und einem breiten Publikum vorzustellen, ergibt ein genuines Highlight der diesjährigen Ausstellungslandschaft.


Technisches: Die Ausstellung „Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst“ ist noch bis am 17. August 2008 im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig zu sehen und wird danach vom 14.9.2008 bis am 18.1.2009 im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim gastieren. Zur Ausstellung ist ein gewichtiger (3 kg) und standesgemäss ausgestatteter Katalog erschienen, der ebenfalls wärmstens empfohlen werden kann: Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst. Katalog zur Sonderausstellung. München, Hirmer 2008. ISBN 978-3-7774-3965-5.

Freitag, 2. Mai 2008

Fauré ou „L’Esprit français“

Es war etwas Nostalgie dabei, als ich am Samstag Abend den steilen Weg zum Collège St-Michel in Fribourg hochging. In den späten Neunziger Jahren hatte ich selber vier Jahre lang im Coeur de l'Université et des Jeunesses Musicales gesungen, und nun besuchte ich seit Jahren wieder einmal sein Jahreskonzert. Unter Pascal Mayer sangen wir damals hauptsächlich die grossen Klassiker der Chorliteratur, von Mozarts Requiem bis Rossinis Stabat Mater, und zwar mit Mammutbesetzungen – gelegentlich (zusammen mit dem Chor von Sainte Croix) die geballte Wucht von zweihundert Sängerinnen und Sängern. Der Dirigent Jean-Claude Fasel, der den Chor im Jahr 2000 übernommen hat, beweist in seiner Programmgestaltung ein besonderes Interesse für weniger geläufige Musik. Und der Unichor 2008 umfasst noch 70 Kehlen. Beides – Repertoire und Grösse – tun dem Chor gut. Unter dem Titel Gabriel Fauré ou „L’Esprit français“ galt es dieses Jahr, die Messe des Pêcheurs de Villerville, den Cantique de Jean Racine und das Requiem dieses französischen Romantikers zu entdecken. Faurés Musik ist melodiös, passagenweise schwelgerisch und gleichzeitig völlig unprätentiös. Exemplarisch wurde dies gleich im ersten Werk deutlich, dieser „petite messe de vacances“, wie das Programmheft passend anmerkt, diesem Ferienwerk von Fauré und André Messager, das sie an der normannischen Küste, in Villerville, quasi frisch von der Leber weg für den örtlichen Fischereiverband schrieben und von einigen Frauen des Ortes aufführen liessen. Der Chor beeindruckte mit einem unglaublichen Dynamikumfang, mit Präzision und schön gestalteten Bögen in dieser von Jean-Claude Fasel eingerichteten Version für gemischten Chor und kleines Orchester.

Den Höhepunkt des Konzerts stellte für mich der Cantique de Jean Racine dar, ein kurzes, knappes Jugendwerk, die Vertonung einer Hymnenübersetzung von Racine; eines jener Werke, in denen kein Ton zu viel und keiner am falschen Platz ist, in denen sich alles zu vollendeter Schönheit fügt. Zum krönenden Abschluss folgte das Requiem op. 48 in der Version von 1893. Das Werk ist durchdrungen von jener aussergewöhnlichen Klarheit und Gelassenheit, die mir für viele Totenmessen charakteristisch scheint, als führe die musikalische Auseinandersetzung mit dem Tod zu einem tieferen Verständnis, welches Normalsterblichen abgeht. Zum Unichor und dem Orchestre de Chambre de Neuchâtel traten hier in kurzen Passagen die Sopranistin Anna Stolarczyk und der Bariton Fabrice Hayoz, beides sehr junge Stimmen, die nicht mit Kraft, sondern mit Innigkeit das ausdrückten, was der Komponist zu seinem Requiem gesagt hat:

„...quelqu'un l'a appelé une berceuse de la mort. Mais c'est ainsi que je sens la mort: comme une délivrance heureuse, une aspiration au bonheur d'au-delà, plutôt que comme un passage douloureux.“

Ich habe mich sehr gefreut, den guten alten Unichor in so beneidenswerter Form zu erleben. Um etwas Negatives zu schreiben, müsste ich die quälenden Kirchenbänke von St-Michel bemühen; das Konzert selber war ein seltener, vollständiger Genuss.