Freitag, 20. Juni 2008

Lezioni di volo

Wenn auf diesem Blog im Mai etwas tote Hose war, dann liegt das daran, dass ich hauptsächlich an meinem Italienisch arbeitete; genauer: Ich besuchte in Florenz einen Sprachkurs im Centro Fiorenza (das ich hiermit herzlich weiterempfehle). Besonders spannend fand ich, dass das Centro stark auf Filme als didaktisches Material setzt. Einer längeren Geschichte mit den unterschiedlichsten Charakteren, Akzenten und Soziolekten zu folgen, assistiert entweder von italienischen Untertiteln oder erklärenden Unterbrüchen und Diskussionen, war für mich ein ausgezeichnetes Mittel, in die Sprache einzutauchen. Die paar hierzulande mehrheitlich unbekannten Filme, die ich gesehen habe, haben mir alle gefallen; einer aber stach heraus: Lezioni di volo von Francesca Archibugi.

Mögliche Etiketten für diesen Film gäbe es zuhauf: Coming-of-age-Film, Roadmovie, Liebesfilm, Generationendrama, Drittweltfilm, ... Da ihm keine davon gerecht wird, sag ichs lieber so: Lezioni di volo erzählt die Reise zweier Römer Jugendlicher nach Indien und hundert weitere Geschichten; vor allem aber erzählt er Personen. In seltener Weise lebt dieser Film von seinen Figuren, diesen markanten Gesichtern und starken Charakteren. Da ist Pollo (Andrea Miglio Risi), ein schöner junger Mann, auf jener Schwelle zum Erwachsenwerden, wo alles möglich und nichts gewiss ist; etwas naiv, mit dem Kopf in den Wolken, aber einem Jahrhunderte tiefen Blick. "Ich schaffe es nicht zu verstehen, ob du dumm bist oder hochintelligent", wird er zu hören bekommen. Und sein Freund Curry (Tom Angel Kharumaty), in Indien geboren und in Italien adoptiert, ähnlich unbeschwert und gedankenlos wie Pollo, zunächst betont cool und teilnahmslos, dann aber hineingesogen in das Interesse nach seinen Wurzeln. Nachdem ihre Hauptsorge bisher die Füllung des mittäglichen Panino gewesen war, erleben die beiden Träumer in Indien eine brutale Landung. Sie treffen auf das Leben. Und sie treffen auf Chiara (die wunderbare Giovanna Mezzogiorno), italienische Ärztin im humanitären Einsatz; ernst bis ins Innerste ihres Wesens, Realistin und Kämpferin, ihrem Beruf, ihrer Aufgabe eisern treu. Sie ist der Felsen, an dem die Unbekümmertheit der jungen Römer zerschellt, nicht jedoch ohne selber Risse zu verursachen. Chiaras Zuneigung zu Pollo und ihre Hassliebe zu Curry prägen die Geschichte, lösen die Katharsis aus. Alle drei sehen sich radikal in Frage gestellt, und was der Filmtitel verspricht, löst er ein: In diesen Tagen der indischen Wüste lernen alle drei fliegen.

Ich habe bisher nur von den Hauptdarstellern gesprochen. Die Besetzung ist aber eine Wucht bis in alle Nebenrollen hinein. Jede Figur hinterlässt auf Anhieb einen prägenden Eindruck; alle sind sie Persönlichkeiten, die ihre eigene Geschichte zu dieser Sammlung von Geschichten beitragen. Die wenigsten davon werden wirklich erzählt, die meisten nur angetippt, dann in der Schwebe gelassen: die Affäre von Currys Vater; die Chemie und Komplizenschaft im Feldspital in Kerala; Pollos schwierige Beziehung zu seinem sterbenden Vater; Currys indische Familie... Dieser grosszügige Überschwall an Gesichtern und Geschichten formt den Film und stellt im Grunde eine Frage: Ist das Leben, das ich lebe, das Leben, das ich leben will; ist es mein Leben, oder müsste mein Leben vielleicht anders aussehen? Mit sicherer Hand zeigt Francesca Archibugi ein paar Ansätze zu möglichen Antworten und ist zugleich klug genug, die Frage, die Fragen für sich selber sprechen zu lassen.


Technisches: Ich kann mich nicht erinnern, ob der Film seinerzeit auch in unseren Kinos lief; auf DVD sollte er jedoch zu finden sein, und einen Vorgeschmack gibt auch der Trailer auf Youtube.

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