Donnerstag, 12. Juni 2008

Gespenster

Cathy Marston mag Geschichten. In ihrem ersten Berner Ballettabend erzählte sie - zur Musik von Strawinskys Feuervogel - das unglaubliche Leben von Rasputin. Jetzt doppelt sie nach mit einer tänzerischen Umsetzung von Ibsens „Gespenstern“, die sie 2005 für das Royal Opera House in London erarbeitet hatte. Ibsens Stück ist die allmähliche und immer schrecklicher werdende Enthüllung der Verstrickungen in der Familie von Helena Alving. Die Gespenster der Vergangenheit verfolgen die unglückliche Witwe: die Erinnerung an ihren lieblosen, brutalen Schürzenjäger von Ehemann und an die nie realisierte Möglichkeit einer Flucht mit dem Pastor, der und den sie liebt; ihr Sohn Osvald, den sie als kleinen Knaben in die Fremde gegeben hat, um ihn dem häuslichen Elend zu entziehen, und ihre Bedienstete Regina, uneheliche Tochter des treulosen Gatten mit dem Dienstmädchen, jetzt gefangen im Loyalitätskonflikt mit dem Stiefvater, dem Tischler Engstrand, und fasziniert vom zurückgekehrten Osvald. Die Katastrophe ist, natürlich, unausweichlich. Um die vertrackte, verflochtene Geschichte überhaupt tanzbar zu machen, folgt Cathy Marston der chronologischen Zusammenfassung von George Bernard Shaw, beginnt also mit dem Kapitän und dem Dienstmädchen, lässt dafür den Tischler weg und fokussiert auf Helena Alving. Sie dekliniert die Handlung als eine Folge von in sich geschlossenen, präzise charakterisierten Paarbeziehungen, beginnend mit der Ehe der Alvings: Weniger ein pas de deux als eine bataille de deux, in der gestossen und gezogen, gepackt und gezwungen wird. Von Liebe ist hier nichts mehr zu sehen, dafür Kleinkrieg und Bitterkeit. Welches Versprechen von Freiheit durchweht hingegen den Tanz von Helena mit Pastor Manders: Weite, ausgreifende Bewegungen erobern sich grosszügige Freiräume, zwei Individuen erträumen sich eine gemeinsame Zukunft - nicht im Gleichschritt, aber in vergleichbarem Schwung. In hastiger Opferbereitschaft macht sich jedoch der Pastor aus dem Staub; er will die Ehe nicht brechen und bricht stattdessen seine Geliebte, die fortan nur noch als Geist, als Erinnerung an glücklichere Tage weiterlebt. Zerdrückt und schmierig macht sich der Kapitän an das Dienstmädchen heran; schlangengleich von unten schmiegt er sich um sie herum, am und unter dem Tisch spielt sich ihre Geschichte ab. Ein neckisches Intermezzo ist das gemeinsame Teigkneten und Mehlstäuben von Regine und ihrer Mutter. Von vollendeter Innigkeit ist schliesslich die Anziehung zwischen Osvald und Regine gezeichnet. Ihre Bewegungen gehen nahtlos und sicher ineinander über, sind wie diejenigen eines einzigen Leibes; die beiden, oder besser ihre Körper, verstehen sich blind. Ihr Tanz ist ein Genuss. Aber was nicht sein darf, kann nicht sein.

In einem sparsam, aber klug beleuchteten Raum, der durch einzelne Türen und Tische sowie durch einen Videoschirm als Decke knapp umrissen ist, haben die Figuren viel Platz für ihre Kommunikation, die dennoch immer im Setting der Geschichte verankert bleibt. Die Musik wurde komponiert von Dave Maric, der elektronische Sounds mit einem Kammerorchester (Violine, Cello, Bassklarinette, Harfe, Marimbafon) kombiniert. Hier mache ich den einzigen Abstrich des Abends: Mich liess die Musik weitgehend kalt, zu dissonant und unzusammenhängend waren die Töne. Als ganzes war das jedoch der eindrücklichste Ballettabend, den ich in den letzten Jahren am Stadttheater Bern gesehen habe.


Technisches: Leider sind alle Aufführungen schon vorbei. Ein optischer und akustischer Eindruck vom Stück lässt sich immerhin auf Cathy Marstons Website gewinnen.
Ähnlich begeistert wie ich waren Lilo Weber in der NZZ und Kristina Soldati auf tanzkritik.net, leicht enttäuscht Marlies Strech auf tanznetz.de und (etwas oberflächlich) Marianne Mühlemann im Bund. Bei letzteren beiden verraten die Kommentare, dass es sich über das Bern:Ballett ziemlich agitiert streiten lässt. Zu hoffen bleibt, dass die von einigen Kommentierenden angedeuteten dunklen Wolken über dem Bern:Ballett von dieser und ähnlich luziden und hochstehenden Produktionen zerstreut werden.

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