Freitag, 27. August 2010

L'âge de raison

Welch schöne Geschichte: Zu ihrem 40. Geburtstag erhält eine businesswoman einen Brief, ja eine ganze Serie von Briefen und Paketen – von sich selbst. Als sie sieben Jahre alt war, hatte sie die bedeutungsvolle Geburtstagspost geschrieben und dem Notar des Dorfes anvertraut, der sie nun pflichtbewusst und termingerecht ihrem erwachsenen Selbst überbringt. Dieses reagiert zunächst gelangweilt, dann unwirsch, dann richtig genervt, kann sich aber schliesslich der Magie der kindlichen Worte und Schätze nicht entziehen und lässt sich nach und nach auf ein Wiedersehen mit ihren eigenen, längst vergessenen Gedanken, Wünschen, Sorgen und Schulden ein.

Soweit die Fabel von L’âge de raison, des neuen Filmes mit Sophie Marceau. Doch die schöne Idee ist das eine, ihre filmische Umsetzung das andere – und da wird ihr in einem Wust von Klischees und Vorhersehbarem jegliches Leben, alle Spritzigkeit ausgesaugt, bis sie in einem ziemlich konventionellen, blutleeren Film endet. Das beginnt mit der Hauptperson, der Karrieristin Marguerite/Margaret, die wie ihr Vorname zwischen Französisch und Englisch changiert, in Limousine und Flieger von Glaspalast zu Luxushotel hetzt, nach oben Décolleté zeigt und nach unten Stilettos. Da ist als grösstmöglicher Kontrast das Dorf ihrer Kindheit, in dem zwischen ockerfarbigen Mauern die Zeit stillgestanden ist, wo die Alten auf dem staubigen Platz vor der mairie Pétanque spielen und der Notar den nächsten Wurf für wichtiger hält als sein klingelndes Handy. Da sind all die anderen Versatzstücke ihrer Reise zu sich selbst wie die Wiederbegegnung mit dem Schulschatz oder die Konfrontation mit dem in der Sozialsiedlung hängengebliebenen Bruder. Und auch das Ziel dieser Reise ist (von einer neckischen Anspielung an die überbordende Fantasie der Siebenjährigen abgesehen) schlichtweg unglaublich konventionell.

Schade – hier wurde die Chance vertan, mit einem etwas sorgfältigeren Drehbuch aus einer schönen Idee einen schönen Film zu machen. Was möglich gewesen wäre, deuten Ausstatter und Titeldesigner an: Die Fotos, Texte, Schnipsel und Kostbarkeiten der Kinderwelt, die Margaret und uns aus den Umschlägen und Paketen von Marguerite entgegenfallen, sprühen vor kindlicher Kreativität und noch durch kein Räsonnieren begrenzter Fantasie. Fast bin ich in meinem Kinosessel ein wenig wehmütig geworden, dass ich als Kind diese hervorragende Idee nicht hatte und deshalb selber nie einen solchen Brief erhalten werde.


Technisches: L’âge de raison ist vor kurzem in den Westschweizer Kinos angelaufen; ob der Film auch den Röstigraben überwinden wird, ist wie immer unsicher. In Ermangelung einer wirklich guten Film-Website verlinke ich auf den (überraschend überzeugenden) Trailer.

Freitag, 20. August 2010

Enjoy Poverty

Medienorientierung nach einer Geber-Konferenz in der Demokratischen Republik Kongo: Die internationale Gemeinschaft hat 1,8 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern gesprochen. Der in Kinshasa wohnhafte holländische Künstler Renzo Martens will vom Weltbank-Vertreter wissen, welchen Prozentsatz der Wirtschaftsleistung des Landes diese Summe repräsentiert. Es ist mehr, als die jährlichen Ausfuhrerlöse für Palmöl, Kaffee, Kakao und das Metall Coltan zusammen.

Das ist eine Schlüsselszene in Martens’ Dokumentarfilm Episode III: Enjoy Poverty. Aus ihr heraus entwickelt er die These, dass des Kongos lukrativstes Exportgut weder Bodenschätze noch Landwirtschaftsprodukte sind, sondern Armut und Elend. Die arme Landbevölkerung, so der Künstler weiter, täte folglich gut daran, diese Ressource auszuschöpfen – zumal gegenwärtig vor allem das Ausland davon profitiert: Entwicklungshilfegelder, so erfahren wir, fliessen zum grössten Teil in das Land zurück, aus dem sie stammen; und mit den Bildern von Kriegstoten und unterernährten Kindern machen europäische Reporter Kasse, nicht die Akteure, die Kongolesen selber. Also gabelt Martens in einem Dorf drei junge Männer auf, die einen Fotoladen betreiben und mit Fest- und Hochzeitsfotos ein paar Cent dazuverdienen. Er rechnet ihnen vor, wie viel ihre ausländischen Kollegen für ein einziges Leidensfoto bekommen, und überzeugt sie, sich in der Krankenstation umzusehen. Nach ersten Versuchen klopfen sie im Spital von Médecins sans frontières an, wo sie ein süffisant-herrischer Arzt ohne viel Federlesens rausschmeisst: Er müsse seine Kranken beschützen – was nicht auszuschliessen scheint, dass ihre Fotos in der Medienarbeit von MSF verwendet werden. Am Ende des Films wird Martens’ Presseausweis widerrufen.

Diese zentrale Episode ist eingebettet in lange Szenen, in denen der Künstler schwitzend durchs Land stapft und in seine Handkamera spricht, in denen er mit den Leuten in den Dörfern und auf den Palmölplantagen ins Gespräch kommt, in denen aber auch mit quälender Indiskretion sterbende Kinder und Soldatenleichen gezeigt werden. Teilweise war der Film kaum auszuhalten. Gleichzeitig gelang es ihm, Mechanismen von verfehlter Hilfe, den festgefahrenen westlichen Blick auf Afrika, das Geschäft mit dem Elend schonungslos offenzulegen. Mit wenigen „dummen“ Fragen, mit absurden künstlerischen Interventionen, aber auch mit brutaler Offenheit gegenüber seinen Gesprächspartnern zeigte Martens überdeutlich die Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit der Situation im Kongo auf, aber auch, wie einzelne davon zu profitieren verstehen und wie sie dies ihrem Gewissen gegenüber schönzureden versuchen. Ein enthüllender, lehr- und erkenntnisreicher Film also. Aber um diese Deutlichkeit zu erreichen, verhielt sich Martens wie ein Kotzbrocken. Unangenehm berührend war schon sein unbewegtes Draufhalten auf sterbende Kinder und ihre Angehörigen; in höchstem Masse zynisch sein Abschied von einem Plantagenarbeiter, dem er ein gutes Essen für seine Familie spendierte und gleichzeitig regungslos ins Gesicht sagte, dass er auch in zehn Jahren noch auf dem Boden schlafen und hungern würde. Richtig aufgeregt hat uns aber die Geschichte mit den jungen Fotografen: Martens weiss genau, dass die neu gefundenen Kollegen nicht die geringste Chance haben, mit ihren Elendsbildern Geld zu machen. Er weckt in ihnen also falsche Hoffnungen, um sie für seine Argumentation, für sein eigenes künstlerisches Werk und damit seinen eigenen Profit benützen zu können.

So standen wir nach der Vorführung am diesjährigen Belluard-Festival ratlos und ziemlich verärgert vor der Frage, was das sollte. Oder vielmehr vor dem alten ethischen Dilemma, ob es erlaubt sei, den einen zu schaden, um dafür vielen anderen zu helfen – konkret: ob die pointiert umgesetzte Aussage des Films und seine eventuelle Breitenwirkung die Verarschung [Entschuldigung] seiner Akteure rechtfertigt. Mit Blick auf das überschaubare (und gewiss ohnehin schon sensibilisierte) Publikum, aber besonders auf Martens’ Selbstverliebtheit neige ich dazu, diese Frage im vorliegenden Fall zu verneinen. Der Regisseur hätte nicht so brutal zu überzeichnen gebraucht, um seine Botschaft deutlich zu machen. Es bleibt das schale Gefühl, dass er sich auf Kosten von Menschen, denen es ohnehin schon dreckig geht, mit grossem Gestus in Szene gesetzt hat. Dass er das ganze Dilemma der weltweiten Ungerechtigkeit, ihrer Profiteure und Opfer sowie der Entwicklungshilfe in selten gesehener Deutlichkeit auf den Punkt gebracht hat, kann ich ihm allerdings nicht absprechen.


Technisches: Wann und wo der Film in absehbarer Zeit erneut zu sehen ist, weiss ich nicht – vielleicht hilft Renzo Martens’ Facebook-Profil weiter. Konziser und schärfer als ich kritisiert Dan Fox den Film im Frieze Magazine.

Donnerstag, 12. August 2010

Verblassende Bilder, hartnäckige Erinnerungen

Der Sommer fordert seinen Tribut, der Blog hat tüchtig Staub angesetzt. Ich gelobe Besserung und beginne mit einer Rückblende um sechs Wochen, weit vor die Ferien zurück, ans Belluard Bollwerk International. Welche Wundertüte dieses Festival ist, wurde mir schon bei meinem allerersten Besuch vor Jahren bewusst, als ich zwei nackten Männern eine Stunde lang beim unkoordinierten Staksen über die Bühne zusah. Neben solchen und ähnlichen Meilensteinen der aktuellen Avantgardekunst sind am Belluard aber auch zugänglichere Performances zu erleben und häufig unerwartete, berührende Höhepunkte – ich erinnere mich besonders gerne an La grande guerre vor drei Jahren. Eine solche Kostbarkeit hat mich auch dieses Jahr in ihren Bann gezogen: die Lesung/Performance Aïda sauve-moi des libanesischen Künstlerduos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Kristallisationskeim dieses dichten Abends war ein fast surrealer Vorgang wenige Tage vor der Premiere ihres Films A perfect day in Beirut. Der Film befasst sich mit einem Thema, das im Kern des künstlerischen Schaffens von Hadjithomas und Joreige liegt: mit den Folgen und der Bewältigung des libanesischen Bürgerkriegs. 17'000 Menschen sind seit Jahren verschwunden, ohne Nachricht, ohne Spuren, ohne dass auch nur ihre Gebeine gefunden worden wären. Die Witwe und der Sohn eines solchen Verschwundenen stehen im Zentrum des Films, der ihren Versuch zeigt, nach fünfzehn Jahren den Verlust des Ehemannes und Vaters zu akzeptieren. Für die Vermisstenmeldung in der für den Film nachgedruckten Zeitung von 1990 trieb die Requisiteurin das Porträtfoto des verstorbenen Ehemannes einer Tante auf, welche mit dieser Verwendung einverstanden war. Was die Filmemacher nicht wussten: Die beiden waren geschieden, der Mann hatte wieder geheiratet – und seine zweite Ehefrau Aïda glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ihr in der Vorpremiere von A perfect day ihr Mann als Verschwundener aus der Zeitung entgegenblickte, als wollte er ihr sagen: „Hol mich da raus!“ Sie kontaktierte die Produzentin, konfrontierte sie mit ihrem Schock und verlangte ultimativ, dass das Bild aus dem Film entfernt werde.

Der Umgang mit dieser Forderung war vordergründig der Inhalt der Lesung/Performance. Am Holzpültchen sitzend, vor sich sein MacBook, hinter sich die Leinwand, erzählte Khalil Joreige aber viel mehr als das. Mit dem Auge des Künstlers, der in der Wirklichkeit die Fiktion erkennt und in der Fiktion die Wirklichkeit, sah er in dieser eigenartigen Episode gleichsam im Konzentrat das Dilemma, die Nöte, die Ängste und Hoffnungen des kriegsgeschüttelten Libanon abgebildet oder zumindest angetönt. Und weil all dies eben das Lebensthema von Hadjithomas/Joreige ist, legte sich unter das Netz von Assoziationen und Verweisen, das sich in der Zeitgeschichte spinnen lässt, ein zweites Netz, nämlich eine Zusammenfassung ihres Schaffens. Da ist ihr Film Ashes, für den sie unter den Statisten jemanden suchten, der einen Toten in einem Sarg spielen würde. Die teils verlegenen, teils gewundenen Entschuldigungen der sichtlich unangenehm berührten Leichen-Kandidatinnen und -Kandidaten haben die Künstler in einem Kurzfilm dokumentiert, der von der diffusen Angst vor dem Heraufbeschwören von Unglück handelt. Da sind die Fotoserien der Märtyrerbilder, jener Poster von Toten des Krieges, die alle Strassen dekorieren, und deren allmähliches Verblassen als Kommentar zu Gedenken und Vergessen gelesen wird. Da ist schliesslich der Moment, in welchem Khalil Joreiges persönliche Geschichte sich am deutlichsten mit der tragischen Geschichte seines Landes verstrickt. Sein Onkel gehört nämlich zu jenen ungezählten Verschwundenen. Jahre später, beim Räumen seines Hauses, wird ein belichteter, aber nicht entwickelter Super-8-Film gefunden: eine leise, unwahrscheinliche Hoffnung auf einen letzten Blick in das Leben des Verschwundenen. Joreige lässt die paar Minuten Film sorgsam entwickeln und zeigt sie integral: eine weisse Leinwand, nur flackernde Schemen, die sich gegen Schluss kaum wahrnehmbar zu Figuren, zu Menschen verdichten. In die Gewissheit, alles versucht zu haben, mischt sich die Enttäuschung über die verlorenen Bilder aus des Onkels letzten Lebenstagen.

Der Schock und die penetrante Forderung von Aïda bildeten den roten Faden des Abends, und die zunächst nur kuriose Geschichte wurde sogar noch kriminalistisch aufgeladen. Obwohl Hadjithomas, Joreige und ihr Team von der unerwartet aufgetauchten Witwe gehörig gestresst wurden (und obwohl dem Publikum ob der Absurdität der Episode gelegentlich nur ungläubiges Lachen blieb), verzichteten sie darauf, sich über die Ärmste lustig zu machen. Vielmehr wurde deutlich, dass in einem gebeutelten Land wie dem Libanon solche Reaktionen allen verständlich sind. Dass Aïda, Joana Hadjithomas und Khalil Joreige schliesslich rechtzeitig eine Lösung fanden, die allen gerecht wurde, lässt sich auch als verhaltener Ausdruck der Hoffnung lesen, dass eine Heilung der vielen offenen Wunden möglich ist.