Donnerstag, 29. November 2012

The Angels' Share

Solange ein Whisky im Fass reift, schwindet er: Durch das Holz verdunsten alljährlich etwa zwei Prozent des Volumens. „The Angels‘ Share“, den Anteil der Engel, nennt man diesen Verlust, der durch sein Verschwinden Konzentration und Qualität des Rests erhöht. Whiskyliteratur und Destillerieführer weisen gerne und mit Augenzwinkern auf dieses wesentliche Element im Entstehungsprozess hin – und es ist ja auch eine wunderschöne Geschichte: Sie verdeutlicht den Preis der Reifung, spielt auf die vielen nicht kontrollierbaren Elemente bei der Entstehung eines guten Whiskys an und hat einen Anklang von antikem Trankopfer an die Unsterblichen.

The Angels‘ Share heisst auch der neueste Film von Ken Loach, dem britischen Regisseur, der immer auf die sozialen Brennpunkte und die entscheidenden historischen Momente fokussiert. Dass er sich mit etwas Raffiniertem, Luxuriösem wie Malt Whisky beschäftigt, ist auf den ersten Blick überraschend – und es ist tatsächlich ein langer Weg, der von den Glasgower Vorstädten in die Destillerien der Highlands führt. Loach beginnt im Gerichtssaal, wo Kleinkriminelle, Marginalisierte, Sozialfälle beurteilt werden, meist für Bagatellen, aber keiner das erste Mal. Einen sehen wir von Nahem an, den arbeitslosen Robbie, tauchen in aller Schonungslosigkeit ein in sein verpfuschtes Leben, erfahren, wie er im Kokainrausch einen Unbeteiligten spitalreif geschlagen hat, erfahren von seinem sinnlosen, auf die Vätergeneration zurückgehenden Krieg mit einem anderen Verlierer, sehen, wie er von der Familie seiner Freundin Leonie in der Maternité des Spitals vermöbelt wird. Die Bilder gehen an die Nieren, die Situation ist hoffnungslos. Angesichts seines neugeborenen Sohnes Luke ist Robbie zwar ernsthaft entschlossen, sein Leben zu ändern, die schiefe Bahn zu verlassen – aber wie das geschehen soll, da er von links und rechts unter Feuer steht und in einer Bruchbude bei einem Kumpel squattet, das ist nicht ersichtlich.

Dann treffen sich Robbie und all die anderen verkrachten Existenzen unter der Obhut des Sozialarbeiters Harry zur gemeinnützigen Arbeitsleistung. Harry hat einen gesunden Humor und ein riesiges Herz; ein guter Mensch, wenn es je einen gab. Das eine fügt sich zum anderen, und ehe er sichs versieht, hat Harry Robbie in seine Whisky-Leidenschaft initiiert. Es zeigt sich, dass der junge Mann eine aussergewöhnlich feine Nase hat, und zudem die Worte findet, um präzis zu beschreiben, was er riecht. Auf den Whisky-Events, die er mit Harry besucht, fällt er auf – und kommt an eine wertvolle Information: In der Destillerie Balblair soll in Bälde ein kürzlich wieder aufgefundenes Fass von einem über dreissigjährigen Whisky versteigert werden. Der Whisky-Meister Rory McAllister spricht verschwörerisch vom besten Trunk, den er je verkostet hat, und schätzt, dass die Auktion einen hohen sechsstelligen Betrag einbringen wird.

Mit so viel Geld wäre Robbie nicht nur seine dringendsten Sorgen los, sondern könnte mit Leonie und Luke neu starten. Also entwickelt er einen ingeniösen Plan, von diesem kostbaren Fass heimlich ein paar Flaschen abzuzapfen. Mit drei Kumpels stürzt er sich in einen Kilt und trampt in den Norden, wo sich ein Slapstick-Roadmovie erster Güte entwickelt. Wie die vier Helden von der traurigen Gestalt ihren Plan ausführen, wo sie brillieren und worüber sie stolpern, wird hier selbstverständlich nicht verraten. Nur soviel: Bis wenige Minuten vor Schluss war mir absolut unvorstellbar, wie Regisseur Ken Loach diese haarsträubende Geschichte abschliessend wieder ins Lot bringen würde. Er hat es meisterhaft geschafft, billige Lösungen und Kitsch zu vermeiden und ein Finale zu präsentieren, das Hand und Fuss hat und auch richtig ist. Dazu musste er einiges an schrägem Personal aufbieten und über mehrere Ecken denken; auch der Anteil der Engel spielt eine Rolle (mindestens das Konzept). Herausgekommen ist eine Gangster-Tragikomödie, bald abgrundtief trist, bald herzlich lustig, von Flüchen und Kraftausdrücken durchsetzt, erdig und luftig wie ein guter Whisky.

Technisches: The Angels‘ Share startet am 29.11.2012 in den Deutschschweizer Kinos.

Sonntag, 25. November 2012

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?

Mancher Castingdirektor könnte die Altdorfer Tellspielgesellschaft beneiden, die ohne weit zu suchen eine solche Anzahl von Charakterköpfen zusammenbringt. Einer nach dem anderen kommen sie aus dem Dunkel an den Bühnenrand des Tellspielhauses, langsamen Schrittes, mit offenem Gesicht, den ernsten Blick ruhig und gerade ins Publikum gerichtet. Dann treten sie zur Seite, an eine der beiden rostigen, leicht gekrümmten Stahlwände, die das ganze Bühnenbild ausmachen; und zum Klang der brutalen, rhythmischen Schläge auf den kalten Stahl krümmen sich die freien Urner, stolpern, schleppen sich mühsam weiter, in Unterdrückung und Knechtschaft.

Dass es in Schillers Wilhelm Tell darum geht, wie sich brutal unterdrückte Menschen mit entschlossenem Einsatz von ihrem Diktator befreien, wissen wir. Wie das geht, zeigt Volker Hesse in seinem zweiten Gastspiel als Regisseur der Tellspiele in aller Deutlichkeit. Bereits vor vier Jahren sahen wir in Altdorf einen schonungslosen, von romantischer Verklärung weitgehend befreiten Tell. Lag Hesses Augenmerk damals auf den Strategien für den Weg zur Freiheit, so rückte er dieses Jahr die Willkür der Schreckensherrschaft ins Zentrum. Jede Hoffnung wird brutal unterdrückt; der grundlose Zorn der Junta verschont auch nicht die Alten und Schwachen. Aussichtslos erscheint jeglicher Widerstand, und teuer wird er erkauft. Wer beim Wort „Revolution“ an Freiheitsfahnen und freudentrunkene Siegesfeiern denkt, vergisst darüber allzu leicht die Toten, die Verstümmelten, die Gefolterten und ihre Angehörigen. Hesse rückt sie in den Mittelpunkt, gibt ihrem Leid grossen Raum und vergisst sie auch nicht, als ihr Unterdrücker tot und seine Schergen gefangen sind: Im wilden Taumel der Schlussszene teilt sich die Bühne. Während links zum lüpfigen Trommelklang getanzt und gefeiert wird, sammeln sich rechts all jene, deren Liebste die Freiheit mit Leben und Blut bezahlt haben. Ihr Weinen und ihre Trauer mischen sich in die Freudenlieder, und in dieser Dissonanz, dieser Ambivalenz von Triumph und Verzweiflung, begrüssen die Freien ihre Freiheit.

Gesprochen wird dabei wenig, und das ist gut so. Denn die grösste Gefahr bei Schiller besteht darin, sich von der Anmut der Sprache zu sehr mitreissen zu lassen. Schöneres Deutsch ist nie geschrieben worden; jeder Satz verdiente es, in Marmor gehauen zu werden. Allzu leicht gerät der empfindsame Zuschauer dabei ins Schwärmen, lässt sich ablenken vom Inhalt oder sieht diesen im perfekten sprachlichen Kleid zu einem ewiggültigen Schönen, Wahren, Guten erstarren. Volker Hesse war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst. Er hat Schillers Tell radikal zusammengestrichen, arbeitete stark mit Bewegungen, tänzerischen Elementen, ausführlichen und mitreissenden Choreografien und mit einfachen Rhythmen und Klängen. Und wenn auf der Bühne dann dennoch gesprochen wurde, brachte das kernige Urner Hochdeutsch gerade so viel Verfremdungseffekt mit, dass hinter der schönen Form der Inhalt immer durchschien.

Technisches: Die Altdorfer Tellspiele 2012 sind längst Geschichte, dieser Artikel ist nicht mehr als eine nachträgliche Hommage an ein grossartiges Stück Theater.

Freitag, 16. November 2012

Skyfall

Während der Diskussion in der Pause von Skyfall fiel es uns auf: Die früheren James-Bond-Filme (und damit meine ich mit wenigen Ausnahmen alles von Connery bis Brosnan) machten nie so richtig Angst. Ich weiss schon, dass jede Epoche ihre spezifischen Bedrohungen hat, und dass das Wedeln mit Atomraketen in den Eingeweiden eines Zuschauers in den Sechzigern wohl anderes ausgelöst hat, als es bei uns heutigen auslöst – aber trotzdem: Die Bösewichte, ihre Pläne und ihre Hauptquartiere waren in der Regel überdreht-irreal, James Bond dachte beim Begriff „Bodycount“ in erster Linie an weibliche Körper und konzentrierte sich darüber hinaus hauptsächlich darauf, seinen Sarkasmus möglichst träf an den Mann zu bringen. Mit zwei knallharten Fäusten und einer Tasche voll Gadgets die Welt zu retten, war immer eine (lösbare) Nebenaufgabe, zu deren Bewältigung gelegentlich auch ziemlich clowneske Stunts eingesetzt werden konnten. Kaum überraschend, dass die Plots eines Grossteils dieser Filme schon fast schematisch aufgebaut sind, von der actiongeladenen Eröffnungssequenz über Briefing und Ausstattung durch M und Q, rituelle Kontaktaufnahme mit dem Bösewicht (oder seiner Freundin) bis zur Gefangennahme und zum Showdown in einem möglichst spektakulären Ambiente: alles ein überlanger, hochamüsanter Running Gag. Wiedersehen macht Freude, und darin liegt ein Grund für den Erfolg der Bond-Reihe.

Mit Daniel Craig wurde vieles anders. Nachdem die alte Formel in Pierce Brosnans letztem Film, Die Another Day, der an seiner eigenen Absurdität fast erstickte, wieder mal krachend an die Wand gefahren wurde, scheinen sich die Bond-Macher besonnen zu haben. Der neue Bond sollte mehr als ein Abziehbild sein; er sollte einen Charakter bekommen, zweifeln und sich irren dürfen – und sich entwickeln, vom jungen, ungestümen, kantigen Agenten zu einer Persönlichkeit. Das war ein gewisses Risiko, denn die bedingungslosen Adepten der alten Formel erkennen ihren Helden in der neuen Version nicht wieder, und zudem ein gewisser Aufwand, da ein solcher Charakter nicht nach einem Film schon fertig ist. Im dritten Craig-Bond, Skyfall, scheint das Ziel erreicht, und zwar auf magistrale Weise. Ich schliesse mich ohne zu zögern jenen an, die Skyfall zu den besten Bond-Filmen zählen. Die Geschichte entwickelt sich dunkel und bedrohlich, aber ohne die gehetzten Übergänge von Quantum of Solace. Javier Bardem ist als Bösewicht Silva intelligent, gnadenlos, eine Spur lächerlich und auf fast klassische Weise tragisch. Bond agiert nach einer Auszeit von ein paar Monaten (wegen Todes) in der ganzen ersten Hälfte des Films verzweifelt an seinen körperlichen Limiten; sowohl er als auch seine Vorgesetzte M (Dame Judi Dench) sind in diesen Film als Persönlichkeiten mit einem guten Teil ihrer Lebensgeschichte involviert. Das epische, düstere Finale im Nebel der schottischen Highlands ist trotz augenzwinkernder Anleihen beim A-Team eine ernsthafte, apokalyptische Angelegenheit. Missglückt ist einzig die Erklärung für Silvas um sieben Ecken herumdenkende Attacke: Sich als Polizist zu verkleiden und in den Raum einzudringen, in dem er seine Rache vollbringen will, wäre doch auch möglich gewesen, ohne dass er davor Bond um die ganze Welt herum auf seine Spur gebracht hätte. Und warum man in sämtlichen mir bekannten Filmen einen Hacker nie vor einer Kommandozeile, sondern immer nur vor elaborierten grafischen Animationen sieht, soll mir auch mal einer erklären…

Wer in all dem den klassischen Bond zu vermissen befürchtet, sei beruhigt: Die Actionsequenzen (besonders im Vorspann) sind auf der Höhe der Kunst, die Bond-Girls, wiewohl reine Nebenfiguren, bleiben atemberaubend, das Casino von Macao ist absolut splendid, und Bonds sarkastische Kommentare fehlen nicht, sind einzig eine Spur grimmiger. Höchste Kunst stellen – wie immer seit Casino Royale – die Dialoge dar, schneidende Wortgefechte im Kammerspiel-Setting. Der rekordverdächtige kommerzielle Erfolg des Films ist hoffentlich Garant dafür, dass die nächste Ausgabe in ähnlichem Stil daherkommen wird

Technisches: Skyfall läuft in gefühlt der Hälfte aller Kinos der Schweiz. Es versteht sich von selbst, dass nur Banausen die synchronisierte Version anschauen; wo immer ein anachronistischer Kinobetreiber auf die Originalversion setzt, sollte er mit grossem Zuspruch entschädigt werden.

Sonntag, 11. November 2012

In Marmor gehauen

Von Tinos-Stadt fuhren wir auf die neue Umfahrungsstrasse hinauf, liessen die Wallfahrtskirche der Panagia links liegen, schlängelten uns in waghalsigen Serpentinen die steilen Hügel hinan, fuhren auf einer wunderbaren Strasse mit Panoramablick auf Syros gegen Nordwesten, überquerten einen letzten hohen Pass und parkierten am Dorfeingang von Pyrgos. Über marmorgepflästerte Wege, vorbei an schmucken Fassaden, erreichten wir die von einer enormen Platane beschattete Platia, stiegen am Brunnenhaus vorbei hoch, gelangten am Dorfrand zum Friedhof, einer regelrechten Freilichtausstellung des lokalen Marmorhandwerks, und kamen gleich dahinter bei einem modernen Gebäudekomplex aus Bruchsteinen und Sichtbeton an, dem Museum für Marmortechnik. Die Kulturstiftung der Piräusbank hat in den letzten Jahren über ganz Griechenland verteilt ein preisgekröntes Netzwerk von Museen geschaffen, die landwirtschaftliche Kultur, traditionelles Handwerk und industrielle Entwicklung dokumentieren. So steht in Volos das Ziegeleimuseum Tsalapatas, und auf Chios wird eines über den Mastix eingerichtet. Das Museum, das sich mit Abbau und Kunsthandwerk des Marmors befasst, ist nicht ganz zufällig auf der Kykladeninsel Tinos gelandet: Sie ist eines der Zentren der Marmorverarbeitung, und das Dorf Pyrgos mit seiner Kunstgewerbeschule, seinen Marmorwerkstätten und seinen Künstlern ist unbestrittener Leuchtturm des Handwerks.

Wer die durchschnittlichen archäologischen Provinzmuseen in Griechenland kennt, jene gefängnisgleichen Betonbauten, wo vor abblätterndem hellblauem Putz ein paar Vasen und Statuen aufgereiht stehen, im Idealfall knapp beschrieben auf winzigen, maschinengetippten Kärtchen, wenn dieselben nicht schon den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt sind und irgendwo unten in der Vitrine liegen; wer also mit dem Stand der Museologie in Griechenland vertraut ist, wird im Marmormuseum ausgesprochen positiv überrascht. Dieses Haus erfüllt mit Bravour die diffizile Hauptaufgabe eines Museums, dem Besucher in überblickbarer Zeit (wir waren kaum eine Stunde dort) wesentliches Wissen begreiflich zu machen. Im Zentrum stehen zwei grosse Dioramen: ein Steinbruch und eine Bildhauerwerkstatt. Der Blick gleitet über anstehenden Fels und Marmorblöcke, über Werkzeuge und Hilfsmittel; das Verständnis beginnt, sich Bahn zu schaffen, wird dann unterstützt und ergänzt durch Fotos, Videos und knappe, aber präzise Erklärungen. Die Objekte sind mit Bedacht ausgewählt und nicht selten spektakulär wie der Schwenkkran auf dem Vorplatz oder die Detailpläne für reich dekorierte marmorne Ikonostasen. Industrielle und kleinhandwerkliche Marmorförderung werden gegenübergestellt; Archivmaterial macht Familientraditionen und die Organisation des Kunsthandwerks verstehbar, und auch die typischen tiniotischen Oblichter fehlen nicht.

In dieses Haus sind sichtbar viel Geld, Wissen und Aufmerksamkeit geflossen, und der Aufwand hat sich gelohnt. Gereicht hat es zudem für einen ausführlichen, aber dennoch handlichen Museumsführer, der einem die Lektion zuhause nochmals in Ruhe durchlesen lässt. Für zukünftige Ausflüge in Griechenland empfiehlt sich auf jeden Fall der Blick auf die Museumskarte der Piräusbank.

Technisches: Tinos erreicht man täglich mit Fähren von Piräus und Rafina aus, wobei man Wochenenden und Marienfeste wegen der Pilgermassen besser meidet. Von Tinos-Stadt aus gelangt man mit dem Bus (wenige Verbindungen täglich) oder mit dem Mietauto wie im Artikel beschrieben in den Inselnorden. Pyrgos lohnt auch wegen seiner schönen Gässlein und seiner anderen Museen den Besuch. Zum Mittagessen empfiehlt sich ein Abstecher ans Meer hinunter in den Fischerhafen Ormos Panormou.