Sonntag, 11. November 2012

In Marmor gehauen

Von Tinos-Stadt fuhren wir auf die neue Umfahrungsstrasse hinauf, liessen die Wallfahrtskirche der Panagia links liegen, schlängelten uns in waghalsigen Serpentinen die steilen Hügel hinan, fuhren auf einer wunderbaren Strasse mit Panoramablick auf Syros gegen Nordwesten, überquerten einen letzten hohen Pass und parkierten am Dorfeingang von Pyrgos. Über marmorgepflästerte Wege, vorbei an schmucken Fassaden, erreichten wir die von einer enormen Platane beschattete Platia, stiegen am Brunnenhaus vorbei hoch, gelangten am Dorfrand zum Friedhof, einer regelrechten Freilichtausstellung des lokalen Marmorhandwerks, und kamen gleich dahinter bei einem modernen Gebäudekomplex aus Bruchsteinen und Sichtbeton an, dem Museum für Marmortechnik. Die Kulturstiftung der Piräusbank hat in den letzten Jahren über ganz Griechenland verteilt ein preisgekröntes Netzwerk von Museen geschaffen, die landwirtschaftliche Kultur, traditionelles Handwerk und industrielle Entwicklung dokumentieren. So steht in Volos das Ziegeleimuseum Tsalapatas, und auf Chios wird eines über den Mastix eingerichtet. Das Museum, das sich mit Abbau und Kunsthandwerk des Marmors befasst, ist nicht ganz zufällig auf der Kykladeninsel Tinos gelandet: Sie ist eines der Zentren der Marmorverarbeitung, und das Dorf Pyrgos mit seiner Kunstgewerbeschule, seinen Marmorwerkstätten und seinen Künstlern ist unbestrittener Leuchtturm des Handwerks.

Wer die durchschnittlichen archäologischen Provinzmuseen in Griechenland kennt, jene gefängnisgleichen Betonbauten, wo vor abblätterndem hellblauem Putz ein paar Vasen und Statuen aufgereiht stehen, im Idealfall knapp beschrieben auf winzigen, maschinengetippten Kärtchen, wenn dieselben nicht schon den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt sind und irgendwo unten in der Vitrine liegen; wer also mit dem Stand der Museologie in Griechenland vertraut ist, wird im Marmormuseum ausgesprochen positiv überrascht. Dieses Haus erfüllt mit Bravour die diffizile Hauptaufgabe eines Museums, dem Besucher in überblickbarer Zeit (wir waren kaum eine Stunde dort) wesentliches Wissen begreiflich zu machen. Im Zentrum stehen zwei grosse Dioramen: ein Steinbruch und eine Bildhauerwerkstatt. Der Blick gleitet über anstehenden Fels und Marmorblöcke, über Werkzeuge und Hilfsmittel; das Verständnis beginnt, sich Bahn zu schaffen, wird dann unterstützt und ergänzt durch Fotos, Videos und knappe, aber präzise Erklärungen. Die Objekte sind mit Bedacht ausgewählt und nicht selten spektakulär wie der Schwenkkran auf dem Vorplatz oder die Detailpläne für reich dekorierte marmorne Ikonostasen. Industrielle und kleinhandwerkliche Marmorförderung werden gegenübergestellt; Archivmaterial macht Familientraditionen und die Organisation des Kunsthandwerks verstehbar, und auch die typischen tiniotischen Oblichter fehlen nicht.

In dieses Haus sind sichtbar viel Geld, Wissen und Aufmerksamkeit geflossen, und der Aufwand hat sich gelohnt. Gereicht hat es zudem für einen ausführlichen, aber dennoch handlichen Museumsführer, der einem die Lektion zuhause nochmals in Ruhe durchlesen lässt. Für zukünftige Ausflüge in Griechenland empfiehlt sich auf jeden Fall der Blick auf die Museumskarte der Piräusbank.

Technisches: Tinos erreicht man täglich mit Fähren von Piräus und Rafina aus, wobei man Wochenenden und Marienfeste wegen der Pilgermassen besser meidet. Von Tinos-Stadt aus gelangt man mit dem Bus (wenige Verbindungen täglich) oder mit dem Mietauto wie im Artikel beschrieben in den Inselnorden. Pyrgos lohnt auch wegen seiner schönen Gässlein und seiner anderen Museen den Besuch. Zum Mittagessen empfiehlt sich ein Abstecher ans Meer hinunter in den Fischerhafen Ormos Panormou.

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