Von Tinos-Stadt fuhren wir auf die neue Umfahrungsstrasse
hinauf, liessen die Wallfahrtskirche der Panagia links liegen, schlängelten uns
in waghalsigen Serpentinen die steilen Hügel hinan, fuhren auf einer
wunderbaren Strasse mit Panoramablick auf Syros gegen Nordwesten, überquerten
einen letzten hohen Pass und parkierten am Dorfeingang von Pyrgos. Über
marmorgepflästerte Wege, vorbei an schmucken Fassaden, erreichten wir die von
einer enormen Platane beschattete Platia, stiegen am Brunnenhaus vorbei hoch, gelangten
am Dorfrand zum Friedhof, einer regelrechten Freilichtausstellung des lokalen
Marmorhandwerks, und kamen gleich dahinter bei einem modernen Gebäudekomplex
aus Bruchsteinen und Sichtbeton an, dem Museum für Marmortechnik. Die
Kulturstiftung der Piräusbank hat in den letzten Jahren über ganz Griechenland
verteilt ein preisgekröntes Netzwerk von Museen geschaffen, die landwirtschaftliche
Kultur, traditionelles Handwerk und industrielle Entwicklung dokumentieren. So steht
in Volos das Ziegeleimuseum Tsalapatas, und auf Chios wird eines über den
Mastix eingerichtet. Das Museum, das sich mit Abbau und Kunsthandwerk des Marmors
befasst, ist nicht ganz zufällig auf der Kykladeninsel Tinos gelandet: Sie ist
eines der Zentren der Marmorverarbeitung, und das Dorf Pyrgos mit seiner
Kunstgewerbeschule, seinen Marmorwerkstätten und seinen Künstlern ist unbestrittener
Leuchtturm des Handwerks.
Wer die durchschnittlichen archäologischen Provinzmuseen in
Griechenland kennt, jene gefängnisgleichen Betonbauten, wo vor abblätterndem
hellblauem Putz ein paar Vasen und Statuen aufgereiht stehen, im Idealfall
knapp beschrieben auf winzigen, maschinengetippten Kärtchen, wenn dieselben
nicht schon den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt sind und irgendwo unten in der
Vitrine liegen; wer also mit dem Stand der Museologie in Griechenland vertraut
ist, wird im Marmormuseum ausgesprochen positiv überrascht. Dieses Haus erfüllt
mit Bravour die diffizile Hauptaufgabe eines Museums, dem Besucher in überblickbarer
Zeit (wir waren kaum eine Stunde dort) wesentliches Wissen begreiflich zu
machen. Im Zentrum stehen zwei grosse Dioramen: ein Steinbruch und eine
Bildhauerwerkstatt. Der Blick gleitet über anstehenden Fels und Marmorblöcke,
über Werkzeuge und Hilfsmittel; das Verständnis beginnt, sich Bahn zu schaffen,
wird dann unterstützt und ergänzt durch Fotos, Videos und knappe, aber präzise
Erklärungen. Die Objekte sind mit Bedacht ausgewählt und nicht selten
spektakulär wie der Schwenkkran auf dem Vorplatz oder die Detailpläne für reich
dekorierte marmorne Ikonostasen. Industrielle und kleinhandwerkliche
Marmorförderung werden gegenübergestellt; Archivmaterial macht Familientraditionen und die
Organisation des Kunsthandwerks verstehbar, und auch die typischen tiniotischen
Oblichter fehlen nicht.
In dieses Haus sind sichtbar viel Geld, Wissen und
Aufmerksamkeit geflossen, und der Aufwand hat sich gelohnt. Gereicht hat es
zudem für einen ausführlichen, aber dennoch handlichen Museumsführer, der einem
die Lektion zuhause nochmals in Ruhe durchlesen lässt. Für zukünftige Ausflüge
in Griechenland empfiehlt sich auf jeden Fall der Blick auf die Museumskarte
der Piräusbank.
Technisches: Tinos
erreicht man täglich mit Fähren von Piräus und Rafina aus, wobei man Wochenenden
und Marienfeste wegen der Pilgermassen besser meidet. Von Tinos-Stadt aus
gelangt man mit dem Bus (wenige Verbindungen täglich) oder mit dem Mietauto wie
im Artikel beschrieben in den Inselnorden. Pyrgos lohnt auch wegen seiner
schönen Gässlein und seiner anderen Museen den Besuch. Zum Mittagessen empfiehlt sich ein Abstecher ans Meer hinunter in den Fischerhafen Ormos Panormou.
Sonntag, 11. November 2012
In Marmor gehauen
Labels: Architektur, Hellas, Kultur, Museum
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