Freitag, 31. Dezember 2010

Auf ein Neues

Der Dezember schien sich im Voraus ganz luftig und grosszügig zu präsentieren, aber irgendwie ist er mir unversehens zwischen den Fingern zerronnen – das Jahr ist um, es bleibt nur, ein paar rückblickende Worte zu formulieren. Ich war ein paar Mal im Ballett und im Theater, habe einige Filme gesehen und siebzehn Bücher gelesen (nicht alle hier dokumentiert), dazu ein Mehrfaches davon in Form von Zeitungen, Zeitschriften und Blogs. Anderes war weitaus bedeutender, im Guten wie im Schlechten, aber das vermindert nicht die Wichtigkeit, kritischen Sinn und sprachlichen Ausdruck ständig zu schärfen. Es ist mir gelungen, meinen Vorsatz auszuleben, einiges an Grundlagenliteratur zum Altertum zu lesen, was mich sehr freut. Im nächsten Jahr möchte ich mehr nach dem Lustprinzip vorgehen. Auch dazu steht hier Etliches aus der Antike in den Regalen: Grabungsberichte, Museumskataloge, Monografien und Sammelwerke. Ich hege die Hoffnung, damit die oft trockenen Basen aus der diesjährigen Lektüre mit Farbe und Leben zu umkleiden, und bin mir auch gewiss, dass die Grundlagen mir die Spezialliteratur einfacher verständlich machen werden.

Und damit allen Mitlesenden ein gutes neues Jahr – möge es denkwürdig werden, reich an Schönem und Gutem, und möge das unvermeidliche Missliche schnell und dauerhaft der Vergessenheit anheimfallen! Und lasst uns nicht vergessen, dass Buch und Bühne nicht das Leben sind, aber dass wir ohne sie im Leben ärmer wären.

Freitag, 17. Dezember 2010

Nordisches Irrlicht

Von Peer Gynt kannte ich bis vor drei Wochen nur die Musik. Die beiden Suiten von Edvard Grieg haben durchaus aufbrausende und kontrastreiche Momente, hinterlassen aber mit ihren grandiosen Naturszenen, innigen Liedern und schwelgerischen Melodien einen sehr romantischen, verklärten Eindruck. Und nun dies: Peer Gynt von Henrik Ibsen, in der Übersetzung von Christian Morgenstern, inszeniert von Thorleifur Örn Arnarsson auf der Bühne des Luzerner Theaters. Dieser Peer Gynt ist ein Irrwisch und Tausendsassa, Herzensbrecher und Frechdachs, Mutters Liebling, Lügenbaron und Trollenprinz, unfassbar und unbegreiflich – es braucht ganze drei Schauspieler, um ihn einigermassen darzustellen, dazu den Bestand mehrerer Brockenhäuser, um ihm ein so überbordendes wie angemessenes Bühnenbild (Vytautas Narbutas) zu bieten. Der erste Teil gleicht einem Vulkanausbruch, einem Höllenritt durch Raum und Zeit: Meeresüberfahrt in der Badewanne, Trollenhochzeit auf Bücherstapeln, Griegs Musik aus dem Radio und vom Klavier in Fragmenten herwehend, Morgensterns kongeniale Verse scharf und ironisch, wenn auch oft unverständlich im allgemeinen Chaos, Lärm und Gebrüll. In der Pause präsentiert sich Peer Gynt im Foyer als Spitzenkandidat der Peer-Gynt-Partei PGP für den Posten des Königs, des Präsidenten, oder was auch immer Glamouröses zur Auswahl steht, hat aber mit seinem Aufruf zur Revolution beim belustigten Publikum wenig Erfolg. Nach der Pause dann so etwas wie der besinnliche Teil: Auf das expansiv-expressive Rausgehen in die Welt folgt Peers Rückkehr zu sich selbst, oder wenigstens sein Versuch, ein paar wichtigen Themen nicht länger auszuweichen. Der gealterte Heisssporn sieht sich zum Schluss mit einem Gegenspieler konfrontiert, der ihm unerbittlich die Stirn bietet – und findet (ganz altmodisch) unerwartete Erlösung.

Wir erlebten in Luzern einen temporeichen, vergnüglichen Abend. Die schiere Reizüberladung, verbunden mit meiner mangelnden Vorbildung, hat es mir allerdings verunmöglicht, die ganze Tiefe des Stücks zu erfassen; der Genuss blieb deshalb etwas an der Oberfläche. Immerhin: Dass Griegs Musik und Ibsens Peer Gynt herzlich wenig miteinander gemeinsam haben, ist nicht nur mir aufgefallen. Die Wikipedia fasst die communis opinio so zusammen: „Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die nationalromantische Musik Griegs denkbar schlecht zu Ibsens modernem Drama passt.“ Ich empfehle also, Drama und Musik getrennt zu lesen bzw. zu hören – aber ich empfehle beides ausdrücklich, und ebenso die eindrückliche Luzerner Inszenierung.


Technisches: Peer Gynt steht im Haus an der Reuss im Dezember und Januar noch drei Mal auf dem Spielplan. Morgensterns deutsche Übersetzung findet sich unter anderem beim Projekt Gutenberg, oder als Taschenbuch vom Ondefo-Verlag (ISBN 978 3 93970308 2).

[UPDATE: Das Luzerner Theater hat seine Website umgebaut; den Link zum Stück habe ich angepasst, ebenso den zum Projekt Gutenberg. Auf den Versuch, den laufend verschwindenden Youtube-Links hinterherzuhecheln, verzichte ich allerdings...]

Freitag, 10. Dezember 2010

Herren unserer Zeit

Momo: Dieser Name erweckt Nostalgie; weit zurückliegende Erinnerungen an den Kinderbuchklassiker von Michael Ende und vor allem an den ersten Kinobesuch meines Lebens, als ich ganz allein mit den Primarschulgspänli den Zug nach Luzern nehmen und mir den Film anschauen durfte. Nun kommt Momo als Orchesterballett auf die Bühne des Berner Stadttheaters, choreografiert von der Niederländerin Didy Veldman; statt Shakespeare oder Ibsen, statt Historie oder Weltliteratur also zur Abwechslung ein Märchen. Das macht das Ballett zugänglicher, erzählerischer und leichter verständlich als andere Handlungsballette der letzten Jahre.

Damit ist nicht gesagt, dass die Geschichte banal wäre. An Hand von Momo und ihren Freunden untersucht sie nämlich die Frage, wer denn Herr unserer Zeit ist: wir selber, oder sonst irgendwer oder irgendwas. Das Thema Zeit scheint äusserlich mehrfach im Motiv der Uhr auf. Durchdekliniert wird es aber insbesondere in der tänzerischen Umsetzung des Umgangs mit der Zeit. Die Grosszügigkeit, Verspieltheit, das eigentliche Vergessen der Zeit zugunsten dessen, wozu sie dient, charakterisiert Momo und ihre Freundinnen; scharf kontrastiert damit die hektische Effizienz der Zeitdiebe, der Grauen Herren; flotte Tempowechsel von der Zeitlupe bis zum maschinenähnlichen Schnelldurchlauf sind der choreografische Ausdruck dieses Gegensatzes. Ein zweites Thema schleicht sich dann ein: die Korrumpierbarkeit. Denn nur indem sie ihnen etwas Heissersehntes versprechen, sie mithin also bei einem schwachen Punkt erwischen, können die Grauen Herren die Menschen für sich gewinnen. Alle – bis auf Momo. Die nämlich ist schlicht immun gegenüber Tand und Schein. In einer wunderbaren Szene mit viel Slapstick wird ihr eine Puppe untergeschoben, Modell Letzter Schrei – und währenddem diese tanzend und quiekend über die Bühne stakst, steht Momo das schiere Unverständnis, was das soll und weshalb das cool ist, ins Gesicht und den Körper geschrieben.

Vielleicht ist dies die entscheidende Szene. Der ultimative Showdown in der Zentrale der Grauen Herren jedenfalls wird ganz knapp und beiläufig abgehandelt; fast absichtslos nähert sich Momo mit Schildkröte und Stundenblume, währenddem die letzten der Zeitdiebe sich in relativ kurzem Prozess gegenseitig die lebensspendenden Zigarren aus den Mündern reissen. Am Schluss – man erinnert sich, es ist ein Märchen – regnet es Blütenblätter in Fülle, Momos Freunde winden sich verwundert aus dem kalten Diktat der Zeit und gewinnen Ausdruck, Bewegung und Lebensfreude wieder.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Bern.Ballett, allen voran Hui Chen Tsai in einer grossen Rolle als Momo, setzen die Geschichte mühelos um. Die Musik, die das Berner Sinfonieorchester unter Dorian Keilhack dazu spielt, kommt von Dmitri Schostakowitsch, zusammengestellt von Philip Feeney. Schade, dass nirgends zu erfahren ist, um welche Stücke es sich handelte, denn die Musik passt so gut, als hätte Schostakowitsch sie während der Lektüre von Endes Buch geschrieben. Sehr tanzbar, erfasst sie in jeder Szene perfekt die Gefühlslage – atonal zu Beginn, wie um den Schritt ins Land der Märchen zu markieren, spätromantisch-schwelgerisch dann über weite restliche Strecken, immer geschickt spielend mit Beschleunigung und Verlangsamung. Kaum mitgekriegt haben wir leider von unseren Stammplätzen im 3. Rang die Videos von Hambi Haralambous.

Ein Blick in den Zuschauerraum bestätigte: Dies ist ein Ballett, das auch Kinder anspricht und ihnen zugänglich ist. Vielleicht ein geschickter Schachzug des Bern.Ballets im Angesicht der Stadttheaterkrise und der überwundenen und doch immer noch drohenden Sparmassnahmen?


Technisches: Momo steht im Stadttheater Bern im Dezember und Januar noch mehrfach auf dem Spielplan. Einen schönen Vorgeschmack gibt die Videodokumentation von Hambi Haralambous. Und wer den Klassiker wieder einmal lesen möchte, findet ihn (hoffentlich) in jeder anständigen Bibliothek sowie beim Piper-Verlag.

Samstag, 27. November 2010

Antike Wirtschaft

Bei meiner archäologischen und althistorischen Lektüre ist mir in letzter Zeit klar geworden, dass die Kenntnis der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Überlegungen für das Verständnis historischer Phänomene oft von grosser Bedeutung ist – beziehungsweise wäre, denn in meinem Studium ist dieser Aspekt kaum je methodisch angegangen worden. Es galt hier also eine Lücke zu schliessen. Glücklicherweise stand das entsprechende Standardwerk bei mir bereits im Regal: Antike Wirtschaft von Moses I. Finley. Finley, soviel hatte ich immerhin mitgekriegt, war einer der führenden Forscher zur antiken Ökonomie, und die aus einer Vorlesung hervorgegangene Übersichtsdarstellung gewissermassen die Summe seiner Forschungen. Die deutsche Ausgabe kommt schlichtestmöglich daher, als schmales Bändchen im sobren Tarnkappengewand der Reihe dtv wissenschaft. Der Inhalt jedoch ist nahrhaft; die Lektüre verlangt Wachheit und Konzentration. Finley herrscht mit der Souveränität des erfahrenen Gelehrten über seinen Gegenstand, gewichtet mit sicherer Hand, polemisiert überzeugt gegen unbegründete Auffassungen und muss doch selber mehr als einmal auf sehr unsicherem Terrain seine Analysen errichten. Denn eines macht er von Anfang an klar: Griechen und Römer, die sich doch in allen möglichen wissenschaftlichen Gattungen als originelle Pionierdenker erwiesen hatten, kannten die Ökonomie als Wissenschaft nicht.

Der Befund ist zunächst mal ernüchternd. Er bedeutet: Es gibt in der antiken Literatur keinerlei abstrakte Betrachtung wirtschaftlicher Phänomene, es fehlen auch grundlegende Hilfswissenschaften wie Statistik sowie die entsprechende Terminologie und Konzepte; ja es fehlt jeglicher Beleg dafür, dass wirtschaftliche Zusammenhänge erkannt oder untersucht worden wären, die über anekdotische Einsicht hinausgingen. (Wenn das Wetter in Ägypten ungünstig war, kam weniger Getreide nach Rom und die Preise stiegen – soviel war klar, aber zum Anlass weitergehender Studien zur Preisgestaltung beispielsweise wurden solche Alltagsphänomene nicht genommen.) Für uns bedeutet das auch: Es ist schlicht sehr wenig belastbares Material vorhanden, das uns heutigen entsprechende Untersuchungen erlaubt. Für fast alles, was er beschreibt, kann Finley trotz immenser Quellenkenntnis aus der antiken Literatur und Epigrafik gerade mal ein paar Beispiele anführen; und die Bewertung und Einordnung dieser Quellen erweist sich geradezu als Hauptschwierigkeit: Sind es belanglose oder anekdotische Einzelfälle, oder sind es dennoch, gerade wegen ihrer Beiläufigkeit, charakteristische Beispiele verbreiteter Praxis?

Aus dieser schütteren Quellenlage errichtet der Autor ein beeindruckendes und umfassendes Gesamtbild. Er geht aus von den Menschen und ihren Rollen. Stand und Status definieren den Rahmen der Möglichkeiten eines jeden und damit auch sein wirtschaftliches Handeln. Der Beziehung zwischen Herren und Sklaven wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wobei Finley ausdrücklich von modernen (moralischen) Bewertungen und Vorstellungen warnt, was Freiheit und Sklaverei angeht: Sklave zu sein, konnte ein sehr breites Spektrum von Lebenssituationen bedeuten, das von schonungsloser Unterdrückung bis zu selbständiger Erwerbstätigkeit reichte. Dazu kommt, dass das heute gängige Konzept der Lohnarbeit in der Antike nur in wenigen Ausnahmefällen angetroffen wird: Wer kein Sklave war, war freier Handwerker, kaum je ein Angestellter. Ähnlich differenziert ist der Grundbesitz zu betrachten: Nominell freie Bauern hatten beispielsweise in der späten römischen Republik in der Regel zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Hauptlektion des Buches ist wohl, dass Verallgemeinerungen mit Vorsicht zu formulieren sind, nicht nur der Quellenlage wegen. Man muss sich schliesslich auch immer bewusst sein, dass vieles, was in unseren Geschichts- oder Archäologiebüchern aufscheint, absolute Ausnahmefälle darstellte, so etwa die römischen Kaiserhöfe, die eine historisch kaum je mehr erreichte Konzentration von Reichtum im Vergleich zum Normalbürger darstellten. Einen methodisch wichtigen Eintrag ins Stammbuch habe ich mir allerdings gemacht; er betrifft die Kleinräumigkeit der antiken Wirtschaft. Exportproduktion war immer eine Ausnahme, die grosse Mehrzahl der wirtschaftlichen Kontakte blieben auf das Umfeld lokaler Bauernmärkte oder die Kontakte zwischen einer Stadt und ihrem unmittelbaren Umland beschränkt. Mitentscheidend dafür waren die hohen Transportkosten, sobald kein Meer oder Fluss zur Verfügung stand – oder in Finleys kongenialer Formulierung zu den hauptsächlichen Transporttieren der Antike: „Alle drei – Ochse, Maulesel, Esel – waren langsam und gefrässig“. Deshalb war ein Landtransport über 120 Kilometer teurer als ein Seetransport über die gesamte Breite des Mittelmeeres, und wer nicht in Wassernähe sass, hatte ein Problem.

Moses I. Finleys Antike Wirtschaft ist ein Buch, mit dessen einmaliger Lektüre es nicht getan ist. Es wird unabdingbar sein, zukünftigen Lesestoff mit seinen Erkenntnissen zu verknüpfen und das hochkonzentrierte Werk regelmässig beizuziehen. Dass es notwendigerweise in einen gutsortierten Handapparat zur Altertumsgeschichte und Archäologie gehört, scheint mir unbestreitbar.


Technisches: Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wittenburg. dtv wissenschaft. München, dtv 21980. ISBN 3 423 04277 X. Das Buch ist zurzeit vergriffen, deshalb sei der Hinweis auf Google Books erlaubt.

Samstag, 20. November 2010

Unter den Mauern Bolognas

Commissario Brunetti aus Venedig oder vielleicht auch Maresciallo Guarnaccia aus Florenz sind hierzulande bekannt; Sarti Antonio aus Bologna hingegen kaum. Das ist schade, denn Kommissar Sarti ist ein aufrechter Mensch ohne theatralische Macken, der seine Stadt bestens kennt und liebt, ohne sich deswegen irgendwelche Illusionen zu machen. Passend zur Feriendestination griff ich für die lange Zugfahrt zu einem der wenigen von Loriano Macchiavellis Sarti-Krimis, die auf Deutsch vorliegen: Unter den Mauern Bolognas. Macchiavelli, soviel wird bald klar, begnügt sich nicht damit, eine Geschichte zu erzählen. Er lässt seinen ausnehmend gesprächigen Erzähler nämlich nach Herzenslust mit dem Leser fachsimpeln und sogar seiner Hauptperson gelegentlich die eine oder andere Idee einflüstern. Das ist etwas prätentiös, gewiss, aber es vermittelt dem Buch jenen gesellschaftlichen und politischen Unterbau, ohne den ein Krimi nur eine simple Detektivgeschichte wäre.

Ein mysteriöser Toter, der an der Battiferro-Schleuse nördlich der Stadt angespült wird, und eine Razzia der Stadtpolizei gegen die illegalen afrikanischen Ramschverkäufer unter den Arkaden, bei der auf den zweiten Blick etwas nicht ganz stimmt, sind die beiden Ausgangspunkte der Geschichte. Dass und wie sie miteinander zu tun haben, ermittelt Sarti auf mühsame und oft unangenehme Weise: Er muss nämlich mehrfach in dunkelster Nacht in das rudimentäre, aber effiziente Netz von Flüssen und Kanälen hinuntersteigen, welches Bologna durchzieht, mittlerweile aber fast durchgehend überdeckt und mehr oder weniger vergessen ist[1]. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass die gesuchten Verbrecher auch noch für ungezählte andere Untaten verantwortlich sind, dass sie sich nicht scheuen, Menschen aus dem Fenster zu stossen und Züge in die Luft zu jagen, sowie dass sie über jeden Schritt Sartis offensichtlich informiert sind, allerdings glücklicherweise meist daneben schiessen. Etwas dick aufgetragen? Etwas sehr dick, finde ich – auch weil Macchiavelli seinen deus ex machina, Sartis Freund, den Schlaumeier Rosas, mehrfach ins Spiel bringen muss, um die Handlung vorwärtszubringen.

Eine wichtige Funktion aber erfüllen die unglaublichen Zusammenhänge: Sie vergrössern das Unbehagen, das den gesamten Krimi durchzieht. Des Erzählers (und seines Kommissars) Liebe zu Bologna ist gross, doch es ist eine desillusionierte Hassliebe zu einer Stadt, die sich als grossartig hinstellt, aber ihre Menschlichkeit längst verloren hat. Dazu passt, dass am Schluss die ausführliche Auflösung fehlt. Freilich, gewisse Leute landen hinter Gittern. Doch wer (wie ich) erwartet hatte, dass die verstreuten Andeutungen und halb ausformulierten Folgerungen nochmals aufgenommen und zusammengefügt werden, wird enttäuscht. Sarti ist ja auch vollauf mit anderem beschäftigt, nämlich mit seiner Francesca! Also hilft nur zurückzublättern und selber zu versuchen, die losen Fäden einigermassen zu verknüpfen.


Technisches: Loriano Macchiavelli, Unter den Mauern von Bologna. Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Sylvia Höfer. München, Serie Piper 2005. ISBN 978-3-492-24543-2. Das Original ist 2002 unter dem Titel „I sotterranei di Bologna“ bei Mondadori in Mailand erschienen (ISBN 978-88-04-5142-9).


[1] Nur im Norden der Altstadt, zwischen Via Oberdan und Via Piella, scheint zwischen zwei Häuserzeilen so etwas wie eine Venedig-Szene auf – falls der Kanal denn Wasser führt…

Freitag, 12. November 2010

Europarekord

Unsere Herbstferien in der Emilia Romagna geben mir den Anstoss, auf eine Falschmeldung hinzuweisen, die sich in und um Bern seit Jahren hartnäckig hält. Ihre Entstehung kann man sich problemlos vorstellen, und zwar etwa so: Jedermann weiss, dass die Lauben eines der wichtigsten und bekanntesten Charakteristika Berns sind. Über sechs Kilometer gedeckte Ladenpassagen! Das ist gewiss ziemlich einmalig! Das ist sicher fast rekordverdächtig – wenn nicht weltweit, so doch sicher in Europa, oder? Bern Tourismus formuliert noch vorsichtig, aber Schweiz Tourismus und die UNESCO-Kommission machen aus den Berner Lauben ohne zu zögern „die längste überdachte Einkaufspromenade Europas“. Und andere schreiben diesen angeblichen Europarekord unbesehen ab.

Liebe Bernerinnen, liebe Berner, liebe Bern-Fans: Ein bisschen weniger Nabelschau, ein bisschen mehr Weitsicht würden euch gelegentlich gut anstehen. Ihr müsstet nicht weiter schauen als bis nach Turin (18 km Arkaden, davon 12,5 km zusammenhängend, sprich auch über Querstrassen hinweg fortgesetzt). Oder eben bis zum fünf Bahnstunden entfernten Bologna: Entlang der rostroten Mauern seines historischen Zentrums ziehen sich 38 Kilometer meist hohe, breite und elegante Arkaden (und weitere neun Kilometer finden sich ausserhalb der Altstadt). Weltrekord – so behauptet man in Bologna. Ob das nun wirklich stimmt? Jedenfalls sollte der Mythos des Berner Europarekords damit deutlich erledigt sein.

Donnerstag, 4. November 2010

Ficus macrophylla

L’arbre von Julie Bertuc(c)elli erzählt die Geschichte einer Familie und eines Baumes. Die Familie O’Neil wohnt einfach und glücklich in der Hügellandschaft von Queensland; hinter ihrem Haus steht ein uralter, breit verzweigter Grossblättriger Feigenbaum. Der Film beginnt mit einem Fertighaus aus Holz, das von Peter O’Neil auf einem Tieflader an seinen Bestimmungsort gefahren wird. Als Peter von dem Transport zurückkehrt, erleidet er einen Herzstillstand; Verlust und Schmerz ziehen in das Haus unter dem Baum ein. Simone, die einzige Tochter und nach eigenem Empfinden des Vaters Lieblingskind, verkriecht sich stunden- und nächtelang auf die Äste des Baumes. Bald ist sie überzeugt, dass ihr Vater aus dem Baum zu ihr spricht. Die kindlich-versponnene Idee ist für Simone beruhigend und tröstlich und hilft auch ihrer Mutter Dawn wieder Tritt im Leben zu fassen. Aber der Baum ist nicht nur Trostquelle. Seine Äste bedrohen das Haus, die wild wuchernden Wurzeln die Nachbarn. Und schliesslich ist es, als ob sich an ihm Widerstrebendes und Unausgesprochenes kristallisiert, bis es kulminiert und sich brachial entlädt. Am Schluss ist wieder gleichsam ein Haus auf Reisen, eines ohne Wände und Dach freilich: Familie O’Neil verlässt ihren Baum, nur mit dem Nötigsten im Kofferraum des Autos, um anderswo neue Wurzeln zu schlagen.

L’arbre ist ein Film wie ein Fotoessay, geprägt durch lange, ruhige Einstellungen und magistral komponierte Bilder: Das Holzhaus, das von einem gigantischen Truck quer durch die Einöde gefahren wird, festlich beleuchtet auf seinem Weg durch die Nacht. Der Blick über die hügelige Ebene am Morgen und am Abend. Und immer wieder die Portraits des uralten, breit verzweigten Baumriesen, seine langen, dick wuchernden Wurzeln, seine kurvigen, fast körperhaften Äste, die Silhouette von Stamm und Zweigen im goldenen Mondlicht. Das langsame Tempo tendiert freilich dazu, das Handeln der Akteure in Richtung Klischeehaftigkeit zu reduzieren. Die grossartige Charlotte Gainsbourg jedoch verkörpert zum Greifen intensiv die abgrundtiefe Leere und verzweifelte Verlorenheit der Dawn O’Neil und dann ihr starkes Erwachen aus der Lethargie.


Technisches: L’arbre lief hier vor einigen Wochen und inzwischen in der Schweiz allenfalls noch vereinzelt. Auch als DVD oder Blu-Ray-Disc scheint der Film zurzeit nicht greifbar zu sein, weswegen mir nur der Link auf die Website bleibt.

Samstag, 30. Oktober 2010

Griechische Geschichte

Von meinem Neujahrsvorsatz, mich anhand einiger Standardwerke aus meiner Bibliothek wieder etwas tiefer in diejenige Materie einzulesen, die mir einmal die vertrauteste von allen war, bin ich auch gegen Ende Jahr immer noch überzeugt. Immerhin hat das wenige, was ich bisher in dieser Hinsicht unternommen habe, bereits zu einer ersten Stabilisierung des bedrohlich wankenden Wissensgebäudes geführt – wenigstens im Bereich der Archäologie. Als ich aber kürzlich Erich Bayers Griechische Geschichte in Grundzügen in Angriff nahm, kam als erstes der leise Verdacht auf, dass diese, obwohl ein Standardwerk, vielleicht ihr Verfalldatum schon überschritten haben könnte: Das Buch ist in erster Auflage 1964 erschienen, mein Exemplar der sechsten Auflage enthält den überarbeiteten Text von 1978, und es wird schnell klar, dass hier ein Historiograph am Werk ist, der in gelehrter, literarischer Sprache Geschichte erzählt, der sich nicht scheut, zu gewichten und auch gelegentlich zu werten. Meine Zweifel kulminierten im letzten Abschnitt der Einleitung, wo Bayer bekennt:

Um ihrer Kunst, ihrer Literatur und Philosophie willen gehört den Griechen unser Herz; ihre Geschichte dagegen empfinden wir als verwirrend und unbefriedigend.

Welche ist das denn nicht?, fragte ich mich, und blätterte nur zögernd weiter. Nach der Lektüre muss ich aber gestehen, dass ich dem Autor im Voraus Unrecht getan habe. Natürlich erzählt er mit grossem Gestus und gewichtet er (trotz gegenteiliger Ankündigung auf dem Umschlag) sehr klassisch, doch sein Einführungswerk hat einen unschätzbaren Vorteil: Es gelingt ihm von seinem magistralen Standpunkt aus, jeweils die Hauptlinien und die wesentlichen Fragestellungen zu jeder Epoche herauszuschälen. Das bedeutet immer eine einschneidende Reduktion mit dem Verzicht auf sehr vieles; gleichzeitig wird für den Übersicht Suchenden ein reduziertes, stabiles Gerüst errichtet – und das ist ja genau, was ich will. So behandelt Bayer die ägäische Bronzezeit bis in die „Dunklen Jahrhunderte“ hinein zwar sehr summarisch, streicht aber die Bedeutung der Überbevölkerung, der fehlenden Ressourcen und der dadurch ausgelösten Wanderungsbewegungen heraus. So identifiziert er für die archaische Zeit als Hauptthema die Ablösung der Adelsherrschaft durch neue Formen politischer Machtverteilung, die vielerorts in sehr verfeinerte demokratische Systeme mündeten. Gleichzeitig rückt er die Grosse Kolonisation ins Scheinwerferlicht und zeigt die Bezüge zu den politischen Umwälzungen und zu den älteren Unternehmungen gleicher Art auf. Oder, als letztes Beispiel: Die zwanzig Seiten zur hellenistischen Welt spielen fast ohne Ausnahme in Kleinasien und an der Levante, deutlicher Ausdruck des Falls in die Bedeutungslosigkeit, den das griechische Mutterland bis dahin getan hatte.

Aus der Struktur des Buches, der Gewichtung und dem Erzählduktus spricht etwas sehr Altmodisches: die Liebe des Autors zu den Akteuren seines Stoffes. Diese so deutlich zu zeigen, ist in der historischen Literatur unserer Zeit eher verpönt. Sie erinnert hier aber an den Grund, weshalb wir uns heute überhaupt noch mit dem antiken Griechenland beschäftigen: Weil eben während langer Zeit viele gelehrte Menschen nicht nur ein abstrakt-wissenschaftliches Interesse an diesem Thema hatten, sondern die alten Griechen liebten, sie als Vorbilder verstanden und ihnen nachzueifern trachteten.


Technisches: Erich Bayer, Griechische Geschichte in Grundzügen (Grundzüge, Band 1). Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 61988. Vergriffen.

Freitag, 15. Oktober 2010

Buzzword Bingo

Der Typus des Do-it-yourself-Pawlowschen-Hundes ist in der Politik nicht selten: Der identifiziert mit mehr oder weniger Aufwand einen (angeblichen) Missstand, klebt ein eingängiges Schlagwort drauf – und kann dann nach Herzenslust darauf reagieren. Wer sich jedoch in dieser praktischen Weise seine Reize gleich selber kreiert, muss aufpassen, dass ihm der Schaum vor dem Mund nicht die Perspektiven verzerrt. In seinem wöchentlichen Buzzword Bingo in der Weltwoche nahm Christoph Mörgeli neulich eine abtretende Kollegin ins Visier und schrieb: „Frau Amacker verlässt das staatlich kontrollierte Parlament und wechselt zur staatlich kontrollierten Swisscom.“ Soviel Ideologie tut mir schon fast körperlich weh. Als Selbstmedikation ein Hinweis und ein (frommer) Wunsch: Das Parlament ist nicht staatlich kontrolliert, sondern konstituierender Teil des Staates; und kontrolliert wird es vom Volk mittels Wahlen. Mögen die Zürcher Stimmberechtigten diese Kontrollfunktion in einem Jahr mit Augenmass ausüben!

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Tamara Drewe

Welch ideales Setting für eine Komödie: ein Writers’ Retreat, ein Literatengästehaus im sehr ländlichen Dorset inklusive Garten und Kleintieren, wo sich völlig ungezwungen ein ganzes Panoptikum der absonderlichen Gestalten die Ehre gibt. Ein buntes Grüppchen mehr oder minder erfolgreicher Autorinnen und Autoren zieht sich zu einer kreativen Auszeit aufs Land zurück, darunter der ewig grübelnde und unentschlossene Literaturprofessor Glen, der sein Hauptwerk über Thomas Hardy einfach nicht auf die Reihe bringt. Um all diesen im Scheitern begriffenen Existenzen kümmert sich mit scones und Kuchen liebevoll und fürsorglich die verhärmte Beth Hardiment, währenddem ihr Ehemann Nicholas als spiritus rector diesen kreativen Zufallshaufen mit grosser Geste zusammenhält. Er tut dies als erfolgreicher Autor minderwertiger Krimis, überzeugt jedoch weit mehr noch als begnadeter Herzensbrecher sowie besonders als Schauspieler, wenn er alle halblang seiner Gattin herzlich empfundene Reue vorspielen muss, weil sie ihn wieder einmal wegen einer Affäre mit einer Jungautorin aus dem Haus schmeissen will. Als zusätzliches und namensgebendes Ingredient taucht in dieser fragilen Idylle dann das ehemalige hässliche Entlein des Dorfes auf, das sich inzwischen die Nase richten liess, beruflichen Erfolg errungen hat und auch sonst eine blendende Figur macht: Gemma „Strawberry Fields“ Arterton als Tamara Drewe. Wie sie nun scheinbar unschuldig und mit endlosen Beinen ins Dorf ihrer Jugend zurückkehrt, sorgt sie für den allgemeinen Hormonschub, der um sie herum einen zünftigen Wirbelsturm auslöst. Weitere Protagonisten darin sind ihr Schulschatz, ihre neue Affäre (ein direkt dem Versandkatalog für bewusstseinserweiternde Substanzen entsprungener Rockmusiker) sowie zwei Girlies, deren Begeisterung für ebendiesen glutäugigen Drummer die Intrigen weiter verkompliziert und gleichzeitig vorwärts bringt. Da wird hemmungslos geflunkert und getäuscht, da fliegen Pfannen und Blumentöpfe, da hüpft man in verschiedenen Konstellationen und mit ganz unterschiedlichen Motiven miteinander ins Bett.

Die Vorlage für Tamara Drewe, den neusten Film von Altmeister Stephen Frears, ist die graphic novel (mehr novel als graphic, um genau zu sein) gleichen Namens von Posy Simmonds. Drehbuchautorin Moira Buffini hat der sarkastisch-tiefsinnigen Geschichte einen Dreh ins Absurd-Komische gegeben, hat zusätzlich Tempo, Witz und eine gewisse Leichtigkeit hineingebracht sowie die literarischen Anspielungen an Thomas Hardys Far from the Madding Crowd multipliziert (auf die ich wegen mangelhafter Kenntnisse der englischen Literatur hier nicht näher eingehe). Auch ist das Ende weniger blutig, aber – schliesslich ist dies eine britische Komödie – noch immer makaber genug. Irgendwann schnallt dann auch Tamara Drewe, was sie in ihrer Naivität ringsum so alles angerichtet hat. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss sie sich freilich ausgerechnet und relativ lange mit dem Hauptmiesling des Films einlassen. Ist es Rache? Ist es Arglosigkeit? Die Kollateralschäden sind gross, doch am Schluss kriegt jeder, was ihm zusteht – oder, genauer, wird sich seiner eigentlichen Wünsche und Träume (wieder) bewusst und hört auf, die falschen Ziele zu verfolgen. Sogar die gestressten Kühe beruhigen sich wieder, und so wird alles gut.


Technisches: Tamara Drewe ist ab heute in den Deutschschweizer Kinos zu sehen. Die Buchvorlage erschien auf Englisch bei Jonathan Cape (ISBN 978-0-2240-7817-7), auf Deutsch bei Reprodukt (ISBN 978-3-941099-31-9).

Freitag, 1. Oktober 2010

Schiffslektüre

In Astypalaia, einige Tage vor Ferienende, war Matutin ausgelesen – obwohl ich die kostbare Lektüre grosszügig mit Sudokus gestreckt hatte. Glücklicherweise gibt es auf dieser wunderschönen Insel unter dem Wind eine Gemischtwarenhandlung, die diesen Namen noch verdient. Vor der Käsevitrine und gleich neben dem Waschmittelregal steht da nämlich ein kleines Gestell mit einem äusserst faszinierenden Buchsortiment: nicht die übliche Kioskauswahl von Bestsellern und Kitschromanen, sondern echte Literatur, vermischt sogar mit ein paar Bänden Poesie. Das kam für mich wie gerufen und war Grund genug, endlich mal ein Werk von Nikos Kavvadias in Angriff zu nehmen: Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη (Das Tagebuch eines Steuermannes), eine Sammlung seiner frühen, verstreut erschienenen Prosa und Poesie.

Bei wenigen anderen Autoren ist die Einheit von Leben und Werk so ausgeprägt wie bei Kavvadias. Er schiffte sich gleich nach der Schule als Leichtmatrose ein, arbeitete sich hoch, befuhr dann nach dem Zweiten Weltkrieg drei Jahrzehnte lang als Funker die Weltmeere, starb kurz nach der Pensionierung, als hätte er das Festland nicht ertragen; und er schrieb über die Seefahrt, über Matrosen und Dirnen, über ferne Länder und grosse Häfen, über Fernweh und Verlorenheit. Sein (sehr übersichtliches) Werk beschreibt also sein Leben, sein Leben ist gleichsam der Kommentar zu seinem Werk. Und dies gilt von allem Anfang an, schon in seinen allerersten, in diesem Band versammelten Prosastücken.

Freilich ist es etwas speziell, von einem Autor als erstes ausgerechnet das Früh-, ja Jugendwerk zu lesen. Spannend ist es, die Entwicklung nachzuvollziehen. Kavvadias’ erste Gedichte sind noch reichlich ungelenk, Teenagerlyrik gewissermassen, aber bald werden sie formal stringenter und inhaltlich komplexer – so das dichte, düstere Kasbah über eine rätselhafte arabische Prostituierte. Die kurzen, novellenhaften Stücke ihrerseits umkreisen von allen Seiten des Dichters Lebensthema, evozieren Angst und Einsamkeit in den Weiten des Pazifik, schildern mit sehnsüchtiger Faszination mythische Städte und Inseln und spinnen unverhohlen Seemannsgarn. Die kurze, teils fragmentarische Form lässt allerdings nicht mehr als ein skizzenhaftes Andeuten zu, was gelegentlich etwas klischeehaft oder prätentiös wirkt. Bei der Einordnung dieser Lektüre helfen würden wohl Kavvadias spätere Schriften, und es wäre jetzt sicher mit Gewinn sein Hauptwerk in Angriff zu nehmen, die Novelle Βάρδια (Die Wache). Auf der nächsten Fähre, vielleicht.


Technisches: Νίκος Καββαδίας, Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη. Αθησαύριστα πεζογραφήματα και ποιήματα. Athen, Agra 32009. ISBN 978-960-325-609-0. Auf Deutsch ist von Kavvadias bisher nur (anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2001) „Die Wache“ erschienen (Berlin, Alexander Fest 2001, ISBN 3-8286-0168-5 – zurzeit offenbar leider vergriffen).

Samstag, 25. September 2010

Das Fell der Trommel

Wer plant, etliche Stunden an Bord von Fähren sowie an einsamen Stränden zu verbringen, rüstet sich besser mit ausreichend Ferienlektüre aus. Meine Wahl fiel diesen Sommer auf Matutin von Arturo Pérez-Reverte, das dickste Buch auf dem Stapel der Leihgaben meiner Freundin L., und ich habe die Lektüre sehr genossen. Eine Warnung sei einleitend jedoch angebracht: Wie es der Titel andeutet, ist dies gewissermassen ein katholischer Krimi, und wer die religiösen, aber vor allem politischen Ränkespiele innerhalb der römischen Kurie irrelevant oder uninteressant findet, den wird Matutin passagenweise arg langweilen. Denn das Buch bezieht seine Spannung zu einem grossen Teil aus dem Zusammenprall ebendieser Intrigen mit der Realität der Gläubigen draussen in der Welt. Sein Held Lorenzo Quart ist Priester und Agent des päpstlichen Geheimdienstes, einer Institution, für die „christlich“ ein äusserst unpassendes Adjektiv ist. Er wird nach Sevilla geschickt, um eine beunruhigend-kuriose Geschichte aufzuklären: Mitten in der Stadt soll eine zerfallende Kirche abgerissen werden, die von einem alten Pfarrer und einer kleinen Schar treuer Gläubigen verteidigt wird – und sich offenbar durchaus auch selber zu wehren weiss; jedenfalls sind in letzter Zeit gleich zwei Menschen auf etwas verdächtige Weise in der Kirche zu Tode gekommen. Die Geschichte ist dem Heiligen Vater höchstpersönlich zu Ohren gebracht worden, via Nachricht eines Hackers (Deckname Matutin) in seinem Privatcomputer, und deshalb soll nun der beste Mann des Vatikans sich vor Ort umsehen.

Das tönt alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, ich weiss, und ist es auch: Die Suche nach dem Hacker, die dem Buch Titel und Plot gibt, erweist sich letztlich als nebensächlich. Dies ist kein Whodunit. Es ist vielmehr (auf der grossen, duftigen Bühne von Sevilla) ein fein orchestriertes Ballett einer ziemlich bunten Truppe. Die alte Kirche von Nuestra Señora de las Lagrimas verbindet sie alle: diejenigen, die sie abreissen wollen – den hinterfotzigen Erzbischof und einen unappetitlichen Emporkömmling von Banker samt Faktotum –, und diejenigen, die sie bewahren und umsorgen: den rebellischen Padre Ferro und seine Mitstreiter, zu denen neben Vikar und Restauratorin auch Macarena Bruner, die Nicht-mehr-wirklich-Ehefrau des Bankers gehört. Und da man sich in einem historischen Ambiente bewegt, treten zu diesen Protagonisten in einer Parallelhandlung auch zwei unglücklich Liebende aus ferner Vergangenheit. Pérez-Reverte folgt Lorenzo Quart durch die Strassen und Paläste von Sevilla, konfrontiert ihn mit diesen Akteuren, sieht ihn da und dort einen Faden des Verständnisses erhaschen und vergeblich zu verknüpfen suchen, lässt ihn langsam das Vertrauen gewisser Personen und die Feindschaft von anderen finden. Letztlich wird nichts aus der wissenschaftlich korrekten und bürokratisch distanzierten Aufklärung: Der bei Bedarf skrupellose Priester, der seine Masshemden mit Priesterkragen trägt wie ein Ritter seine Rüstung, verwickelt sich selber mit Kopf und Herz in den Fall, den er untersuchen sollte; und das Schicksal der alten Kirche wird zu seinem eigenen.

Das alles entfaltet Pérez-Reverte fein und dennoch farbig, mit grosser Lust am Erzählen. Zu bunt ist ihm einzig das Möchtegern-Ganoventrio geraten, das im Auftrag des Sekretärs des Bankers in die Geschichte eingreifen soll und wie eine wandelnde Anhäufung von Klischees daherpromeniert. Wie er aber die Diskussion über die Rolle der Kirche in der Welt und die Auseinandersetzung mit den quälenden Schatten der Vergangenheit von Padre Ferro, Lorenz Quart und Macarena Bruner zusammenbringt, ist von einer weisen Intensität.


Technisches: Arturo Pérez-Reverte, Jagd auf Matutin. Roman. Aus dem Spanischen von Claudia Schmitt. München, btb 2007. ISBN 978-3-442-73721-5. Das Original ist 1995 unter dem (viel passenderen) Titel „La piel del tambor“ in Madrid bei Alfaguara erschienen (ISBN 978-84-204-7206-5).

Dienstag, 21. September 2010

Zum Davonlaufen

Die Weltwoche hat zum zweiten Mal ein Ranking aller Schweizer Gemeinden erstellt (Artikel online nicht frei zugänglich). Siegerin, wie schon letztes Jahr: Feusisberg im Kanton Schwyz. In der kurzen Charakterisierung der besten Gemeinde der Schweiz lesen wir unter anderem:

Immer mehr Einheimische ziehen weg aus der Idylle. Mit ihnen der Nachwuchs. Bereits überlegt man sich aufgrund des Kindermangels Mehrjahrgangsklassen in der Grundschule einzuführen. Was die Elternschaft wenig freut. Schuld daran ist die Tiefsteuerpolitik der Gemeinde.

Es ist der Weltwoche hoch anzurechnen, dass sie das Problem der fortschreitenden „Zugisierung“ immerhin thematisiert und mögliche Gegenmassnahmen diskutiert. Glaubwürdiger wären diese Diskussionen jedoch, wenn sie irgendeinen Einfluss aufs Ranking hätten. Dem gesunden Menschenverstand jedenfalls leuchtet nicht ein, dass eine Gemeinde, der die Leute davonlaufen, die Nummer eins sein kann.

Sonntag, 19. September 2010

Der Herr Karl

Wien, im Keller eines Feinkostgeschäftes, Ende der Fünfziger Jahre. Der Protagonist kommt mit einem Harass Sprudel die Treppe heruntergeächzt: Der Herr Karl, etwa so alt wie das Jahrhundert, Ausbund speckgewordener Selbstgerechtigkeit. Mit der Adaptation des klassischen Monologs von Helmut Qualtinger eröffnet das Theater an der Effingerstrasse die Saison 2010/11. Regie führt Stefan Suske, und auf der Bühne führt Uwe Schönbeck während eineinhalb Stunden das grosse Wort. Er erzählt dem jungen Kollegen im Nebenraum gönnerhaft-jovial sein Leben, und wie er seine immense Erfahrung, sein sicheres Gespür und seine stetigen beruflichen und privaten Erfolge vor ihm ausbreitet, wird schnell klar: Gross ist an diesem Schleimer nur das Maul.

Einzigartig ist, wie messerscharf Qualtinger seinen Anti-Helden sich selber entlarven lässt. Er lässt ihn einfach reden, lässt ihn sich hineinsteigern, von sich selbst schwärmen, in einer Mischung zwischen Stolz und Zufriedenheit auf sein Leben zurücksehen, nur gelegentlich mit fliegenden Hamsterbäckchen Schmerz und Erschütterung markierend – und sich so bis auf die Knochen entblössen. Zum Vorschein kommt ein Möchtegern-Frauenheld, ein Vorstadt-Don-Juan, der keiner Frau auch nur ein Bruchteil von dem durchgehen liess, was er für sich selber in Anspruch nahm. Zum Vorschein kommt ein bedenkenloser Opportunist, der sich in fliegender Folge mit den Sozialisten, den Nazis, den Russen und dann den Amerikanern nicht nur arrangiert, sondern sich allen geradewegs angedient hat – genau wie er auch jetzt gegenüber der Chefin im oberen Stock freundlichst und geübt buckelt, nur um im Schutz seines Kellers umgehend nach Herzenlust über sie zu schnöden. Zum Vorschein kommt schliesslich eine kleinbürgerliche Seele, ein Drückeberger, der ob all seinem Beteuern, wie Grossartiges er geleistet habe, in der Dauer des Stückes gerade mal sechs Flaschen in die Regale räumt (und sich im Gegenzug die halbe Cognacreserve hinter die Binde schüttet). Die Pointen fallen in dichter Folge Schlag auf Schlag, sind dabei immer fein und oft nur angedeutet, manchmal aber wieder so erschreckend, dass einem die Spucke wegbleibt.

Als Der Herr Karl 1961 erstmals im ORF ausgestrahlt wurde, war der Aufschrei gross. Offenbar hatten einige etwas von sich selbst in dem Typen wieder erkannt, der mit einer Mischung von Gönnerhaftigkeit und Bestürztheit verdecken wollte, dass er sich Zeit seines Lebens durchgemogelt und sein Mäntelchen in jeden Wind gehängt hatte, egal ob dieser von links oder von rechts blies. Doch dieser Typus ist natürlich nicht an eine bestimmte Epoche gebunden, sondern so zeitlos wie alle menschlichen Schwächen und Macken. Der Dekor der späten Fünfziger Jahre legt zwar eine leichte Patina auf die Geschichte, aber Uwe Schönbeck wischt diese sogleich wieder weg. Er spielt seinen Herrn Karl souverän, lässt ihn charmieren, um Verständnis werben, munter seine eigenen Regeln aufstellen und beinahe platzen vor Selbstzufriedenheit und Ichbezogenheit.


Technisches: Der Herr Karl steht an der Effingerstrasse noch bis am 27. September 2010 auf dem Programm. Zum Weiterlesen verweise ich auf die Berichte von Bund, Berner Zeitung und von Fritz Vollenweider beim Seniorweb. Das Original, gespielt von Helmut Qualtinger, findet sich auf Youtube.

Freitag, 10. September 2010

Spartacus

Spartacus ist heutzutage einer der bekanntesten antiken Namen – dank Hollywood, verschiedenen revolutionären Vereinigungen und zuletzt einem Radprofi. Dass diese Bekanntheit nicht unverdient ist, zeigt Catherine Salles’ Monografie 73 av. J.-C., Spartacus et la révolte des gladiateurs, ein kluges, präzises Buch, das völlig frei ist von der sonst so künstlich schwerfälligen französischen Gelehrtensprache. Salles zeichnet an Hand der wenigen, entfernten Quellen das Leben und Wirken des berühmtesten antiken Sklavenrevolutionärs nach. Geboren um 100 v. Chr. in Thrakien, von den Römern zum Kriegsdienst verpflichtet, desertiert, gefangen genommen und in Rom als Sklave verkauft, gelangte er in die Gladiatorenschule des Lentulus Battiatus im kampanischen Capua. Dort gelang es ihm, angeblich unter Mithilfe seiner Gefährtin, einer in Mysterienkulten bewanderten Priesterin, seine Schicksalsgenossen zum Widerstand zu vereinen und aus der Schule auszubrechen. Schnell wuchs das kleine Grüppchen von 70 Gladiatoren durch den Zufluss von Sklaven und armen Landarbeitern auf eine Freibeuterschar von zehntausend Männern an, die, von den durchtrainierten Berufskämpfern angeführt und eingewiesen, die Vesuvgegend mit Raubzügen heimsuchten. Auf Widerstand trafen sie zunächst kaum: Die Ordnungskräfte wollten sich nicht richtig in einem unwürdigen Kampf gegen den (in ihren Augen) Abschaum der Gesellschaft engagieren, und die unzureichenden Polizeieinheiten, die ihr entgegengeschickt wurden, vermochte die bereits zu grosse Sklavenschar problemlos zu dominieren. Sie wuchs im Gegenteil zu einer regelrechten Armee von siebzigtausend Soldaten an, gut bewaffnet, richtig organisiert und straff geführt. Unklar ist ihr eigentliches Ziel: Wollten die Sklaven zurück in ihre Heimat? Wollten sie sich in einem eigenen Staat dauerhaft einrichten? Wollten sie ihre Bewegung in anderen Regionen Italiens noch weiter stärken? Jedenfalls zog ein Teil des Heeres gegen Süden, der grössere Teil mit Spartacus an der Spitze nach Norden, schlug mehrmals die römischen Legionen, die sich ihm entgegenstellten, wandte sich jedoch nicht gegen Rom, sondern kehrte nach Süditalien zurück, wo sich Spartacus vergeblich in Thurium, am Golf von Tarent, einzurichten versuchte. Nach über einem Jahr, in dem er die römischen Truppen praktisch nach Belieben vorgeführt hatte, erwuchs ihm in der Person des schwerreichen, ehrgeizigen und skrupellosen Crassus endlich ein übermächtiger Gegner. Auch er wurde zwar noch mehrmals ausgespielt, setzte jedoch schliesslich dem Aufstand (und seinem Anführer) ein blutiges Ende.

Im Lauf seiner zweijährigen Revolte erwies sich Spartacus ganz offensichtlich als charismatische Persönlichkeit, fähiger Heerführer und geschickter Taktiker. Was ihn darüber hinaus so interessant macht, sind die Parallelen zwischen seiner und den verschiedenen anderen Sklavenrevolten im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. Wesentliche Elemente begegnen dabei immer wieder: Die wichtige Rolle eines mitreissenden, oft mit den Göttern in besonderer Verbindung stehenden Anführers, die Verbündung der Rebellen mit anderen Benachteiligten ihrer Zeit wie beispielsweise der armen Landbevölkerung sowie die anfängliche Unterschätzung durch die Obrigkeit, die sich nicht so richtig durchzuringen vermag, gegen die angeblichen Untermenschen ernsthaft, das heisst mit genügend schlagkräftigen Truppen, vorzugehen. So erreichten einzelne Revolten von Sklaven eine erstaunliche Dauer und Beständigkeit; in Sizilien errichtete der Syrer Eunous in den Jahren 139 bis 132 v. Chr. sogar ein eigentliches Königreich, in welchem die Sklaven jahrelang unbehelligt lebten. Verbindende Konstante war aber auch jedes Mal die Ausweglosigkeit des Aufstandes, der – sobald Rom sich einmal ernsthaft zu dessen Bekämpfung entschlossen hatte – brutal und umfassend niedergeschlagen wurde. Von besonderer, beispielhafter Grausamkeit ist die Triumph- und Strafmassnahme des Crassus, der 6000 der Gefährten des Spartacus entlang der 195 Kilometer der Via Appia von Capua bis Rom ans Kreuz schlagen liess.

Catherine Salles begreift und beschreibt diese Serie von Aufständen als charakteristische Konsequenz des Sklavenwesens gegen Ende der römischen Republik. Oder genauer: als Konsequenz des sich zuspitzenden Verhältnisses von Herren und Sklaven. In den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten vergrösserte sich die Zahl derer massiv, die als Kriegsgefangene oder als Piratenbeute in die Sklaverei geraten waren. Das Überangebot an Sklaven verleitete dazu, diese in grossem Umfang und fast ohne Rücksicht auf Verluste einzusetzen. Und diese harten Lebensbedingungen mussten besonders denen unerträglich erscheinen, die frei geboren und erst durch Gefangenschaft zu Sklaven geworden waren. Die Häufigkeit und die Intensität der Sklavenrevolten liessen dann nach, als die beiden Quellen der Eroberungskriege und der Piraterie versiegten, als der Anteil der bereits in Gefangenschaft geborenen Sklaven wieder stieg und als gleichzeitig die Brutalität der Herren gegenüber ihrem „sprechenden Besitz“ zurückging.

Schliesslich kann der Aufstand des Spartacus auch gleichsam als Scheinwerfer auf die Krisensituation der ausgehenden Republik gelesen werden. Das Thema verdiente eine umfassendere Beschäftigung (und die entsprechende Literatur liegt hier auch schon bereit). Salles liefert jedoch bereits eine präzise, einleuchtende Analyse eines von seinen eigenen Erfolgen überrumpelten Stadtstaates, der innert wenigen Generationen zum Weltreich geworden ist, aber immer noch von den gleichen Institutionen geführt, von den gleichen wenigen Adelsfamilien regiert wird. Vielfach erschreckend unfähig, im Glanz ihrer Familiengeschichte erstarrt, von den durch Handel reich gewordenen, aber politisch wenig einflussreichen Rittern bedrängt, rieb sich diese Aristokratie in Fraktionskämpfen und Bürgerkriegen auf. Ihr Niedergang war der Niedergang der römischen Republik, und es erscheint nur folgerichtig, dass im ganzen ersten vorchristlichen Jahrhundert einige „starke Männer“ die Geschicke Roms dominierten – eine Entwicklung, die schliesslich in den Augusteischen Prinzipat, das Kaisertum, mündete. Die eigentlichen Opfer dieses durchgeschüttelten Jahrhunderts, die brutalisierten Sklaven und die verarmten Kleinbauern, bleiben grossmehrheitlich namenlos. Die Sklavenrevolte des Spartacus rückt sie kurz, aber jäh, ins helle Bühnenlicht der Geschichte.


Technisches: Catherine Salles, 73 av. J.-C., Spartacus et la révolte des gladiateurs. Bruxelles, Editions Complexe 1990/2005. ISBN 2-8048-0053-9. (Ich hätte hier gerne einen Link zum Buch gesetzt, aber die Website der Editions Complexe ist dermassen schräg, dass ich es unterlassen muss. Oder hat schon mal jemand inmitten einer Katalogsuchmaske einen Link auf „cheap dell laptop batteries online“ gesehen? Tja, der Niedergang des gedruckten Buches scheint unaufhaltsam…)

Freitag, 3. September 2010

Tanz um Säulen

Ich wills ja nicht übertreiben mit dem Lob der Kleinstadt, aber ein kultureller Kurzausflug vor der Sommerpause muss hier doch noch erwähnt werden. Er führte uns nach Neuenburg, in diese liebliche, mit Freiburg in einigem vergleichbare Stadt. Anlass war das Festival neuchâtel scène ouverte, das freie Tanzfestival, das seit inzwischen sieben Jahren die ockergelbe Bühne der Neuenburger Plätze und Gemäuer bespielt – und dies volle zwei Wochen lang. Auf dem Weg zum Hôtel de Ville hörten wir zunächst allerdings Gesang: Gleichentags fand ein Chortreffen statt, in welches das städtische Samstagmorgenpublikum grosszügig und selbstverständlich einbezogen wurde. Man wird verstehen, dass ich eine Stadt glücklich schätze, die mitten im Sommer ein solch verschwenderisches Angebot öffentlicher Kultur aufzuweisen hat! Doch nun zum Tanz: Gekommen waren wir wegen Attention à la marche der Compagnie pas perdus. Ihr Theatersaal war die Eingangshalle des Rathauses, ein grosser, T-förmiger Raum, dem zwei massive Säulenreihen die nötige republikanische Gravität verleihen. Zwischen den Säulen und in den Nischen wandelte oder ruhte bereits das gute Dutzend Tänzerinnen und Tänzer. Wir richteten uns ebenfalls möglichst diskret ein und sahen zu, wie sich die einleitenden, aufwärmenden Bewegungen langsam zu einem Anfang verdichteten. Markiert wurde dieser – und mit ihm das ganze Stück – durch die Musik. Eine verwirrende Vielfalt von Instrumenten lagen bereit, die alle aussahen, als wären sie direkt einem unbekannten, dunklen Kult entnommen. Ein schamanenhafter Multiinstrumentalist erweckte sie zum Leben, erzeugte Rhythmus und Geräusche, schrille, pochende, durchdringende, und trieb die Tänzerinnen und Tänzer durch den Raum, aufeinander zu und voneinander weg, in abgelegene Ecken und dann wieder mitten durchs Publikum. Die Säulen versperrten die Sicht, die Mitzuschauenden erschwerten die Bewegung: So sah wohl jeder der Anwesenden ein anderes Stück, eine individuelle Kombination aus Bewegungsfetzen und Musik von allen Seiten, aber auch aus dem Rhythmus der nackten Füsse auf dem Steinboden, dem heftigen Atmen eines Tänzers und der Zugluft einer vorbeieilenden Tänzerin. Ich liess mich von meiner Intuition durch den Raum bewegen, war immer auf der Suche nach dem Herzen des Geschehens und fand öfter intensive Details, die ich gar nicht gesucht hatte. Kurz: Attention à la marche war ein fesselndes theatrales Gesamtkunstwerk, das vom erfreulich zahlreichen Publikum mit herzlichem Applaus bedacht wurde.

Und um auf die Eloge auf Neuchâtel zurückzukommen: Abgerundet wurde der sommerliche Theatertrip mit einem Cidre in der Brasserie Le Cardinal, einem Sandwich am See und einem erfrischenden Bad in demselben; und an Körper und Geist gleichermassen gestärkt und erholt schlugen wir den Heimweg ein.

Freitag, 27. August 2010

L'âge de raison

Welch schöne Geschichte: Zu ihrem 40. Geburtstag erhält eine businesswoman einen Brief, ja eine ganze Serie von Briefen und Paketen – von sich selbst. Als sie sieben Jahre alt war, hatte sie die bedeutungsvolle Geburtstagspost geschrieben und dem Notar des Dorfes anvertraut, der sie nun pflichtbewusst und termingerecht ihrem erwachsenen Selbst überbringt. Dieses reagiert zunächst gelangweilt, dann unwirsch, dann richtig genervt, kann sich aber schliesslich der Magie der kindlichen Worte und Schätze nicht entziehen und lässt sich nach und nach auf ein Wiedersehen mit ihren eigenen, längst vergessenen Gedanken, Wünschen, Sorgen und Schulden ein.

Soweit die Fabel von L’âge de raison, des neuen Filmes mit Sophie Marceau. Doch die schöne Idee ist das eine, ihre filmische Umsetzung das andere – und da wird ihr in einem Wust von Klischees und Vorhersehbarem jegliches Leben, alle Spritzigkeit ausgesaugt, bis sie in einem ziemlich konventionellen, blutleeren Film endet. Das beginnt mit der Hauptperson, der Karrieristin Marguerite/Margaret, die wie ihr Vorname zwischen Französisch und Englisch changiert, in Limousine und Flieger von Glaspalast zu Luxushotel hetzt, nach oben Décolleté zeigt und nach unten Stilettos. Da ist als grösstmöglicher Kontrast das Dorf ihrer Kindheit, in dem zwischen ockerfarbigen Mauern die Zeit stillgestanden ist, wo die Alten auf dem staubigen Platz vor der mairie Pétanque spielen und der Notar den nächsten Wurf für wichtiger hält als sein klingelndes Handy. Da sind all die anderen Versatzstücke ihrer Reise zu sich selbst wie die Wiederbegegnung mit dem Schulschatz oder die Konfrontation mit dem in der Sozialsiedlung hängengebliebenen Bruder. Und auch das Ziel dieser Reise ist (von einer neckischen Anspielung an die überbordende Fantasie der Siebenjährigen abgesehen) schlichtweg unglaublich konventionell.

Schade – hier wurde die Chance vertan, mit einem etwas sorgfältigeren Drehbuch aus einer schönen Idee einen schönen Film zu machen. Was möglich gewesen wäre, deuten Ausstatter und Titeldesigner an: Die Fotos, Texte, Schnipsel und Kostbarkeiten der Kinderwelt, die Margaret und uns aus den Umschlägen und Paketen von Marguerite entgegenfallen, sprühen vor kindlicher Kreativität und noch durch kein Räsonnieren begrenzter Fantasie. Fast bin ich in meinem Kinosessel ein wenig wehmütig geworden, dass ich als Kind diese hervorragende Idee nicht hatte und deshalb selber nie einen solchen Brief erhalten werde.


Technisches: L’âge de raison ist vor kurzem in den Westschweizer Kinos angelaufen; ob der Film auch den Röstigraben überwinden wird, ist wie immer unsicher. In Ermangelung einer wirklich guten Film-Website verlinke ich auf den (überraschend überzeugenden) Trailer.

Freitag, 20. August 2010

Enjoy Poverty

Medienorientierung nach einer Geber-Konferenz in der Demokratischen Republik Kongo: Die internationale Gemeinschaft hat 1,8 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern gesprochen. Der in Kinshasa wohnhafte holländische Künstler Renzo Martens will vom Weltbank-Vertreter wissen, welchen Prozentsatz der Wirtschaftsleistung des Landes diese Summe repräsentiert. Es ist mehr, als die jährlichen Ausfuhrerlöse für Palmöl, Kaffee, Kakao und das Metall Coltan zusammen.

Das ist eine Schlüsselszene in Martens’ Dokumentarfilm Episode III: Enjoy Poverty. Aus ihr heraus entwickelt er die These, dass des Kongos lukrativstes Exportgut weder Bodenschätze noch Landwirtschaftsprodukte sind, sondern Armut und Elend. Die arme Landbevölkerung, so der Künstler weiter, täte folglich gut daran, diese Ressource auszuschöpfen – zumal gegenwärtig vor allem das Ausland davon profitiert: Entwicklungshilfegelder, so erfahren wir, fliessen zum grössten Teil in das Land zurück, aus dem sie stammen; und mit den Bildern von Kriegstoten und unterernährten Kindern machen europäische Reporter Kasse, nicht die Akteure, die Kongolesen selber. Also gabelt Martens in einem Dorf drei junge Männer auf, die einen Fotoladen betreiben und mit Fest- und Hochzeitsfotos ein paar Cent dazuverdienen. Er rechnet ihnen vor, wie viel ihre ausländischen Kollegen für ein einziges Leidensfoto bekommen, und überzeugt sie, sich in der Krankenstation umzusehen. Nach ersten Versuchen klopfen sie im Spital von Médecins sans frontières an, wo sie ein süffisant-herrischer Arzt ohne viel Federlesens rausschmeisst: Er müsse seine Kranken beschützen – was nicht auszuschliessen scheint, dass ihre Fotos in der Medienarbeit von MSF verwendet werden. Am Ende des Films wird Martens’ Presseausweis widerrufen.

Diese zentrale Episode ist eingebettet in lange Szenen, in denen der Künstler schwitzend durchs Land stapft und in seine Handkamera spricht, in denen er mit den Leuten in den Dörfern und auf den Palmölplantagen ins Gespräch kommt, in denen aber auch mit quälender Indiskretion sterbende Kinder und Soldatenleichen gezeigt werden. Teilweise war der Film kaum auszuhalten. Gleichzeitig gelang es ihm, Mechanismen von verfehlter Hilfe, den festgefahrenen westlichen Blick auf Afrika, das Geschäft mit dem Elend schonungslos offenzulegen. Mit wenigen „dummen“ Fragen, mit absurden künstlerischen Interventionen, aber auch mit brutaler Offenheit gegenüber seinen Gesprächspartnern zeigte Martens überdeutlich die Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit der Situation im Kongo auf, aber auch, wie einzelne davon zu profitieren verstehen und wie sie dies ihrem Gewissen gegenüber schönzureden versuchen. Ein enthüllender, lehr- und erkenntnisreicher Film also. Aber um diese Deutlichkeit zu erreichen, verhielt sich Martens wie ein Kotzbrocken. Unangenehm berührend war schon sein unbewegtes Draufhalten auf sterbende Kinder und ihre Angehörigen; in höchstem Masse zynisch sein Abschied von einem Plantagenarbeiter, dem er ein gutes Essen für seine Familie spendierte und gleichzeitig regungslos ins Gesicht sagte, dass er auch in zehn Jahren noch auf dem Boden schlafen und hungern würde. Richtig aufgeregt hat uns aber die Geschichte mit den jungen Fotografen: Martens weiss genau, dass die neu gefundenen Kollegen nicht die geringste Chance haben, mit ihren Elendsbildern Geld zu machen. Er weckt in ihnen also falsche Hoffnungen, um sie für seine Argumentation, für sein eigenes künstlerisches Werk und damit seinen eigenen Profit benützen zu können.

So standen wir nach der Vorführung am diesjährigen Belluard-Festival ratlos und ziemlich verärgert vor der Frage, was das sollte. Oder vielmehr vor dem alten ethischen Dilemma, ob es erlaubt sei, den einen zu schaden, um dafür vielen anderen zu helfen – konkret: ob die pointiert umgesetzte Aussage des Films und seine eventuelle Breitenwirkung die Verarschung [Entschuldigung] seiner Akteure rechtfertigt. Mit Blick auf das überschaubare (und gewiss ohnehin schon sensibilisierte) Publikum, aber besonders auf Martens’ Selbstverliebtheit neige ich dazu, diese Frage im vorliegenden Fall zu verneinen. Der Regisseur hätte nicht so brutal zu überzeichnen gebraucht, um seine Botschaft deutlich zu machen. Es bleibt das schale Gefühl, dass er sich auf Kosten von Menschen, denen es ohnehin schon dreckig geht, mit grossem Gestus in Szene gesetzt hat. Dass er das ganze Dilemma der weltweiten Ungerechtigkeit, ihrer Profiteure und Opfer sowie der Entwicklungshilfe in selten gesehener Deutlichkeit auf den Punkt gebracht hat, kann ich ihm allerdings nicht absprechen.


Technisches: Wann und wo der Film in absehbarer Zeit erneut zu sehen ist, weiss ich nicht – vielleicht hilft Renzo Martens’ Facebook-Profil weiter. Konziser und schärfer als ich kritisiert Dan Fox den Film im Frieze Magazine.

Donnerstag, 12. August 2010

Verblassende Bilder, hartnäckige Erinnerungen

Der Sommer fordert seinen Tribut, der Blog hat tüchtig Staub angesetzt. Ich gelobe Besserung und beginne mit einer Rückblende um sechs Wochen, weit vor die Ferien zurück, ans Belluard Bollwerk International. Welche Wundertüte dieses Festival ist, wurde mir schon bei meinem allerersten Besuch vor Jahren bewusst, als ich zwei nackten Männern eine Stunde lang beim unkoordinierten Staksen über die Bühne zusah. Neben solchen und ähnlichen Meilensteinen der aktuellen Avantgardekunst sind am Belluard aber auch zugänglichere Performances zu erleben und häufig unerwartete, berührende Höhepunkte – ich erinnere mich besonders gerne an La grande guerre vor drei Jahren. Eine solche Kostbarkeit hat mich auch dieses Jahr in ihren Bann gezogen: die Lesung/Performance Aïda sauve-moi des libanesischen Künstlerduos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Kristallisationskeim dieses dichten Abends war ein fast surrealer Vorgang wenige Tage vor der Premiere ihres Films A perfect day in Beirut. Der Film befasst sich mit einem Thema, das im Kern des künstlerischen Schaffens von Hadjithomas und Joreige liegt: mit den Folgen und der Bewältigung des libanesischen Bürgerkriegs. 17'000 Menschen sind seit Jahren verschwunden, ohne Nachricht, ohne Spuren, ohne dass auch nur ihre Gebeine gefunden worden wären. Die Witwe und der Sohn eines solchen Verschwundenen stehen im Zentrum des Films, der ihren Versuch zeigt, nach fünfzehn Jahren den Verlust des Ehemannes und Vaters zu akzeptieren. Für die Vermisstenmeldung in der für den Film nachgedruckten Zeitung von 1990 trieb die Requisiteurin das Porträtfoto des verstorbenen Ehemannes einer Tante auf, welche mit dieser Verwendung einverstanden war. Was die Filmemacher nicht wussten: Die beiden waren geschieden, der Mann hatte wieder geheiratet – und seine zweite Ehefrau Aïda glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ihr in der Vorpremiere von A perfect day ihr Mann als Verschwundener aus der Zeitung entgegenblickte, als wollte er ihr sagen: „Hol mich da raus!“ Sie kontaktierte die Produzentin, konfrontierte sie mit ihrem Schock und verlangte ultimativ, dass das Bild aus dem Film entfernt werde.

Der Umgang mit dieser Forderung war vordergründig der Inhalt der Lesung/Performance. Am Holzpültchen sitzend, vor sich sein MacBook, hinter sich die Leinwand, erzählte Khalil Joreige aber viel mehr als das. Mit dem Auge des Künstlers, der in der Wirklichkeit die Fiktion erkennt und in der Fiktion die Wirklichkeit, sah er in dieser eigenartigen Episode gleichsam im Konzentrat das Dilemma, die Nöte, die Ängste und Hoffnungen des kriegsgeschüttelten Libanon abgebildet oder zumindest angetönt. Und weil all dies eben das Lebensthema von Hadjithomas/Joreige ist, legte sich unter das Netz von Assoziationen und Verweisen, das sich in der Zeitgeschichte spinnen lässt, ein zweites Netz, nämlich eine Zusammenfassung ihres Schaffens. Da ist ihr Film Ashes, für den sie unter den Statisten jemanden suchten, der einen Toten in einem Sarg spielen würde. Die teils verlegenen, teils gewundenen Entschuldigungen der sichtlich unangenehm berührten Leichen-Kandidatinnen und -Kandidaten haben die Künstler in einem Kurzfilm dokumentiert, der von der diffusen Angst vor dem Heraufbeschwören von Unglück handelt. Da sind die Fotoserien der Märtyrerbilder, jener Poster von Toten des Krieges, die alle Strassen dekorieren, und deren allmähliches Verblassen als Kommentar zu Gedenken und Vergessen gelesen wird. Da ist schliesslich der Moment, in welchem Khalil Joreiges persönliche Geschichte sich am deutlichsten mit der tragischen Geschichte seines Landes verstrickt. Sein Onkel gehört nämlich zu jenen ungezählten Verschwundenen. Jahre später, beim Räumen seines Hauses, wird ein belichteter, aber nicht entwickelter Super-8-Film gefunden: eine leise, unwahrscheinliche Hoffnung auf einen letzten Blick in das Leben des Verschwundenen. Joreige lässt die paar Minuten Film sorgsam entwickeln und zeigt sie integral: eine weisse Leinwand, nur flackernde Schemen, die sich gegen Schluss kaum wahrnehmbar zu Figuren, zu Menschen verdichten. In die Gewissheit, alles versucht zu haben, mischt sich die Enttäuschung über die verlorenen Bilder aus des Onkels letzten Lebenstagen.

Der Schock und die penetrante Forderung von Aïda bildeten den roten Faden des Abends, und die zunächst nur kuriose Geschichte wurde sogar noch kriminalistisch aufgeladen. Obwohl Hadjithomas, Joreige und ihr Team von der unerwartet aufgetauchten Witwe gehörig gestresst wurden (und obwohl dem Publikum ob der Absurdität der Episode gelegentlich nur ungläubiges Lachen blieb), verzichteten sie darauf, sich über die Ärmste lustig zu machen. Vielmehr wurde deutlich, dass in einem gebeutelten Land wie dem Libanon solche Reaktionen allen verständlich sind. Dass Aïda, Joana Hadjithomas und Khalil Joreige schliesslich rechtzeitig eine Lösung fanden, die allen gerecht wurde, lässt sich auch als verhaltener Ausdruck der Hoffnung lesen, dass eine Heilung der vielen offenen Wunden möglich ist.

Montag, 12. Juli 2010

Make this moment sweet again

Ich wiederhole mich, ich weiss – aber ich wiederhole mich gerne: Der Festivalsommer ist etwas vom Faszinierendsten in Fribourg, und er trägt (zusammen mit der Uni und der Zweisprachigkeit) entscheidend dazu bei, dass sich diese Kleinstadt so viel grösser und weiter anfühlt. Zur Dreifaltigkeit BelluardJazzParadeRencontres Folkloriques gesellt sich alle zwei Jahre das Festival für geistliche Musik, und die vielen Quartierfeste führen ohnehin dazu, dass da und dort regelmässig Biertische und vietnamesische Essensstände auf den Strassen stehen. Und so geschieht beispielsweise folgendes: In einer Viertelstunde zu Fuss bin ich auf der Place Python, dem Epizentrum der JazzParade, zahle symbolische fünf Franken Eintritt… und höre die grossartigen New York Voices! Und nicht nur das: Nach dem Konzert kaufe ich am Tisch vorne bei der Bühne als Andenken eine CD, kann ohne Aufhebens das Backstage-Zelt betreten, mit Kim Nazarian, Lauren Kinhan, Darmon Meader und Peter Eldrige bei einem Becher Bier ein paar Worte wechseln und meine CD signieren lassen. Die vier haben sich offensichtlich bestens amüsiert in Fribourg, und das war nicht das erste Mal: Vor fünf Jahren seien sie schon an der JazzParade gewesen, erzählen sie, und sie freuten sich wahnsinnig über die erneute Einladung. Und sie rühmen ihre Begleitung, das Fribourg Jazz Orchestra, auf das die Stadt stolz sein könne. Keine leeren Worte: Die Chemie stimmt auf der Bühne; da ist eine enorme Spielfreude spürbar und trotz der hochpräzisen Interpretation eine grosse Lockerheit.

Zur Musik kann ich weniger sagen. Ich höre selten Jazz, weil ich zu ihm nicht wirklich einen emotionalen Zugang habe. Bei den New York Voices fasziniert mich zunächst das Technische, ihre absolute Meisterschaft – gerade weil ich weiss, wie unglaublich schwierig diese Musik zu singen ist. (Wir hatten uns mal an A Nightingale sang on Berkeley Square versucht und nach kurzer Zeit entmutigt die Waffen gestreckt…) Aber dann gibt es auch diese magischen, meist leiseren Momente, wo unerwartet eine nie gehörte Harmonie aufleuchtet wie die Sonne nach dunklen Wolken und mit ihrer Schönheit meinen Atem stocken lässt.


Tags darauf war ich kurz entschlossen gleich nochmals auf der Place Python. Es war jenes einzige Mal im Jahr, wo man in Fribourg Wildfremde auf Deutsch ansprechen kann: der traditionelle Mundart-Rock-Abend der JazzParade. Zu Gast war dieses Mal Stiller Has, das Naturereignis des Schweizer Rock. Ich kenne keinen anderen Sänger, der von der ersten Sekunde an eine solche raumfüllende (was sage ich: platzfüllende) Präsenz ausstrahlt wie Endo Anaconda. Die neu formierte Band mit Salome Buser an Bass und Tasten und Markus Fürst am Schlagzeug neben dem altgedienten Meistergitarristen Schifer Schafer umhüllt ihn mit einem satteren, intensiveren Sound. Die wenigsten Songs kenne ich; gespielt wird in erster Linie die (nicht mehr ganz) neue CD, die damit bestens beworben wird: Keine Schwächen oder Durchhänger, alles überzeugt. Die alten Songs, so erklärt Endo übrigens, würden sie grundsätzlich gerne noch spielen, sie können sie einfach noch nicht… Für ein paar Hits hats dann zur Zugabe doch noch gereicht, bevor das begeisterte Publikum langsam die dicht vollgepackte Place Python zu verlassen beginnt.

Mittwoch, 7. Juli 2010

Für immer und ewig

Ich fürchte, ich bin dem Bern:Ballett diese Saison mit meinen zwei kurzen Artikeln noch nicht richtig gerecht geworden. Gelegenheit zum Ausgleich bietet glücklicherweise der letzte Ballettabend, Auf immer und ewig, ein so unterhaltsames wie hochstehendes Spektakel, das wir uns vor einem Monat auf der Bühne von Vidmar:1 zu Gemüte geführt haben. An erster Stelle zu nennen und zu loben ist wiederum die Vielseitigkeit des Ensembles, welches zwei ganz unterschiedliche Stücke mit grosser physischer und akrobatischer Präsenz zum Leben erweckte. Cathy Marston eröffnete den Abend mit CLARA, ihrer Interpretation der Dreiecksbeziehung zwischen Clara Schumann, ihrem Mann Robert und Johannes Brahms. Unglückliche oder schwierige Liebeskonstellationen sind offensichtlich ein Lieblingsthema der englischen Ballettdirektorin von Bern. Entsprechend haben wir einen guten Teil des Bewegungsrepertoires, viele der Varianten des Aufeinander-Zustrebens und Sich-voneinander-Wegreissens auch schon gesehen. Speziell waren zwei Dinge; zunächst die Musik, die von den ProtagonistInnen selber stammte und von der Pianistin Sonja Lohmiller und dem Bariton Benoît Capt live dargeboten wurden. (Dem musikologisch Bewanderten hätte das Zusammenspiel von Musik und Tanz gewiss eine ganze Menge zusätzlicher Interpretationsansätze geboten.) Sehr überzeugend dann vor allem der Rest des Ensembles: In neutralen, grauen Kleidern dienen sie als Statisten, als Staffage gleichsam, als Hintergrund für die fast kämpferische Konfrontation von Clara, Robert und Johannes. So rollen sie einmal mit ihren Körpern parallele Spannteppichbahnen über die Bühne, spielen gekonnt mit der Uniformität des Lebens wie auch mit dem Aneinander-Vorbei-Leben; und in einer der stärksten Szenen werden sie zur Wand, zur Mauer zwischen den Liebenden, die offen und durchbrochen erschien, aber dennoch kaum zu überwinden war.

Ganz anders dann das zweite Stück des Abends, Howl von Andrea Miller. Temporeich, athletisch und artistisch entfalten sich seine Szenen. Zentral ist das anspielungsreiche Spiel mit den Kostümen: Das gesamte Ensemble erschien durchgehend in hellbeigen Overalls und ebensolchen antiken Badekappen und kann so gewandet genauso gut ein locker-verspieltes Vaudeville darstellen (mit vokaler Beteiligung der Tänzerinnen und Tänzer) wie eine bedrückende Irrenanstalts-Atmosphäre voller schmerzhafter Verrenkungen und brutaler Kämpfe.

Ein besonderes, überraschendes Zückerchen gab es nach der Pause zwischen den beiden Stücken. Da bevölkerte sich die Bühne mit Dutzenden von Tänzerinnen und (wenigen) Tänzern des tanzpädagogischen Projekts Dogs in a Park: Ein kurzes, intensives Spektakel, geprägt von Massenszenen und originellen Einzelakzenten, vom souveränen Auftreten und der Spielfreude seiner Darstellerinnen. Sie haben mit ihrer Arbeit gezeigt, dass Tanz mehr ist als die Hochleistungskunst der Profis; dass auch Amateure die Freude am körperlichen Ausdruck und am Zusammenspiel in grossartige Bilder und Szenen giessen können.


Technisches: Das wahre Leben hat bei mir in den letzten Wochen deutlich die Oberhand behalten gegenüber dem Bloggen. Deswegen hat sich hier etliches verspätet, kommen einige Berichte – darunter dieser hier – nur noch als nostalgische Rückblenden zur Publikation… Und noch ein kurzes mahnendes Wort an den Webmaster des Stadttheaters: Cool URLs don’t change. Ihr Verschieben der vergangenen Saisons an eine neue Archiv-URL ohne funktionierenden Redirect finde ich wenig benutzerfreundlich.

Montag, 28. Juni 2010

Il était une fois

Mit etlicher Verspätung nachzutragen ist ein Bericht über das vierte Festival international du conte de Fribourg, das Anfangs Mai unter dem Titel Il était une fois ein gutes Dutzend Erzählerinnen und Erzähler aus der ganzen frankophonen Welt in unserer kleinen Stadt versammelte. Was eine Geschichte ist, weiss ich natürlich – auch ich habe als Kind unzählige Geschichten in allen möglichen Varianten, von Eltern, Grossmutter und älteren Nachbarskindern erzählt gekriegt. Aber Geschichtenerzählen als Kunstform? Das ist für mich immer noch etwas Unerhörtes, Unvertrautes, und das entsprechende Festival deshalb eine Art Wundertüte und Gelegenheit zu einer doppelten Entdeckung: der Kunstform als solcher und der konkreten Geschichtenerzählerin.

Am diesjährigen Festival du conte habe ich die SexotiquieS, die maghrebinischen Geschichten der Algerierin Néfissa Bénouniche gesehen und gehört: Das Märchen von der Menschenfresserin und ihrer Adoptivtochter und den köstlichen Schwank (wenn ich das so sagen darf) von der Königin der Fürze. Bénouniche ist ursprünglich Architektin und Schmuckdesignerin; jetzt baut sie kunstvolle Geschichtengebäude und formt fein ziselierte Sprachschmuckstücke. Dabei präsentiert sich ein solcher Abend tatsächlich genau so, wie man sich als Laie das vorstellt: Die Bühne ist bis auf einen mal weissen, mal farbigen Lichtkegel leer; dann erscheint die Erzählerin – und nur mit ihrer Stimme, einigen gesungenen Tönen und sparsamen Gesten lässt sie ihre märchenhaften Figuren, ihre ganze Fantasiewelt vor uns und in uns entstehen. Freilich: Die Stimme ist wohlklingend, anziehend, einlullend; die Melodien und Gesten sind bewusst gesetzt; und das einfache Setting und die stete Interaktion mit dem Publikum verhüllen nur oberflächlich, dass die ganze Performance durchgegliedert und choreografiert ist. Das bemerkt man zwar, wenn man sich darauf konzentriert – man kann aber auch einfach den kritischen Verstand ausschalten und sich ganz kindlich, wie früher, der Magie der Geschichten übergeben, kann gebannt lauschen und befreit lachen, mitbibbern und sich amüsieren.


Technisches: In der Presse wurden die Verantwortlichen nach dem diesjährigen Festival mit besorgten Worten zitiert: Trotz grossem Publikumszuspruch klaffte ein Loch in der Kasse, von dem mindestens damals noch nicht klar war, wer es stopfen würde. Nichtsdestotrotz wird auf der Website des Festivals bereits die nächste Ausgabe beworben. Geschichtenfans können sich also die Woche vom 9. bis am 15. Mai in ihrer Agenda für 2011 bereits rot markieren.

Freitag, 18. Juni 2010

Noch nicht die Hälfte ists der Not

Das erste erhaltene Theaterstück der Geschichte, AischylosPerser, ist auch ein Antikriegsstück. Im Zentrum der Interpretation steht zwar in der Regel die Hybris des Xerxes und ihre Bestrafung: sein hochfliegender Übermut und tiefer Fall. Aber mit dem Fokus auf die Unterlegenen des Feldzuges, mit der ausführlichen Darstellung ihrer Verzweiflung und mit der schonungslos realistischen Beschreibung der Seeschlacht von Salamis formuliert Aischylos, selbst einer der Sieger, deutlich wahrnehmbar seine Abscheu vor der Brutalität und dem Leiden im Krieg.

In ihrer Bearbeitung für das Theater an der Effingerstrasse haben Norbert Klaassen und Peter Jecklin diesen Aspekt in den Vordergrund gerückt. Sie haben dazu die zeitliche Perspektive gewechselt: Wo bei Aischylos das Wesentliche der Handlung und Deutung in langen retrospektiven Reden und Wortwechseln berichtet und reflektiert wird, rücken sie es in die Gegenwart der Szene. Dazu mussten sie den überlieferten Text radikal kürzen, passagenweise neu formulieren und ausführlich ergänzen. Der geschlagen zurückkehrende Xerxes ist nun nicht die klagende tragische Figur, sondern bleibt auch in der Niederlage der Kriegstreiber: Kinder und Greise ruft er zum letzten Verzweiflungskampf um die Hauptstadt auf; Lehren aus der Niederlage mag er keine ziehen und nicht Rat noch Bitte hören. Seine Verblendung ist durch Salamis nicht geheilt, sondern vielmehr noch intensiviert; der Zug gegen Athen war erst das Vorspiel zum Gipfel seines Wütens.

Von Aischylos war da ausser dem Schlachtbericht nur noch wenig zu hören. Der gleichzeitig archaisierende und moderne Text von Klaassen und Jecklin bleibt dem Original aber im Duktus treu: Das Versmass ist gewahrt, die Sprache sperrig, aber von grosser Schönheit und durchsetzt mit vielen kräftig geschnitzten, präzisen Formulierungen. Diesen schwierigen Text haben Aaron Frederik Defant, Andrea Gloggner, David Imhoof, Peter Jecklin, Johannes Karl, Armin Köstler und Jesko Stubbe souverän und verständlich auf die Bühne gebracht, wobei sie besonders in den leisen Passagen überzeugt haben – in den düsteren Eingangsworten der Atossa, im langsamen, schaurigen Crescendo des Botenberichts. Dass Regisseur Jecklin fast alle Schauspieler in diese schrillen, comicartigen mexikanischen Wrestling-Masken steckt, ist zwar etwas gar dick aufgetragen, funktioniert aber gleichwohl auf mehreren Ebenen. Die Masken selber verweisen natürlich auf ihre Vorbilder in den antiken Theateraufführungen, und durch ihr Ablegen und Wiederaufsetzen verdeutlichen die Figuren den Widerspruch zwischen ihrer öffentlichen Persona und ihren inneren Gefühlen und Ängsten. Zudem habe ich die Masken aber auch als Kommentar des Regisseurs zum fundamentalen Missverständnis der Kriegstreiber jeder Epoche gelesen: Krieg als Wettkampf, Krieg als Spiel.

Ich habe es hier auch schon gesagt: Griechische Tragödien haben eigentlich gar keine Aktualisierung nötig; sie handeln (bei aller Fremdheit) immer von den Menschen – und die sind ja, wie Erich Kästner wusste, „noch immer die alten Affen“. Norbert Klaassen und Peter Jecklin haben zum Saisonschluss an der Effingerstrasse aber gezeigt, welches zusätzliches Potential in den alten Geschichten liegt, wenn sie mutig und mit sicherer Hand weitergeschrieben werden.


Technisches: Die Perser stehen an der Effingerstrasse noch bis am 1. Juli fast täglich auf dem Programm. Falls es noch nicht klar geworden sein sollte: Der Besuch lohnt sich! Ähnlich begeistert wie ich war Fritz Vollenweider in seinem Bericht auf seniorweb.ch.

Freitag, 4. Juni 2010

Tragische Helden im Emmental

Es fällt mir ausserordentlich schwer, Gotthelf zu besprechen. Auf einer Bahnreise habe ich kürzlich seine beiden Erzählungen Elsi, die seltsame Magd und Der Besenbinder von Rychiswyl gelesen. Da scheint alles so klar, so geordnet. Ein jeder hat seinen Platz, ein jeder weiss, was ihn erwartet, und wer darüber hinaus etwas will, wird scheitern. Und ich sitze vor diesen Geschichten und schaffe es nicht, die Schale der guten Ordnung zu knacken und hinter die Kulissen dieser Welt zu sehen.

Vielleicht hilft eine Anleihe bei der klassischen Philologie. In der griechischen Tragödie gibt es neben dem bekannten tragischen Konflikt, wo eine Figur zum Helden, zur Heldin wird, indem sie sich dem Unausweichlichen stellt und im Entscheid für eine Handlung aktiv den eigenen Untergang betreibt, auch eine Variante, bei der das Augenmerk auf dem Verhältnis einer Figur zu ihrer Rolle liegt. Tragische Heldinnen bewegen sich in einem ähnlich rigiden Rahmen wie Gotthelfs Protagonistinnen. Das rechte Mass ist wichtig, das nicht überschritten werden darf; gleichzeitig wird auch immer wieder gezeigt (man denke an Klytaimnestra oder Medea) wie eine Person verletzt und heruntergesetzt wird, welcher den ihr gebührenden Freiraum nicht zugestanden bekommt. An den Überschreitungen oder Beschneidungen des Rahmens entzündet sich dann der Konflikt.

Es könnte sich bei Gotthelf also lohnen, genauer auf diese Grenzen zu achten und zu analysieren, welchen Spielraum die Figuren in ihrem Rahmen haben, wie sie ihn ausnützen und wo der Erzähler, dieser Vertreter der guten Ordnung, wertend einschreitet. Und da sehen wir in Elsi, der seltsamen Magd, eine Person, die sich den Einschränkungen ihres Handlungsrahmens zu entziehen sucht, indem sie ihre Arbeitspflichten treu und arbeitsam übererfüllt, in der Hoffnung, dafür in den ungeschriebenen Verpflichtungen des Privatlebens Freiheit zu finden. Die Erzählung fokussiert aber gnadenlos darauf, dass das nicht möglich ist. Die Schranken, die einer Magd gesteckt sind, beschränken sich nicht auf ihre Arbeit; sie umfassen auch ihren Anteil am gesellschaftlichen Leben. Insbesondere wird unbedingte Dankbarkeit gegenüber den Avancen eines Höhergestellten erwartet. Dass Elsi, von ihrem geheim gehaltenen Vorleben zusehends tyrannisiert, sich diesen zu entziehen sucht, macht sie zur tragischen Heldin.

Ein Vorbild für das Leben gemäss seinen Massstäben ist hingegen Hansli, der Besenbinder von Rychiswyl. Der ist die Emmentaler Version von Forrest Gump, die da lautet: Wenn du fleissig bist, die Arbeit nicht scheust, daneben bescheiden bleibst, freundlich bist zu den Leuten und gottesfürchtig, dann machst du deinen Weg. So lernt der Sohn einer armen Witwe das Besenbinden, entwickelt darin auch reichlich Geschick, und baut sich mit der Qualität seiner Ware und seinem gewinnenden Wesen Haus für Haus eine treue Kundschaft auf. Bald baut er sich einen Karren, kauft der Mutter ein neues Bett und sich selber anständige Kleidung, gewinnt eine vierschrötige, aber fleissige Frau, zeugt mit ihr eine Schar braver Kinder – und als zum Schluss das himmlische Manna in Form einer grossen Erbschaft auf ihn niederfällt, ist er selbstverständlich aufrecht genug, sich auch dadurch nicht korrumpieren zu lassen. Charmant dabei ist, dass bisweilen ein gewisser Minimalismus durchschimmert und der brave Hansli dann einen Anstoss von aussen nötig hat: Die Idee mit dem Besenbinden kommt vom Bauern, bei dem er wohnt; und der muss ihm auch mit kräftigen Worten beibringen, dass ein Mann seines Standes ja nicht etwa einen Karren zu kaufen gedenke; selber bauen solle er ihn! Wieder ist die Botschaft klar: Der Spielraum ist eng beschränkt, das rechtschaffene Leben ähnelt einem Gang auf dem hohen Seil.

Immerhin kommen dem Hansli sein Humor und seine träfe Art nicht abhanden. Am schönsten zeigen sich beide, als es ums Weiben geht. Der dazugehörige Dialog mit seiner Mutter ist voll feinster Komik und soll hier abschliessend zitiert werden. Um der alten Frau schonend beizubringen, dass er sich in eine Marktbekanntschaft verguckt hat, erwähnt Hansli beiläufig, dass sein Karren immer schwerer zu stossen sei. Die überaus praktisch veranlagte Mutter schlägt den Kauf eines Eseleins vor. Ihr Sohn äussert jedoch Bedenken bei so einem störrischen Tier und bringt nun seinen Alternativvorschlag vor:

„Nein, aber Mutter, ich hatte an eine Frau gedacht, was sagt Ihr dazu?“
„Aber Hansli, warum nicht lieber an eine Geiss oder an einen Esel, was dir nicht zSinn kommt! Was willst mit einer Frau machen?“
„He, Mutter, öppe was ein anderer…“


Technisches: Jeremias Gotthelf: Elsi, die seltsame Magd. Der Besenbinder von Rychiswyl. Stuttgart, Reclam 1995 (und seither sicher noch mehrmals). ISBN 3-15-007747-8. Und ja, Gotthelf ist auch online und kostenfrei beim Projekt Gutenberg zugänglich: Elsi, die seltsame Magd bzw. Der Besenbinder von Rychiswyl.

[UPDATE: Links zum Projekt Gutenberg angepasst.]

Sonntag, 16. Mai 2010

Feuchter Nebel über grauer Stadt

Der Name der Stadt Triest weckt bei mir die Assoziation von Melancholie und verfallender Grandezza. Da bin ich offenbar nicht der einzige. (Kunststück – ich war noch nie dort, und irgendwoher muss ichs ja haben...) Edith Kneifls Krimi Triestiner Morgen spielt an Allerheiligen 1994 in und um Triest, und in den leerstehenden Lagerhallen, baufälligen Schlössern, auf verlassenen Plätzen und rostigen Parkbänken lässt sie einen illusions- und sinnlosen Rachefeldzug sich entfalten. Nach zwanzig Jahren Knast für den angeblichen Mord an seiner Geliebten kehrt Enrico an die Orte seiner Jugend und seiner Liebe zurück, um die damals offen gebliebenen Rechnungen zu begleichen.

Fast hätte ich das Buch ja schon nach den ersten paar Sätzen wieder weggelegt. Die Sprache ist bemüht betulich, tönt passagenweise nach Schulaufsatz. „Erinnerungen an manch geleerte Flasche tauchen auf“ – das steht da tatsächlich auf der zweiten Seite, ohne Witz! Und als gleich danach eine blonde Frau im Pelz das verrauchte Bahnhofscafé betritt, wird die Klischeedichte so unerträglich, dass nur der Respekt vor L., die mir das Buch geliehen hat, mich davon abhält, es umgehend aufzugeben. Sprachlich geht es auf den hundertachtzig verbleibenden Seiten leider oft ähnlich weiter, mit psychologisierenden Dialogen und gelegentlich schablonenhaft tiefsinnigen Überlegungen. Trotzdem hat sich die Lektüre gelohnt. Kneifl schafft nämlich auch so packende Szenen wie die Abrechnung zwischen Enrico und seinem Jugendfreund Michele, die sie im immer verbisseneren Hin und Her eines improvisierten Tischtennis-Matches inszeniert. Sie lässt in Rückblenden die ferne Hauptfigur, die mit dem Feuer spielende Geliebte, zu Wort kommen und kombiniert ihre maliziösen Bemerkungen fliessend mit der Rachehandlung und dem philosophischen Kommentar im Bahnhofscafé. Sie zitiert souverän und unpathetisch aus Verdis Nabucco und (im Angesicht von Schloss Duino) aus Rilkes Duineser Elegien. Vor allem aber schafft sie eine Atmosphäre, die einem wie feuchter November den Rücken hinaufkriecht. Es passiert eigentlich fast nichts. Oder vielmehr: Alles, was passiert, passiert so gleichgültig und distanziert wie hinter dichtem Nebel versteckt; fast resigniert, ohne Aufhebens. Vielleicht wird dabei das klassische Triestiner Klischee etwas gar strapaziert, aber im Neonlicht des Cafés, in den grauen Strassen und den verregneten Hügeln entsteht ein desillusioniertes Bild von der Unmöglichkeit, Gut und Böse voneinander zu scheiden.


Technisches: Edith Kneifl, Triestiner Morgen. München/Zürich, Diana 2001. ISBN 3-453-17981-1. Das Buch scheint vergriffen zu sein; Bibliotheken, Antiquariate oder Amazon helfen weiter.

Montag, 10. Mai 2010

Schweizer Reize

Nein, dies ist kein Boulevard-Blog geworden, und es geht hier auch nicht um Michelle Hunziker. Schweizer Reize ist vielmehr der Titel einer Ausstellung über die Reiseführer-Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek. Empfangen wird man dortselbst im hellen Gang vor dem Ausstellungsraum von Plakaten aus mehreren Jahrzehnten Tourismuswerbung; dazwischen bereiten Zitate aus zwei Jahrhunderten Reiseliteratur auf die eigentliche Ausstellung vor (mein Favorit, zeitlos: „Wer in kurzer Zeit die ganze Schweiz bereisen, dabei viel sehen und geniessen will, der bedenke, dass er zu Hause zum Schlafen wieder Zeit genug hat.“ Richard Noë, Die Schweiz in 15 Tagen mit Generalabonnement genussreich und billig zu bereisen. Freiburg/Leipzig, 1914/15). Im abgedunkelten Hauptraum wird unser Land dann von Nord bis Süd, von West bis Ost zweifach durchmessen, und diesem roten Faden nach sind die Reiseführer aufgereiht und aufgeschlagen. Da präsentiert sich geballt die ganze Vielfalt dieses Genres. Sicher ein Dutzend Sprachen sind vertreten, und es scheint kein Spezialinteresse, keine Fortbewegungsart zu geben, die nicht einen eigenen Führer rechtfertigen würden. Fast schon paradoxerweise äussert sich auch die bewusste Alternative zum Massentourismus wiederum in einer besonderen, reichhaltigen Kategorie von Publikationen.

Den Wänden entlang vertiefen thematische Vitrinen die Geschichte dieser Gebrauchsliteraturgattung. Man erfährt, dass ihre Anfänge in Reisetagebüchern des 18. Jahrhunderts liegen, welche den noch wenigen Reisenden einen Grundstock an Informationen und Hilfestellungen boten. Es wird klar, dass die Touristen dieser Frühzeit sehr selbständig unterwegs waren. So sind in der Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweiz zu reisen von Johann Gottfried Ebel (1793) die Ortschaften alphabetisch angeordnet, auf dass jeder zwanglos das herauspicke, was ihn gerade interessiert. Die für heutige Reiseführer so charakteristische Ordnung nach Regionen und vor allem nach vorausgeplanten Reiserouten verdanken wir dem Engländer John Murray und einem immer noch bekannten Namen, dem Deutschen Karl Baedeker. Die ausgestellten Baedeker vom 19. bis ins 21. Jahrhundert zeigen sehr schön auf, wie die anfänglich literarisch-blumige Sprache nach und nach dem typischen neutral-distanzierten Reiseführer-Duktus weicht, welcher in allerletzter Zeit wieder von einem locker-originellen Umgangston abgelöst wird. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Benutzerfreundlichkeit stetig verbessert wurde. Handlichkeit und Stabilität waren von allem Anfang an Grundvoraussetzungen. Die Bleiwüsten der Anfangszeiten hat schon Baedeker mit ersten Symbolen (darunter dem Vorgänger aller Sternchen-Bewertungssysteme) aufgelockert; und heutige Reiseführer bestehen ja, wie mir scheint, hauptsächlich noch aus Grafiken, Info-Kästen und den Top Ten der Redaktion...

So haben die Nationalbibliothek und der erfahrene Kurator Beat Gugger das Langeweilepotential einer Bücherausstellung geschickt umschifft. Anhand der Reiseführer geben sie einen breiten und spannenden Einblick in die Geschichte des Reisens und des Tourismus. Vieles wird mit der Zeit repetitiv, einzelnes bleibt besonders hängen, so die Erläuterungen zur Reisezeit (per Dampfboot und Kutsche) von Zürich ins Bündnerland im 19. Jahrhundert. Am meisten bewegt hat mich jedoch ein ganz spezieller Reiseführer; einer, der sich nicht an Touristen wendet, die in die Schweiz reisen, sondern gewissermassen an ihr Spiegelbild: Der Führer für Tessiner Amerika-Emigranten erläutert knapp und schnörkellos, dass nach Basel direkte SBB-Wagen verkehren, dass man dort im nahen französischen Bahnhof den Zug nach Paris nehmen muss, und wie man dann weiter nach Le Havre oder Cherbourg gelangt. Dort, wo kein Reiseführer die Touristen hinlockte, war also noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Auswanderung üblich. Und so ist diese Ausstellung auch ein Zeugnis der Dankbarkeit dafür, dass der Fremdenverkehr seinerzeit ganze Alpentäler der Armut entriss.


Technisches: Die Ausstellung „Schweizer Reize. Die Schweiz in Reiseführern“ ist noch bis am 27. Juni 2010 zu den Öffnungszeiten der Nationalbibliothek zugänglich (beim Eingang rechts, einfach den Plakaten nach). Angenehm ist bei den Ausstellungen der NB immer ihre limitierte Grösse: Man kann sich durchaus verweilen, kriegt aber – wenn man will – in einer halben Stunde einen guten Überblick.